Das Flüchtige im Menschen nicht besitzen, sondern lieben

Ich bin in meiner Lektüre von Proust wieder bei der „Prisonnière“ angelangt. Dieser unheimlichen Geschichte, in der eine halb willige, halb widerstrebende junge Frau vom „Erzähler“ während mehrerer Monate bei sich zuhause „festgehalten“ wird. 

Der „Erzähler“ ist notorisch eifersüchtig und vermutet, dass Albertine nebenbei lesbische Liebschaften pflegt. Deshalb versucht er sie, obwohl er sich selbst unklar ist über seine Gefühle (ist es Liebe, ist es Herrschaft?), von allem abzuhalten, was diese angebliche lesbische Neigung fördern oder gar „erfüllen“ könnte. Dabei schreckt er nicht vor manipulativen Geschenken und Reden zurück ebenso wenig wie davor, sie nie ohne persönliche „Spitzel“ (die vielleicht wiederum nicht ganz ohne lesbische Neigungen sind) zu lassen. Diese „Spitzel“ (Andrée vor allem, Freundin der beiden) müssen ihm dann genauestens berichten, was während der Tages-Unternehmungen alles  vorgefallen ist. Er selbst bleibt meistens zuhause und schiebt Krankheit oder Unwohlsein vor. 

Es ist ein Wunderwerk der Erzählkunst. Denn obwohl sich der „Erzähler“ ganz offensichtlich als ein egozentrisches Arschloch darstellt, bleibt er der Leserin, dem Leser dadurch sympathisch, dass er an seiner Bosheit und Hinterlist deshalb leidet: Er scheint vollkommen konfus über die wirkliche Liebe zu sein, er würde sie vermutlich nicht erkennen, wenn sie ihm direkt unter den Augen, unter den Herzklappen nisten würde. Gleichzeitig ist es rührend (und lächerlich!), wie nötig er die Gegenwart Albertines hat; du könntest fast denken, sie nimmt die mütterliche Rolle ein, die tröstende, sanfte, weiblich-träumerische. (Ganz konform der Rollenbilder des 19. Jahrhunderts und darüber hinaus…)

Doch scheint in den langen Schilderungen immer wieder die schillernde Persönlichkeit dieser jungen Frau namens Albertine auf. Trotz der Beherrschung und Reglementierung, der sie sich (freiwillig?) unterwirft, kommt ihre eigene Lebensfreude, ihre eigene Sinnlichkeit und ihre eigene Leichtherzigkeit immer wieder zum Vorschein. 

Und obwohl der „Erzähler“ ein (unsympathisch-rührender) Tyrann ist und sie durchaus als „sein Werk“ versteht wie ein „moderner Pygmalion“ – nicht umsonst verlässt sie ihn am Ende dieses 5. Teils der „Recherche“, um kurz darauf tödlich zu verunfallen -, weiss er letztlich und tief in sich darum, dass seine Besitzergreifung nicht gelingen kann. 

Der Roman zeigt einige für mich immer schon wichtige Menschenfakten auf, das auch in meiner Rolle als Religionspädagoge grosse Bedeutung hat. 

  • Selbst in die allernächsten Menschen kannst du nicht hineinblicken. So nahe du ihnen auch sein magst: sie bleiben dir im Grunde unverständlich. 
    • Gewiss, du kannst ihre „Charakterzüge“ zu fixieren versuchen, – nur um plötzlich eine Veränderung festzustellen darin, doch wann hat diese Veränderung stattgefunden und weshalb? 
    • Gewiss, du kannst viel mit ihnen gemeinsam erleben, sie so in verschiedensten Situationen kennen lernen, – nur um plötzlich von jemand oder von ihnen selbst eine Situation erzählt zu bekommen, in der sie ganz anders reagiert haben als du aufgrund deiner Erfahrung mit ihnen angenommen hättest. 
    • Gewiss, einige Menschen (deine Kinder zum Beispiel) sind dir ähnlich, nahe, – doch erleben sie die Welt und die Umwelt anders als du. 
  • Kein Mensch gleicht dem andern. Jede/r ist eine eigene Welt, jede/r hat eine eigene Berechtigung zum Leben. 
  • Gerade den geliebtesten Menschen sollst du eines unbedingt gestatten, vielleicht darfst du es manchmal auch verlangen: die Veränderung. Ohne sie sind wir keine Menschen, sondern Roboter. (Aber wie viele Eltern können das ihren Kindern nicht erlauben!)
  • Und last but not least: das Innerste, das Herznahste, Herzlichste, das „Göttliche“ und auch Befreiende im Menschen ist das Flüchtige. Selbst du bist niemals ganz „eins mit dir“, selbst du bist „ein wandelndes Rätsel“. Versuchst du, den Menschen „festzulegen“ oder (wie der „Erzähler“ in „La Prisonnière“) „festzuhalten“, wird dieses Flüchtige nur noch stärker „flüchten“. 

