Mehr als ein Kissen

In meinem Besitz befindet sich ein gestohlenes Kissen. Es ist ein Kissen, das ich meiner Tochter von einer meiner Geschäftsreisen mitgebracht hatte.

Es war vor 10 Jahren, als ich meine Frau und meine beiden Kinder fluchtartig verliess. Ich konnte es nicht mehr aushalten: die Beziehung war vergiftet, von gegenseitigem Misstrauen verdorben und von ständigen Anschuldigungen belastet. Daran hatte ich ebenso grosse Schuld wie meine Frau. Ich floh, feige wie ein Fuchs, weil ich kaum mehr atmen konnte dort, wo ich zuhause sein sollte.

Ich hatte nichts. Einige Kleider, einige Bücher, kaum Geld. Das Kissen begleitete mich in die Wohnung einer Freundin, die sie mir in ihrer Abwesenheit zur Verfügung stellte. Das Kissen begleitete mich auf den Zeltplatz, wo ich die Sommer- und frühen Herbstmonate verbrachte.

Endlich fand ich ein Zimmer mit Toilette und Bad auf dem Gang. Auch dahin kam das Kissen mit. Fast vier Jahre habe ich in diesem „Kellerloch“ verbracht, meinen Kopf in das Kissen gedrückt. 

Es ist kein gutes Kissen, es ist ein Kuschel-, ein Trostkissen. Zum Darauf-Schlafen eignet es sich nicht besonders, aber es lässt sich gut umarmen, es lässt sich gut so richtig zusammenfalten, du kannst gut hineinweinen.

Ich weiss nicht, ob meine Tochter das Kissen vermisst hat. Sie hat mich vermisst, das ist sicher. Mein Weggehen hat in ihrem Leben eine nie ganz verheilende Wunde hinterlassen. Da wird der Verlust des Kissens kaum eine grosse Rolle gespielt haben.

Damals hatte ich ohne zu überlegen nach diesem Kissen gegriffen, als ich ging. Erst heute wird mir bewusst, warum ich das getan habe – und wie mich dieses Kissen über den Verlust meiner Kinder hinweggerettet hat. Das Kissen erinnerte mich an meine Liebe zu meinen Kindern. Es erinnerte mich daran, dass sie mich brauchten. Damals war der Diebstahl eine Instinkthandlung, wie alles in jener Zeit: aus der Sekunde geboren, aus der Not.

Der Schmerz über den Verlust meiner Kinder war gross, aber meine Not in der Beziehung grösser. Hätte ich mich nicht gerettet, ich weiss nicht, was geworden wäre. Aber nicht mehr meine Kinder „bei mir“ zu haben, das war, als hätte ich mein Lebenszentrum verloren. Ich erinnere mich, wie ich abends nach Hause ging und mich fragte, wer ich denn bin, meine Kinder so alleine zu lassen. Ich erinnere mich, wie ich morgens auf den Zug eilte, der mich in die Universität brachte, und an meine Kinder dachte, die so plötzlich ohne mich leben mussten, mich nur noch gelegentlich sehen konnten. Der Schmerz hatte alle Tränen verdorren lassen: Ich konnte nur noch hilflos ächzen und seufzen.

Mit meiner Flucht aus der Ehe hatte ich mich zwar aus der Enge meines Lebens und vor der Unlebbarkeit einer Beziehung gerettet, aber ich hatte scheinbar meine Verantwortung an meinen Kindern abgegeben, aufgegeben. Mein ganzes Vatersein brannte und schmerzte.

(Ich war weiterhin als Vater präsent, begleitete sie durch manchen Tag, spielte und erzählte. Ich war einfach nicht mehr bei ihnen zuhause daheim. Sie schliefen ohne mich ein, sie wachten ohne mich auf.)

Erst viele Jahre später hatte ich ein erstes Versöhnungsgespräch mit meiner Tochter, der das Kissen gehört. Sie meinte: „Warum bist du so plötzlich gegangen?“ Weinend und tröstend haben wir uns erklärt, was vorgefallen war. Und erst letztes Jahr, fast 10 Jahre danach, hat mir meine Tochter vielleicht vergeben: Ich bekam von ihr zum ersten Mal auch ein Weihnachtsgeschenk.

Ich weiss nicht, wie wichtig ihr dieses Kissen war oder ist. Aber mir ist es mehr als ein Kissen. Es ist (im Sinne von Leonardo Boff) ein heiliges Zeichen, ein heiliges Kissen. Es ist er- und gefüllt mit all dem Schmerz, der Not und dem Leid, der Armut und der Verlorenheit meiner damaligen Tage. Es ist mein wertvollster Besitz und gehört mir doch nicht ganz.

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