Angst vor dem Religionsunterricht?

boy-1226964(Bild von Ibrahim62)

Es gibt immer ein erstes Mal.

Ein erstes Mal, in dem du auf Fundamentalismus stösst. In deinem eigenen Religionsunterricht.

Das ist mir gerade passiert. Von der neuen Klasse war mir bekannt, dass einige Kinder nicht in den Religionsunterricht gehen, weil ihre muslimischen Eltern gegen eine bekenntnisunabhängige religiöse Bildung sind. Dagegen, dass ihr Kind die notwendigen Kompetenzen erwirbt, um anderen Religionen und somit auch anderen Kulturen offen und unvoreingenommen gegenüber zu treten. (Dazu habe ich übrigens einen eigenen Blog geschrieben, „Was, nicht wie„.)

Versehentlich im bekenntnisunabhängigen Unterricht

Das Mädchen kam im Schlepptau seiner Kolleginnen und Kollegen zögernd an meine Tür. Als sie mich sah, stellte sie fest, dass sie „falsch“ war. Sie wollte rechtsumkehrt machen, die Flucht ergreifen. Ich lud sie freundlich und unvoreingenommen ein, doch einfach mal auszuprobieren.

Kaum war sie abgesessen, streckte sie auf, um mir zu sagen, sie dürfe nicht über Jesus lernen.

Ich erklärte ihr, sie solle doch einfach ganz entspannt einmal mitmachen und schauen, wie es im Religionsunterricht bei mir sei. Und natürlich sagte ich, Jesus oder Issa sei sehr wohl ein wichtiger Prophet im Islam. Es sei also durchaus wichtig, von ihm mehr zu wissen. Ich führte dies aber nicht mehr aus; ich wollte nicht ablenken vom eigentlichen Thema meines Unterrichts. Ich sagte ihr noch, wenn sie etwas schockiere und zutiefst erschüttere, solle sie mir das sagen; sie dürfe sich dann gerne zurückziehen und zurück ins Klassenzimmer gehen.

In diesem Jahr habe ich es mir zum Prinzip gemacht, die von mir erzählten Geschichten in der Ursprungsreligion zu kontextualisieren. Die in dieser Stunde erzählte Geschichte stammte aus dem Buddhismus. Mein „Ritualtisch“ war mit einem orangen Tuch bedeckt, eine orange Kerze brannte und ein Räucherstäbchen.

Die Schüler*innen sollen in meinen Stunden auch fühlen, erleben. Ich schritt mit dem Räucherstäbchen kurz durch die Klasse, damit der Duft (oder Gestank, wie einige Junge meinten) auch bei ihnen ankomme. Dabei schwenkte ich das Räucherstäbchen über ihren Köpfen, jedoch ohne besinnliche Absicht, nur zur Verstreuung und „Verkostung“ des Dufts.

Darauf sollten die Schüler*innen aus 6 verschiedenen einfachen Mandalas eines wählen, das ihrem aktuellen Gefühl entspräche. In der Stille durften die Schüler*innen darauf die Mandalas bemalen.

Das muslimische Mädchen begann zu malen, dann jedoch brach es plötzlich in Tränen aus. Sie wolle nicht mehr. Sie sei schockiert von dem Räucherstäbchen.

Im ersten Moment hätte ich fast laut hinausgelacht. Das war doch allzu komisch. Alle Schüler*innen hatten den Duft gerochen und wollten ihn nochmals riechen, waren begeistert über diese Fremdheit. (Die Schüler*innen wollten am Ende der Stunde nochmals an den Räucherstäbchen riechen, so gut hatte ihnen dieses Erlebnis gefallen.)

Angst vor dem Vater (vor der Mutter), Angst vor Strafe – Religion als Knechtschaft?

Das Mädchen beruhigte sich nicht. Ich schickte sie deshalb zurück ins Klassenzimmer. Ich war ziemlich erschüttert: Was war da gerade passiert?

Das Mädchen litt und leidet offensichtlich unter einem hohen Druck. Das hatte ich sofort gemerkt. Der Druck war in der ganzen geduckten Körpersprache zu sehen. Es blickte mir nicht direkt in die Augen. Sie sprach so leise (und so schlecht deutsch), dass ich kaum verstand, was sie sagte.

Obwohl das Mädchen offensichtlich gedankenlos seinen Kolleg*innen hinterher gelaufen und bei mir gelandet war, erschrak sie über ihre Handlung.

Ich kann nur vermuten, was die Gründe für ihre Reaktion sind. Aus Gesprächen mit Lehrpersonen lässt sich ein Bild rekonstruieren.

Die Schattenwürfe dieses Bilds schmerzen und bedrücken mich. Ein Mädchen in einer muslimischen Familie, so gehirngewaschen und klein gemacht. Das einzige?

(Ich will hier genau sein. Ich rede hier von Mädchen, aber auch Jungs werden – spiegelverkehrt und durchaus auch in säkularen und schweiz-stämmigen Familien – in Rollenbilder und Verhaltensweisen gedrängt, gedrückt und gezwungen.)

Befreiung ermöglichen und Offenheit

Ein anderes Beispiel. Nach dem Film „Jamila“ über ein Fussball spielendes holländisches muslimisches Mädchen, das zwar Kopftuch trägt, aber doch gegen die Wünsche ihres Vaters ein westliches Leben will, streckte in einer 5. Klasse ein muslimisches Mädchen auf. Sie erzählte von ihrer Familie, in der ihre Brüder ihr befehlen konnten, was sie zu tun hatte, von ihrem Vater, der sie am liebsten nicht in die Schule schicken würde. Dieses muslimische Schweizer Mädchen weigerte sich, das Kopftuch zu tragen; sie war dabei von ihrer Klassenlehrperson mehrfach unterstützt worden, wie ich erfuhr. Ich spürte, wie befreiend der Film für sie gewesen war: zu sehen, ich bin nicht allein in meinem Kampf für Offenheit und weibliche Selbstbestimmung.

„Es ist gut, wenn meine Kinder wissen, was Christen glauben“

Dieses Ereignis, dieses erste Mal, könnte ich jetzt überbewerten. Ich könnte mich in einem Vorurteil bestätigt fühlen, gegen das ich bisher vehement eingetreten bin.

Gottseidank gibt es dagegen jene Mehrheit von muslimischen Eltern, für welche die Teilnahme am (in Basel-Stadt so genannten „ökumenischen“) Religionsunterricht eine Selbstverständlichkeit ist. Ähnlich wie jener Vater, der mir einmal mitten im Semester, als er mich auf dem Pausenhof getroffen hat, herzlich gedankt hat: „Ich bin so froh, dass mein Sohn bei Ihnen lernt, wer Jesus Christus ist.“ Oder jene Mutter, die meinte: „Es ist gut, wenn meine Kinder wissen, was Christen glauben.“

Meine Grenzen als Lehrperson in Frage gestellt

Die eingangs geschilderte Erfahrung konfrontiert mich zum ersten Mal mit meinen Grenzen als Lehrperson. Intuitiv möchte ich mich für das geistige Wohl dieses Kindes engagieren.

Für ein geistiges Wohl allerdings, könnte ich kultur-relativistisch sagen, das meinen eigenen säkularen Standards gehorcht: für eine selbstverantwortete und verantwortliche Mündigkeit jedes Menschenkinds.