Wer sich impft, übernimmt gesellschaftliche Verantwortung

Eine Betrachtung unter dem Gesichtspunkt der Menschenrechte

Mit herzlichem Dank an TheDigitalArtist für das Bild

(Ich bedanke mich herzlich bei J. M. für das erste Gespräch und besonders bei M. Leemann für die klärende, vertiefende Diskussion, aus der einige Gedanken in das Fazit dieses Beitrags eingeflossen sind. Ich bedanke mich auch bei meiner Tochter, die mein Interesse an den Menschenrechten und den damit verbundenen philosophischen Fragen wieder geweckt hat.)

Ich habe schon viele Diskussionen mit verschiedensten Menschen meines näheren und ferneren Umfelds geführt über die herrschende Impf-Skepsis, Impf-Unwilligkeit, Impf-Angst. Eine Lehrerkollegin hat mich gebeten, einen Gedankengang, der mir im Gespräch mit ihr gekommen war, schriftlich festzuhalten. Das will ich hier versuchen.

Es handelt sich dabei keineswegs um einen neuen oder aussergewöhnlichen Gedanken, aber hin und wieder lohnt es sich, für sich und andere festzuhalten, was gedacht worden ist: Das hilft in der Festigung des Reifungsprozesses als Mensch.

Und natürlich kann ich nicht auf die Argumentation der Impfgegner und Corona-Skeptiker eingehen, obwohl ich mir das von unseren Philosophen dringend wünschte: Sie befinden sich längst jenseits der Fakten, die die Wissenschaft wieder und wieder bestätigt und verifiziert hat. (Das betrifft insbesondere die Vorwände und Ängste der Impfgegner, was Nebenwirkungen betrifft.) Ich setze also die Fakten voraus.

Ist mein Recht wichtiger als das Recht des andern?

Die Corona-Skeptiker sind lauter als diejenigen, welche die Gefahr erkannt haben und gegen sie handeln. Die Corona-Skeptiker haben sogar versucht, beim Bundeshaus Krawall zu machen und den Sicherheitszaun niederzureissen. Die Schweiz ist so ein neutrales Land, dass daraus kein öffentlicher Aufschrei entstanden ist, obwohl der Fakt dieser versuchten Handlung durchaus aufrütteln hätte müssen. Ebenso wie jener, dass der Finanzminister des Landes sich mit einer der ärgsten rechtslastigen Gruppen des Landes gemein macht, die den Begriff der Freiheit derart gepachtet hat, dass sie ihn nicht mehr auf andere anwendet.

Was bedeutet es, wenn jemand die Freiheit „gepachtet“ hat, wie ich das genannt habe? Denn es ist dies ein Phänomen, das weltweit zu beobachten ist und zutiefst beunruhigen sollte.

Deine Freiheit – sich impfen oder nicht impfen zu lassen – wirkt sich unmittelbar auf die Freiheit eines anderen, einer anderen aus. Dadurch, dass du dich nicht impfst, gefährdest du die Gesundheit eines anderen Menschen. (Wenn du keine Maske trägst, gefährdest du die Gesundheit eines andern Menschen.)

Du verletzt oder gefährdest damit sein Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person (Artikel 3 der Menschenrechte).

Damit stellt sich die Frage: Ist mein Recht (auf Meinungsäusserung und Freiheitssphäre) mehr Wert als das Recht des andern?

Diese Frage trifft unsere Gesellschaft ins Mark. Denn von früh auf sind wir uns gewohnt, das eigene Wollen und Wünschen für aussergewöhnlich und wichtig zu halten. Wir berufen uns dabei u.a. auch auf den Artikel 12 der Menschenrechte, auf das Recht auf den Schutz und die Bewahrung der Freiheitssphäre jedes einzelnen.

Doch plötzlich werden wir vor eine Frage gestellt, in der unser Wollen und Wünschen andere gefährdet oder gefährden kann. In der das Recht auf freie Meinungsäusserung, das vermutlich auch das freie Handeln mit meint und einschliesst, das Recht auf Sicherheit der Person gefährdet. Mehr noch, in der dieses Recht das Recht auf eine Freiheitssphäre des einzelnen (Artikel 12 der Menschenrechte) beschneidet oder zumindest in Frage stellt.