Und – Achtung, liebe Leser*in! – darin sind wir ja doch wieder „Abbilder“ oder „Zerrbilder“ (je nach Lebenshaltung und Glaubens-Stand) von Gott, der das absolut „Unverfügbare“, „Flüchtige“, aber dennoch überall „Einwohnende“ ist. 

 Ein unmögliches Wort?

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Das Wort Gott kommt mir nur schwer über die Lippen. Mit ihm verbinden sich zu viele Vorstellungen, die ich nicht teile. Kurz: Ein unmögliches Wort für eine mögliche Wirklichkeit.

So formuliert es Lorenz Marti in seinem Buch „Türen auf! Spiritualität für freie Geister„. Weiter meint er, wir sollten dem Wort eine Pause geben, die Lücke und Leere des „Unbedingten“ und „Unverfügbaren“ nicht dringend benennen wollen.

Vom Islam lernen  

In meiner täglichen Auseinandersetzung im Rahmen eines leider immer noch mehrheitlich christlich gefärbten Religionsunterrichts sind jene Gespräche und Diskussionen mir die wichtigsten, die ich mit muslimischen Kindern führe. Das hat zwei Gründe:

1. Die meisten muslimischen Schüler*innen leben in Haushalten, – soweit meine Erfahrung – in denen religiöse Fundamente noch gepflegt werden. Sei es das Gebet oder schlicht die Rede von Gott. Begriffe wie „halal“ und „haram“ sind nicht (oder nur in Ansätzen) wie bei „uns Christen“ Begriffe wie „heilig“ oder „sündig“ profaniert, säkularisiert. (Im Gegensatz dazu leben die meisten christlichen Schüler*innen in agnostischem und säkularisierten Umfeld. Einem Umfeld, das alles Religiöse einerseits kritisch-empirisch beäugt und andererseits die wenigen religiösen Traditionen, die „uns Christen“ noch bleiben, säkular umdeuten.[2])

2. Die muslimischen Schüler*innen wissen sehr gut, dass Gott eine absolut unverfügbare Grösse ist. Es ist ein wiederkehrendes Phänomen im Unterricht, dass wir die Vielfalt Gottes und seine ausgesprochene Ambivalenz thematisieren (müssen).

Damit wird klar, dass die muslimischen Schüler*innen ein beträchtliches religiöses Potenzial mitbringen. Das zu fördern und befeuern mir in meinem Unterricht sicherlich ein zentrales Anliegen ist.

Gott als Frage 

An anderer Stelle habe ich schon einmal davon gesprochen, dass eine Rede von Gott immer präzise und ausführlich sein muss. Ja, zusätzlich dazu vielleicht sogar noch notwendigerweise ambivalent.

Gerade deshalb glaube ich, sollten wir Religionsfachpersonen nicht aufhören, Gott als Frage in diese vielfach geistverarmte Welt zu stellen.

Wir befinden uns in einem Prozess, wo die westliche europäische Gesellschaft fundamentale Werte wie Unverfügbarkeit und Spiritualität, aber auch Traditionen wie der Sankt-Nikolaus[3] unter Materialismus und blindem Empirismus begräbt.

Es ist Lorenz Marti hoch anzurechnen, dass er seine Scheu vor dem Wort Gott zugibt, seine Scheu überhaupt, von religiösen Dingen zu sprechen.

