Ich bin in meiner Lektüre von Proust wieder bei der „Prisonnière“ angelangt. Dieser unheimlichen Geschichte, in der eine halb willige, halb widerstrebende junge Frau vom „Erzähler“ während mehrerer Monate bei sich zuhause „festgehalten“ wird.
Der „Erzähler“ ist notorisch eifersüchtig und vermutet, dass Albertine nebenbei lesbische Liebschaften pflegt. Deshalb versucht er sie, obwohl er sich selbst unklar ist über seine Gefühle (ist es Liebe, ist es Herrschaft?), von allem abzuhalten, was diese angebliche lesbische Neigung fördern oder gar „erfüllen“ könnte. Dabei schreckt er nicht vor manipulativen Geschenken und Reden zurück ebenso wenig wie davor, sie nie ohne persönliche „Spitzel“ (die vielleicht wiederum nicht ganz ohne lesbische Neigungen sind) zu lassen. Diese „Spitzel“ (Andrée vor allem, Freundin der beiden) müssen ihm dann genauestens berichten, was während der Tages-Unternehmungen alles vorgefallen ist. Er selbst bleibt meistens zuhause und schiebt Krankheit oder Unwohlsein vor.
Es ist ein Wunderwerk der Erzählkunst. Denn obwohl sich der „Erzähler“ ganz offensichtlich als ein egozentrisches Arschloch darstellt, bleibt er der Leserin, dem Leser dadurch sympathisch, dass er an seiner Bosheit und Hinterlist deshalb leidet: Er scheint vollkommen konfus über die wirkliche Liebe zu sein, er würde sie vermutlich nicht erkennen, wenn sie ihm direkt unter den Augen, unter den Herzklappen nisten würde. Gleichzeitig ist es rührend (und lächerlich!), wie nötig er die Gegenwart Albertines hat; du könntest fast denken, sie nimmt die mütterliche Rolle ein, die tröstende, sanfte, weiblich-träumerische. (Ganz konform der Rollenbilder des 19. Jahrhunderts und darüber hinaus…)
Doch scheint in den langen Schilderungen immer wieder die schillernde Persönlichkeit dieser jungen Frau namens Albertine auf. Trotz der Beherrschung und Reglementierung, der sie sich (freiwillig?) unterwirft, kommt ihre eigene Lebensfreude, ihre eigene Sinnlichkeit und ihre eigene Leichtherzigkeit immer wieder zum Vorschein.
Und obwohl der „Erzähler“ ein (unsympathisch-rührender) Tyrann ist und sie durchaus als „sein Werk“ versteht wie ein „moderner Pygmalion“ – nicht umsonst verlässt sie ihn am Ende dieses 5. Teils der „Recherche“, um kurz darauf tödlich zu verunfallen -, weiss er letztlich und tief in sich darum, dass seine Besitzergreifung nicht gelingen kann.
Der Roman zeigt einige für mich immer schon wichtige Menschenfakten auf, das auch in meiner Rolle als Religionspädagoge grosse Bedeutung hat.
- Selbst in die allernächsten Menschen kannst du nicht hineinblicken. So nahe du ihnen auch sein magst: sie bleiben dir im Grunde unverständlich.
- Gewiss, du kannst ihre „Charakterzüge“ zu fixieren versuchen, – nur um plötzlich eine Veränderung festzustellen darin, doch wann hat diese Veränderung stattgefunden und weshalb?
- Gewiss, du kannst viel mit ihnen gemeinsam erleben, sie so in verschiedensten Situationen kennen lernen, – nur um plötzlich von jemand oder von ihnen selbst eine Situation erzählt zu bekommen, in der sie ganz anders reagiert haben als du aufgrund deiner Erfahrung mit ihnen angenommen hättest.
- Gewiss, einige Menschen (deine Kinder zum Beispiel) sind dir ähnlich, nahe, – doch erleben sie die Welt und die Umwelt anders als du.
- Kein Mensch gleicht dem andern. Jede/r ist eine eigene Welt, jede/r hat eine eigene Berechtigung zum Leben.
- Gerade den geliebtesten Menschen sollst du eines unbedingt gestatten, vielleicht darfst du es manchmal auch verlangen: die Veränderung. Ohne sie sind wir keine Menschen, sondern Roboter. (Aber wie viele Eltern können das ihren Kindern nicht erlauben!)
- Und last but not least: das Innerste, das Herznahste, Herzlichste, das „Göttliche“ und auch Befreiende im Menschen ist das Flüchtige. Selbst du bist niemals ganz „eins mit dir“, selbst du bist „ein wandelndes Rätsel“. Versuchst du, den Menschen „festzulegen“ oder (wie der „Erzähler“ in „La Prisonnière“) „festzuhalten“, wird dieses Flüchtige nur noch stärker „flüchten“.
Und – Achtung, liebe Leser*in! – darin sind wir ja doch wieder „Abbilder“ oder „Zerrbilder“ (je nach Lebenshaltung und Glaubens-Stand) von Gott, der das absolut „Unverfügbare“, „Flüchtige“, aber dennoch überall „Einwohnende“ ist.