Eine Betrachtung unter dem Gesichtspunkt der Menschenrechte
(Ich bedanke mich herzlich bei J. M. für das erste Gespräch und besonders bei M. Leemann für die klärende, vertiefende Diskussion, aus der einige Gedanken in das Fazit dieses Beitrags eingeflossen sind. Ich bedanke mich auch bei meiner Tochter, die mein Interesse an den Menschenrechten und den damit verbundenen philosophischen Fragen wieder geweckt hat.)
Ich habe schon viele Diskussionen mit verschiedensten Menschen meines näheren und ferneren Umfelds geführt über die herrschende Impf-Skepsis, Impf-Unwilligkeit, Impf-Angst. Eine Lehrerkollegin hat mich gebeten, einen Gedankengang, der mir im Gespräch mit ihr gekommen war, schriftlich festzuhalten. Das will ich hier versuchen.
Es handelt sich dabei keineswegs um einen neuen oder aussergewöhnlichen Gedanken, aber hin und wieder lohnt es sich, für sich und andere festzuhalten, was gedacht worden ist: Das hilft in der Festigung des Reifungsprozesses als Mensch.
Und natürlich kann ich nicht auf die Argumentation der Impfgegner und Corona-Skeptiker eingehen, obwohl ich mir das von unseren Philosophen dringend wünschte: Sie befinden sich längst jenseits der Fakten, die die Wissenschaft wieder und wieder bestätigt und verifiziert hat. (Das betrifft insbesondere die Vorwände und Ängste der Impfgegner, was Nebenwirkungen betrifft.) Ich setze also die Fakten voraus.
Ist mein Recht wichtiger als das Recht des andern?
Die Corona-Skeptiker sind lauter als diejenigen, welche die Gefahr erkannt haben und gegen sie handeln. Die Corona-Skeptiker haben sogar versucht, beim Bundeshaus Krawall zu machen und den Sicherheitszaun niederzureissen. Die Schweiz ist so ein neutrales Land, dass daraus kein öffentlicher Aufschrei entstanden ist, obwohl der Fakt dieser versuchten Handlung durchaus aufrütteln hätte müssen. Ebenso wie jener, dass der Finanzminister des Landes sich mit einer der ärgsten rechtslastigen Gruppen des Landes gemein macht, die den Begriff der Freiheit derart gepachtet hat, dass sie ihn nicht mehr auf andere anwendet.
Was bedeutet es, wenn jemand die Freiheit „gepachtet“ hat, wie ich das genannt habe? Denn es ist dies ein Phänomen, das weltweit zu beobachten ist und zutiefst beunruhigen sollte.
Deine Freiheit – sich impfen oder nicht impfen zu lassen – wirkt sich unmittelbar auf die Freiheit eines anderen, einer anderen aus. Dadurch, dass du dich nicht impfst, gefährdest du die Gesundheit eines anderen Menschen. (Wenn du keine Maske trägst, gefährdest du die Gesundheit eines andern Menschen.)
Du verletzt oder gefährdest damit sein Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person (Artikel 3 der Menschenrechte).
Damit stellt sich die Frage: Ist mein Recht (auf Meinungsäusserung und Freiheitssphäre) mehr Wert als das Recht des andern?
Diese Frage trifft unsere Gesellschaft ins Mark. Denn von früh auf sind wir uns gewohnt, das eigene Wollen und Wünschen für aussergewöhnlich und wichtig zu halten. Wir berufen uns dabei u.a. auch auf den Artikel 12 der Menschenrechte, auf das Recht auf den Schutz und die Bewahrung der Freiheitssphäre jedes einzelnen.
Doch plötzlich werden wir vor eine Frage gestellt, in der unser Wollen und Wünschen andere gefährdet oder gefährden kann. In der das Recht auf freie Meinungsäusserung, das vermutlich auch das freie Handeln mit meint und einschliesst, das Recht auf Sicherheit der Person gefährdet. Mehr noch, in der dieses Recht das Recht auf eine Freiheitssphäre des einzelnen (Artikel 12 der Menschenrechte) beschneidet oder zumindest in Frage stellt.