Und ich merke gerade, dass ich Gefahr laufe, wie ein Kreationist, ein rechtsgerichteter Abendlandfaschist zu klingen.

Doch wer nicht über Gott redet, sich nicht Fragen zu Unverfügbarkeit und Ambivalenz stellt, wird – in meinen Augen – eher zu einer Weltsicht in schwarz und weiss tendieren. Und eine solche Weltsicht verschärft in meinen Augen die Probleme und Konflikte eher, als dass sie Lösungsansätze oder nur schon Lösungsbereitschaft ermöglichen kann.

Von Gott reden 

Natürlich ist das Reden von Gott kein Allheilmittel gegen die Krankheiten der Menschheit. Doch das Reden von Gott – von dieser Pause, diesem „Namen“ (ha-schem), diesem Ewigen, dieser Leerstelle, dieser Lücke – vermittelt den Menschen die fruchtbare Erkenntnis von Ambivalenz, von Abgrund.

Und wieder möchte ich den Islam „bemühen“: Wie wundervoll sind die 99 Namen Gottes für eine solche Übung in Unverfügbarkeit, mit ihrer Spannweite vom „Verhinderer“ bis zum „König“! (So bedenklich ihre Vermenschlichung immer auch sein mag.)

Das einfachste Beispiel für so eine Übung in Unverfügbarkeit ist das Nachdenken darüber, ob Gott jetzt gütig oder mächtig sei. Jeder, der diesen beiden Gedankensträngen folgt, wird verwirrt, weil das eine das andere logisch auszuschliessen scheint.

Dem ist aber nicht so: Gott umfasst mehr als nur diese beiden logisch-rationalen Gedankenstränge.

Genauso wie Gott kein „alter Mann im Himmel“ ist: Wer nicht über Gott redet, wird immer im kindlichen Glauben stehen bleiben, sein Konzept von Unverfügbarkeit wird immer kindlich bleiben. Sie oder er werden immer mit dem Unverfügbaren handeln wollen. Doch mit Unverfügbarem handelt man nicht.

Je mehr ich mich also darum bemühe, von Gott zu reden, umso mehr kann ich dazu beitragen, dass die Wahrnehmung von Gott komplexer wird und bleibt, und dass die Gedankenwelt meiner Gesprächspartner*innen mehr aushalten muss als nur ein weltliches „Entweder-Oder“.

Anders gesagt: Gerade das Reden von und über Gott ermöglicht das Training der „religiösen Muskeln“, die wiederum Komplexität und Ambiguität und Ambivalenz unserer gesellschaftlichen Realität ertragen helfen.  Lasst uns also gerade und „jetzt erst recht“ von Gott reden, das Wort über unsere Lippen zu bringen wagen.

 


[1]

Ein gutes Beispiel dafür sind die beiden Weihnachtssingen, die ich letzten Monat erlebt habe: keines der gesungenen Lieder hatte noch einen christlichen Hintergrund, aber sehr viel „Lichterschmalz“ und „Ethik-Kitsch“. Aber dazu vielleicht nächste Weihnachten einmal ein eigener Blog…

[2]

Ein gutes Beispiel dafür sind die beiden Weihnachtssingen, die ich letzten Monat erlebt habe: keines der gesungenen Lieder hatte noch einen christlichen Hintergrund, aber sehr viel „Lichterschmalz“ und „Ethik-Kitsch“. Aber dazu vielleicht nächste Weihnachten einmal ein eigener Blog…

[3]

Der Sankt-Nikolaus ist eben nicht der Weihnachtsmann, sondern ein Bischof mit seinen Insignien – und stammt zudem noch aus der Türkei!

Plan oder nicht?

Chinesischer Abakus
Chinesischer Abakus

 

Wenige Grundsätze treiben mein Handeln an. Einer der wichtigsten davon: nicht planen, sondern handeln.

Fast könnte ich so weit gehen und sagen: alles Geplante ist mir verhasst. Es entbehrt aller Spontaneität und bringt die Freiheit, das Gefühl von Befreiung im Handeln, zum Erstarren.

Wer plant, so liesse sich dieser Grundsatz weiter ausführen, ist berechenbar.

Mal abgesehen davon, dass ich nicht rechnen kann: Wer rechnen kann, ist verletzlich.

Wer plant, sein Vorsorgekonto befüllt, eine Lebensversicherung betreibt, ein Haus baut, wenn möglich gar mit den für die geplante Familie nötigen und bereits fertig eingerichteten Kinderzimmern, ist wie eine wandelnde Wunde, die nur darauf wartet, geschlagen zu werden.

Natürlich lebe ich nicht so planlos ins Leben hinaus, wie das jetzt den Anschein machen könnte. Und doch will ich nicht der Meister meines Geschicks sein, mein Glück beherrschen, steuern. Ich bin nicht jemand, der sein Leben in seiner eigenen Hand glaubt oder (noch vermessener) weiss. Der einzige Ruf, den ich mir durchaus immer wieder zutraue ist: „I am the Captain of my Soul“.

Aber damit hat es sich auch schon. Denn das meint ja letztlich: ich gebe mich nichts oder niemand in die Hände, dass es oder er/sie mich steuerte; ausser Gott.

Was aber fange ich nur an mit diesen im Neuen Testament immer wieder eingestreuten Hinweisen auf einen „Gottesplan“?

Gewiss gebe ich zu, dass Gott alle Fäden in den Händen haben sollte, vielleicht gar muss, auch in meinem Leben, aber weiss er schon alles im Voraus? Hat er es letztlich sogar schon bis ins Detail ausgedacht und vorausbestimmt und -geplant?

Wenn ich lese:

nach Vorwissen Gottes (1 Petr 1,2; Münchener Neues Testament)

oder

von der Verwaltung der Gnade Gottes (Eph 3,2; Münchener Neues Testament)

und in der Übersetzung an den gleichen Stellen vom

Plan (Eph 3,2 und 1 Petr 1,2; NGÜ)

höre, schaudert es mich schon.

Traue ich denn Gott nicht zu, bzw. will ich ihm denn nicht zutrauen, dass er die Geschicke, mit dem Auf und Ab der Waage, wie sie in der Ilias so schön in der Hand des Zeus liegt, um das Schicksal der kämpfenden Trojaner und Griechen zu entscheiden, lenkt und bestimmt?

Nein, das traue ich ihm durchaus zu. Dieses Zutrauen habe ich.

Aber ich glaube nicht an einen Rechnenden Gott, genauso wenig wie ich an einen Rechtenden Gott oder noch schlimmer an einen Rächenden Gott glaube (und von ihm weiss). Oder umgekehrt an einen (ganz und gar) barmherzigen Gott, so gern ich das möchte. (Aber das steht auf einem andern Blatt, in einem andern Blog.)

In diesen Stellen sehe ich mehr ein Hinweis darauf, dass Gott in gewisser Weise nachdenkt, vorausdenkt, vermutet.

Philologisch handelt es sich dabei ja um einen Ratschluss – daher kommt dieser Gedanke des Plans, wenn wir auf den WiBiLex-Artikel von Wolfgang Werner zurückgreifen:

JHWH, der Gott Israels, ist zugleich der Herr der Welt und ihrer Geschichte. Diese in vielen biblischen Textbereichen begegnende Grundüberzeugung findet ihre Ausgestaltung unter anderem in der Vorstellung eines göttlichen Ratschlusses, der bei Gott konzipiert worden ist und sich in der Geschichte der Welt und der in ihr lebenden Menschen erfüllt. Er leitet und bestimmt das Leben des Einzelnen und der Menschengemeinschaft. In vielen prophetischen Belegen gilt der Ratschluss Gottes als ein Instrument göttlicher Weltpolitik, das die Absichten Gottes in der Völkerwelt durchsetzen will.

Als Mensch kann ich ja verstehen, dass Gott eine Art Übersicht oder Draufsicht auf alles hat oder haben kann / könnte.