Das Recht auf eine Freiheitssphäre endet dort, wo es das Recht eines andern Menschen verletzt oder gefährdet
Ohne ein Jurist zu sein, ist mir klar, dass alle Menschenrechte in der Balance gehalten werden müssen. Keines darf das andere beschneiden oder gefährden. Keines darf stärker als das andere gewertet werden. Und alle werden vom allerersten Recht regiert: Dem Recht auf Gleichheit, Freiheit und Würde (Artikel 1 der Menschenrechte).
Das gilt letztlich auch für das Leben eines Menschen, wenn ich es auf einer universellen Ebene betrachte. Ein Beispiel: Wenn jeder Mensch ein Recht auf ein würdevolles Leben hat, dann darf ich selbst niemals einem andern Menschen dieses Recht absprechen oder verweigern. Wenn ich diesen Grundsatz konsequent durchdenke, muss ich sagen: ich muss so gut ich kann vorurteilsfrei, gewaltfrei und gerecht handeln gegen meinen Mitmenschen.
Vor diesem Hintergrund will ich die Frage nochmals stellen: Habe ich das Recht, mit meinem Verhalten die Sicherheit und Gesundheit des andern zu verletzen oder gefährden?
Ich kann im Rahmen meiner eigenen Freiheit und Würde sicherlich entscheiden, mich nicht impfen zu lassen. Das würde auch übereinstimmen mit dem Recht auf Freiheitssphäre, die der Staat nicht beschneiden darf. (Deshalb scheut sich der Bundesrat und andere Regierungen auch, ein Impfobligatorium einzuführen.) Wenn ich mich jedoch im öffentlichen Raum (Strasse, Bahnhof, etc.) oder im halböffentlichen Raum (Restaurant, Bar, Bibliothek, Kino, etc.) bewege, setze ich dadurch, dass ich mich nicht impfen habe lassen – selbst wenn ich mich regelmässig testen lasse und alle hygienischen Verhaltensregeln einhalte – die andern Menschen der Gefahr der Ansteckung oder Übertragung aus. Dies selbst dann, wenn diese geimpft sind. Denn neue Studien haben gezeigt, dass Geimpfte u.U. den Virus weitergeben können. In einem solchen Fall könnte man von einer Kettenreaktion sprechen.
Ist das Leben anderer nicht schützenswert?
Ein weiterer Punkt, der mich an der ganzen Diskussion und Aufregung fasziniert, ist die Frage, weshalb Menschen die Freiheitssphäre so stark gewichten, dass sie dabei ihr eigenes Leben nicht schützen wollen, indem sie sich einer Ansteckung aussetzen oder diese in Kauf nehmen. Denn damit gefährden sie ein anderes Recht: Das Recht auf Gesundheit – ein untergeordnetes Recht des Artikels 25.1 (Recht auf Wohlfahrt) – bedeutet letztlich, dass alle ein „Recht für alle auf ein erreichbares Höchstmass an körperlicher und geistiger Gesundheit“ haben und beinhaltet insbesondere „die Verfügbarkeit von quantitativ ausreichenden und qualitativ genügenden öffentlichen Gesundheitseinrichtungen sowie den diskriminierungsfreien Zugang zu den vorhandenen Gesundheitseinrichtungen“.
Das ist wichtig, denn die Behörden und Gesundheitsinstitutionen machen uns seit Anfang der Pandemie darauf aufmerksam, dass das Gesundheitssystem zunehmend an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit gerät (Betten und Operationen). Will heissen, wer sich für seine Freiheit (Gewährleistung der Freiheitssphäre) anzustecken bereit ist, gefährdet gleichzeitig die Gewährleistung des Rechts auf Gesundheit. Was würdest du sagen, wenn dein von dir belegter Corona-Spitalplatz eine wichtige Operation verunmöglicht, mit der ein Bein, ein Daumen, ein Herz oder eine Niere gerettet werden könnten? Hat dieser andere Mensch denn kein Recht auf Gesundheit?
Gesellschaftliche Verantwortung
Ich komme zurück auf die im ersten Teil dieser Betrachtung festgehaltenen Maxime: Dein Recht darf das Recht eines andern Menschen nicht verletzen. Rosa Luxemburg zitierend könnte ich sagen: Dein Recht ist immer auch das Recht des andersdenkenden. Oder wie es die Philosophin Bini Adamczak in einem Beitrag von Deutschlandfunk Kultur gesagt hat:
(…) die Entwicklung eines Gemeinwesens, das nicht herrschaftlich organisiert ist, muss immer mit allen gemeinsam geschehen – und das heißt eben auch, mit denen, die eine andere Meinung haben.