Und als jemand, der Armut aus persönlicher und wiederholter Erfahrung kennt, verstehe ich auch, dass der Arme, Verlassene, Versklavte sich so einen Gott denken muss; nicht anders kann, als sich so einen Gott zu erdenken: der in langen Zeiten denkt, nicht in der kurzen überschaubaren eines Menschenlebens oder einer Menschen-Generation, dem die Taten und Untaten des Menschen (von Herrschern und Beherrschten) auf eine gewisse Weise lächerlich und doch vorhergesehen sind, weil er das Ende, dem sie entgegenstreben, ob sie wollen oder nicht, absehen und einordnen kann.

Einen Gott kurzum, der zwar nicht aktiv und jetzt  ins Zeitgeschehen eingreift, sehr wohl aber einen fernen Horizont erblicken kann von da aus, wo er schwebt, da „wir“ (und mit uns auch „er“) frei sein werden von „alledem“…

Ein aussergewöhnlich geduldiger Befreiergott.

Ein Gott der Wartesäle und der Lager.

… Oh, das ist er sicher. Aber nicht nur. (Und – dogmatisch gesprochen – er ist es nur in Analogie…)

Und so sehr ich letztlich das Gefühl habe, ein solcher Teilgott könnte möglich sein, in einem weitaus grösseren, umfassenderen Gott (und Gottesbild), so sehr fühle ich auch, dass das Planen damit nichts mehr zu tun hat. Und vielleicht nicht mal das Ratschliessen oder Nachsinnen.

Ein solcher Gott, übernimmt man diese Denkstruktur, wie sie Wolfgang Werner sicherlich exegetisch korrekt formuliert, ein solcher Gott schätzte unser Tun und Handeln vielleicht sogar mit der ihm eigenen Liebe, aber er wäre doch all dem (und mir) fremd.

Es ist daran sicher tröstlich, dass er insofern nicht plant, als er nicht eingreift, sondern auf eine (göttliche?) Art „geschehen“ lässt.

Trotz allem also handelte sich dabei um eine Art Versicherergott; um einen Gott für Versicherer und Versicherungsbedürftige.

Er hält in der einen Hand die Police, und mit der anderen Hand streichelt er sein Schosshündchen – um das es letztlich geht.

Und um sein Mund bilden sich tiefe Falten der Langeweile.

(Bildquelle: Anita Eller (http://bilder.tibs.at/node/26290), Lizenz: CC BY-NC-SA 3.0 AT))

Annahme und Widerstand

Vermutlich bin ich ein Christ, der das Alte Testament für seinen Glauben und sein Gottverständnis weit nötiger hat als das Neue Testament. Das Neue Testament bietet ein relativ statisches Gottesbild. Das einzige dynamische Blitzen in diesem „Zweiten“ Testament sind die Gleichnisse und Sprüche Jesu, die schillern vor Vieldeutigkeit und Vielfalt.

Natürlich kann ich mich darin sehr täuschen, und vielleicht werde ich diese obige Aussage in zwei, drei Jahren zurücknehmen. Das Neue Testament ist ein sehr theologisches Werk; nicht zuletzt wegen der Paulus-Briefe, deren theologische Macht ich manchmal liebe und manchmal fürchte. Es ist ein Werk, in dem die Gestalt und auch die Worte des Menschensohns Jesus von Nazareth nur durch das Prisma des Ostererlebnisses gesehen werden, und durch die Scherbe der Kreuzigung.

In dieser Scherbe, diesem scharfen Splitter sammelt sich für mich (und nicht nur für mich, glaube ich) alles, was die Zeitgenossen an der Kirche nicht mehr aushalten möchten. Gerade letzthin habe ich mich wieder daran geschnitten, als ich in den Losungen einen Ausschnitt aus dem Matthäus-Evangelium las. Es liegt natürlich an der Übersetzung, die selbst schon unsere Schuldigkeit als Menschen, als „Nicht-Gerechte“ unterstreicht; zur Ergänzung setzte ich dazu auch die Übersetzung der Einheitsübersetzung in Klammern.

Als sie beieinander waren in Galiläa, sprach Jesus zu seinen Jüngern: Der Menschensohn wird überantwortet werden in die Hände der Menschen und sie werden ihn töten, und am dritten Tag wird er auferstehen. (Mat 17,22-23)

(Als sie in Galiläa zusammen waren, sagte Jesus zu ihnen: Der Menschensohn wird den Menschen ausgeliefert werden, und sie werden ihn töten; aber am dritten Tag wird er auferstehen. EÜ)

Ich werde mich in einem meiner nächsten Blogeinträge mit der Frage nach der Sündenbefreiung durch Jesu Tod befassen; einem anderen roten Tuch meines Glaubens. Hier möchte ich zuerst kurz auf die sprachliche Gestaltung eingehen.

In beiden Versionen der Aussage wird passiv formuliert. Jesus überantwortet oder liefert sich nicht selbst aus, sondern wird ausgeliefert. Dasselbe geschieht nicht in der Auferstehung, hier ist Jesus offensichtlich selbst Handelnder.

Was mich hier stösst, immer schon gestossen und gestört hat, vielleicht immer stören wird, ist die Passivität des Menschensohnes. Ja, gewiss, er nimmt sein Schicksal an; das haben uns ja alle Pfarrer und Theologen schon tausende Male gesagt. Er versteht sich ja nicht als Revolutionär, sondern als Vollender – wenn er sich überhaupt als etwas anderes als ein Gerechter verstanden, der etwas vorlebt, was von allen gelebt werden sollte, „weil es so in den Schriften steht“ (wie man bei Paulus immer liest).

Es gibt diesen starken Anruf, den ich gerade heute früh wieder in der Apostelgeschichte (auch so eine Hassliebe von mir) gelesen habe: „Ändert euch!“ Dieser Anruf, diese Aufforderung ist ja meist verbunden mit dem „Kehrt um!“. Ich glaube, dass diese Botschaft eine der wichtigsten Jesu ist; sie unterscheidet sich in der Stossrichtung nicht von jener des Johannes, aber doch in ihrer Wirklichkeitskraft. Sie verlangt von uns nicht heldische Entbehrungen oder asketische Kasteiungen (wie bei Johannes), sondern eine ehrliche und einfache Lebenshaltung – wie die japanischen Poeten sagen: streng und schlicht.

Dieses Annehmen eines – nennen wir es einmal so, gegen alle eigenen Widerstände – Schicksals aber ist uns fremd. Wir glauben an das Prinzip des „Glücksschmieds„. Du musst nur so fest wollen, dann kommt es schon gut, denken wir, ein wenig „american dreaming“ kann nicht schaden.

Nehmen wir aber an, können wir annehmen? Würden wir uns „ausliefern“? Und wenn wir schon dabei sind, hätten wir in Auschwitz gehandelt wie Pater Maximilian Kolbe?

Ich habe da so meine Zweifel. Selbst erfahre ich wohl, was Paulus so schön ausdrückt:

Auch in grosser Not können wir uns glücklich preisen, denn wir haben die Erfahrung gemacht, dass grosse Not die Kraft zum Widerstehen stärkt. Diese Kraft stärkt uns, dass wir standhalten können; die Erfahrung standzuhalten stärkt die Hoffnung. (Röm 5, 3f.)

Ich frage mich jetzt, ob dieses Annehmen, das ich so passiv empfinde, nicht ein aktives Widerstehen ist. Nicht eine Aufgabe, eine Bankrotterklärung, sondern eine Kampfansage.

Auch an uns Weltlich-Allzuweltliche. Wir stossen uns daran, weil wir Hindernissen ausweichen, Plagen medikamentös oder pestizidisch bekämpfen, Fragen mit Gegenfragen beantworten, Qualen umwälzen auf andere, Ungerechtigkeit leben und Gerechtigkeit predigen. Die Umkehr, gerade in der Fastenzeit, in der wir uns befinden, die Änderung unseres Lebens, – diese Umkehr ist nicht eine Umkehr zur Askese, sondern eine (paradoxe) Geste des Widerstands: der Widerstand liegt darin, dass nicht widerstanden wird.