Bini Adamczak, Zitat aus erwähnter Sendung
Denn letztlich dienen alle diese Menschenrechte nur einem: der Vermeidung von „Akten der Barbarei“, von der die Erklärung der Menschenrechte in der Präambel spricht. Akte der Barbarei aber haben immer eine gesellschaftliche Tragweite.
Rechte haben ihre Grenzen dort, wo sie die offene, freiheitliche Gestaltung und Entfaltung einer Gesellschaft verhindern. Das gilt auch für das Recht auf Freiheitssphäre und alle anderen Prinzipien der Menschenrechte.
Wer dieses Recht nur für sich in Anspruch nimmt, tritt damit das Recht seines Mitmenschen.
Will heissen, die von Adamczak erwähnte „andere Meinung“ kann und wird oft auch die Mehrheitsmeinung sein, die du zu respektieren hast. (Das sollte jeder Schweizer*in klar sein, denn wer wählt, kann unterliegen – und muss dann das Resultat der Abstimmung akzeptieren, weil es in Gesetz gegossen werden wird.)
Gesellschaftliche Verantwortung übernehmen heisst also, seine Rechte derart und in Freiheit auszuüben, dass dadurch keinerlei Rechte von andern Menschen gefährdet oder beschädigt werden.
Indem mich impfen lasse, tue ich genau das: ich ermögliche das freie Funktionieren der Gesellschaft ohne Restriktionen.
Fazit: Gesellschaftsvertrag in Gefahr
Der Gesellschaftsvertrag wird in unserer Gesellschaft vorausgesetzt: dass alle sich an die Regeln, Gesetze (Rechte) und Pflichten dieser Gesellschaft halten. Denn Rechte gehen einher mit Pflichten. Wenn du auf freier Meinungsäusserung bestehst, so darf deine Meinungsäusserung nicht dazu führen, dass die anderer beschnitten oder ihnen die argumentative, eigenständige Findung einer Meinung abgesprochen wird.
Anders gesagt: kein Rechtssystem besteht nur aus Ansprüchen. Das Gegenstück zu den Ansprüchen, die über Rechte einzufordern sind, sind die dadurch bewirkten, damit verbundenen Pflichten.
Im Gegensatz zum Fall der eingeschränkten Freiheitsrechte im Rahmen des „Kriegs gegen den Terrorismus“ sind wir jetzt in einer Situation – der Pandemie -, wo alle unmittelbar und nicht mittelbar bedroht sind: es kann jede und jeden von uns treffen. Das Virus ist in der Mitte der Gesellschaft; das war der Terrorismus nur in den Augen einiger konservativer Hitzköpfe.
Wir erleben eine Gesellschaft, in der Interessengruppen oder Echokammern sich den Meinungen anderer verschliessen. In der diese Meinungsgruppen (so z.B. die bereits erwähnten „Freiheitstrychler“) ihre Rechte absolut zu setzen begonnen haben. Doch kein Recht kann oder darf absolut gesetzt werden: alle menschlichen Handlungen betreffen andere Menschen.
Ich wiederhole mich, aber dieser Punkt scheint mir sehr wichtig: dem Recht auf Freiheit sind dort Grenzen gesetzt, wo es das Recht auf Freiheit (auf eine offene, funktionierende Gesellschaft und Wirtschaft) einschränkt.
In der postrationalen Gesellschaft droht das gesamtheitliche Vertragswerk eines Gesellschaftsvertrags ausser Kontrolle zu geraten. Die oben erwähnten Echokammern behaupten eine Ausschliesslichkeit ihrer Meinung und Haltung, die zudem jeglicher rationaler Argumentation verschlossen ist.
Damit gefährden sie das Wohl unserer gesamten Gesellschaft, weil einige wenige (immer zahlreicher werdende) Gesellschaftsmitglieder ihr eigenes Wohl oder Dafürhalten absolut setzen.