Lebensänderung geschieht, indem ich nicht etwas Neues unternehme, kaufe, entwickle, sondern indem ich das, was ich habe, und mag es auch wenig sein, als das, was ich haben kann, akzeptiere und annehme. Lebensänderung geschieht, wenn das, was ist, genügt.

Annehmen heisst dann, der vielleicht sogar eingeborenen Sucht des Menschen nach dem „Schneller, Höher, Stärker“, nach der Perfektion abzusagen in allem, was nicht die eigene Gabe betrifft und fördert. So verstehe ich das jetzt gerade.

Man könnte noch weiter gehen: die Gerechten sind jene, die dem allzumenschlichen Menschenwillen widerstehen. (Insofern wäre Jesus nur schon daher göttlich…)

Und das Stossende, ja vielleicht Abstossende an dieser Geste der Annahme, die uns Jesus vorlebt in seinem Gang zum Kreuz, in dieser Form von Aufgabe, ist, dass wir sehr wohl erkennen können, wie mächtig er darin und dadurch wird: nicht korrumpiert und nicht verführt: nicht der Starke ist der Mächtige, sondern der Schwache. Jemand, der annimmt, was ihm in Ungerechtigkeit geschieht, nimmt dem Ungerechten und Mächtigen seine Macht. Das ist wahrhaft revolutionär. Und in dieser starken Schwäche ist das Gottesreich da und jetzt.

Aber das erfordert Mut oder einfach – Glauben.

Ein dunkler Gott?

In grosser Wut durchschreitest du die Erde,

im Zorn zertrittst du die Völker. (Hab 3, 12)

Ich liebe dieses Klage- und Zornlied des Propheten Habakuk! Diese poetische Verve, die hier anklingt; die Bilder-Kraft und die Macht dieses Gottes! Da ist ein Schöpfergott sehr wütend…

Das ist der Gott des Alten Testaments, würden viele sagen oder denken. Ein boshaft-eifersüchtiger Gott, ein Gott der Vergeltung, der Übertretungen der Tora, der göttlichen Weisungen, streng und sofort bestraft. Und doch ein Gott des Erbarmens sein kann. Gleichzeitig.

Ja, gleichzeitig:

Ich aber will mich über Gott freuen –

ich will jubeln über die Gottheit, die mich rettet. (Hab 3, 18)

Vergeltung und Erbarmen, Strafe und Verzeihen – das sind die beiden Extreme, zwischen denen dieser gerechte Gott hin und her pendelt. Dass das Erbarmen dabei nur jenen zugemessen ist, die selbst gerecht sind (die Tora beherzigen), mindert in keiner Weise seine Kraft und seine Wut, es macht sie für den Christen, der so gerne an einen überaus milden, linden, „lieben“ Gott glauben möchte, nur noch schwerer verständlich.

Wie kann ein Gott denn strafen und verzeihen, ein Gott, der doch nur durch Vertrauen schon „gerecht spricht“, wie das Paulus in seiner gewundenen Theologie in den westlichen Glauben eingebrannt hat (Röm 1, 17)?

Doch kehren wir nochmals zu meiner Freude über dieses Strafgedicht zurück. Die Macht dieses Gottes hat daran einen wesentlichen Anteil. Ein mächtiger Gott ist eine stärkere Stütze als ein gütiger Gott, könnte man meinen. Ich würde dem entgegenhalten: nur ein gütiger Gott, der auch mächtig ist, kann eine wirkliche Hilfe für den Glaubenden darstellen. Darstellen – ja, darstellen.

Wir mögen uns unterschiedliche Bilder von Gott machen, ihn uns und den andern verschieden darstellen – und dabei immer wieder nur eine Ecke seiner Person (oder Persönlichkeit?), einen Bitzen seines Schleiers zu charakterisieren vermögen.

Gott aber ganzheitlich zu sehen, meint m. E. gerade etwas anderes: seine Vielfalt, seine Libellenaugengestalt, seine unsichtbaren Fremdheiten in den eigenen Glauben hineinzunehmen versuchen. Eine Bibellektüre zu üben, die alle Spielarten dieses vielgestaltigen Gottes möglich macht.

Meine Freude über Gottes Vergeltung, über den „bösen“ Gott hängt sicher einerseits damit zusammen, dass das Böse immer spannender ist als das linde und gutmenschige Gute. Die Freude kommt auch daher, dass unser Leben keineswegs der Spaziergang übers Feld ist, den uns die Kirche und ihre Lehrmeinung immer wieder gehen lassen möchten: sei brav, sündige nicht usw. usf., dann wird Gott dich anschauen… Diese Weltsicht hat keinen Platz für unsere Verfehlungen, ohne die wir nicht jene sind, die wir sind: Menschen. Diese katholische Weltsicht hat auch mich geprägt: gut sein, dann wird schon alles gut.

Die dunkle Seite an Gott zu erkennen und bestmöglich anzunehmen versuchen, heisst auch, nicht ständig an der Theodizee zweifeln zu müssen, daran, dass es Schlechtes gibt auf der Welt, viel zu viel Schlechtes. Ein Gott, der dunkel sein kann und zugleich auch hell, entspricht weit mehr dem alltäglichen Erfahrungshorizont, der alltäglichen Wirklichkeit der Welt.

Und wie sehr brauchen wir Menschen dann auch gleichzeitig das Gefühl, doch zu den guten, den gerechten, ja zu den auserwählten zu gehören! (Ob jetzt theologisch, politisch, sozial oder ökonomisch gesprochen – ist ja alles eins.)

In diesem Lied des Habakuk wird genau dies ausgedrückt, so scheint mir, und in vielen Psalmen auch: die andern sind schlecht, auch ich bin schlecht, aber schau an, Gott, ich mühe mich ja, schau mich an und erlöse mich aus diesen andern, die nicht besser sind als ich!

Lass mich, sagt dieses Lied, zuerst das Schlechte malen und darstellen, und mich dann herauszuheben – gestützt auf das Vertrauen in dich, Gott.

Und letztlich ist es ja doch so, wie mein anderer Liebling, Kohelet, sagt:

All das widerfährt allen gleichermassen: Ein und dasselbe Schicksal ereilt die Gerechten ebenso wie diejenigen, die das Recht brechen… (Koh 9, 2)

Das hat nichts Häretisches oder Willkürlich-Bösartiges – als wäre Gott ein willkürlicher, halb abwesender, halb aufbrausender, unentschlossener und wankelmütiger Herrscher… Es ist Eingeständnis, dass jeder das Verhältnis zu ihm selbst finden muss, selbst erkennen kann, was „gut“, was „gerecht“ ist in den Augen dieses mächtig-gleichgültigen und gleichzeitig gütigen Gottes. (Ein Wortspiel: Gott ist gleichgütig.)

Natürlich bleibt die Frage im Raum, ob ein solcher gegensätzlicher Gott eine Person sein kann, ob es sich da um eine Schizophrenie handelt. Ob ein solcher Gott sich überhaupt einmischt. Ob ein solcher Gott Tsunamis schickt oder doch nicht; ob ein solcher Gott zulässt statt zu gestalten.

Habakuk hätte vermutlich dem alten Deutungsmuster zugeneigt, wonach Gott straft: alle Unbill, alles Unglück ist Ausdruck seines Missfallens. Wir modernen Menschen haben uns emanzipiert von diesem Gottesbild, bleiben aber, wie ich, von ihm fasziniert.

Ein solches schizophren-vielfältiges, schizophren-vielstimmiges Gottesbild hilft mir (uns) dabei, einen Dialog mit Gott zu führen. Ein einseitiger Gott, ein festgelegter Gott kann nicht dialogisch verstanden werden. Nur ein Gott, der wie wir Menschen selbst eine Persönlichkeit hat, die Schatten und Licht kennt, kann ein Gesprächspartner sein. Nur ein Gott, der anklagbar, angreifbar und (letztlich) umstimmbar ist, kann ein lebender Gott sein.

Und nochmals sagte er: Mein Herr zürne nicht, wenn ich nur noch einmal das Wort ergreife. Vielleicht finden sich dort {in Sodom} nur zehn {Gerechte}. (Gen 18, 32)