Das Recht auf eine Freiheitssphäre endet dort, wo es das Recht eines andern Menschen verletzt oder gefährdet

Ohne ein Jurist zu sein, ist mir klar, dass alle Menschenrechte in der Balance gehalten werden müssen. Keines darf das andere beschneiden oder gefährden. Keines darf stärker als das andere gewertet werden. Und alle werden vom allerersten Recht regiert: Dem Recht auf Gleichheit, Freiheit und Würde (Artikel 1 der Menschenrechte).

Das gilt letztlich auch für das Leben eines Menschen, wenn ich es auf einer universellen Ebene betrachte. Ein Beispiel: Wenn jeder Mensch ein Recht auf ein würdevolles Leben hat, dann darf ich selbst niemals einem andern Menschen dieses Recht absprechen oder verweigern. Wenn ich diesen Grundsatz konsequent durchdenke, muss ich sagen: ich muss so gut ich kann vorurteilsfrei, gewaltfrei und gerecht handeln gegen meinen Mitmenschen.

Vor diesem Hintergrund will ich die Frage nochmals stellen: Habe ich das Recht, mit meinem Verhalten die Sicherheit und Gesundheit des andern zu verletzen oder gefährden?

Ich kann im Rahmen meiner eigenen Freiheit und Würde sicherlich entscheiden, mich nicht impfen zu lassen. Das würde auch übereinstimmen mit dem Recht auf Freiheitssphäre, die der Staat nicht beschneiden darf. (Deshalb scheut sich der Bundesrat und andere Regierungen auch, ein Impfobligatorium einzuführen.) Wenn ich mich jedoch im öffentlichen Raum (Strasse, Bahnhof, etc.) oder im halböffentlichen Raum (Restaurant, Bar, Bibliothek, Kino, etc.) bewege, setze ich dadurch, dass ich mich nicht impfen habe lassen – selbst wenn ich mich regelmässig testen lasse und alle hygienischen Verhaltensregeln einhalte – die andern Menschen der Gefahr der Ansteckung oder Übertragung aus. Dies selbst dann, wenn diese geimpft sind. Denn neue Studien haben gezeigt, dass Geimpfte u.U. den Virus weitergeben können. In einem solchen Fall könnte man von einer Kettenreaktion sprechen.

Ist das Leben anderer nicht schützenswert?

Ein weiterer Punkt, der mich an der ganzen Diskussion und Aufregung fasziniert, ist die Frage, weshalb Menschen die Freiheitssphäre so stark gewichten, dass sie dabei ihr eigenes Leben nicht schützen wollen, indem sie sich einer Ansteckung aussetzen oder diese in Kauf nehmen. Denn damit gefährden sie ein anderes Recht: Das Recht auf Gesundheit  – ein untergeordnetes Recht des Artikels 25.1 (Recht auf Wohlfahrt) – bedeutet letztlich, dass alle ein „Recht für alle auf ein erreichbares Höchstmass an körperlicher und geistiger Gesundheit“ haben und beinhaltet insbesondere „die Verfügbarkeit von quantitativ ausreichenden und qualitativ genügenden öffentlichen Gesundheitseinrichtungen sowie den diskriminierungsfreien Zugang zu den vorhandenen Gesundheitseinrichtungen“.

Das ist wichtig, denn die Behörden und Gesundheitsinstitutionen machen uns seit Anfang der Pandemie darauf aufmerksam, dass das Gesundheitssystem zunehmend an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit gerät (Betten und Operationen). Will heissen, wer sich für seine Freiheit (Gewährleistung der Freiheitssphäre) anzustecken bereit ist, gefährdet gleichzeitig die Gewährleistung des Rechts auf Gesundheit. Was würdest du sagen, wenn dein von dir belegter Corona-Spitalplatz eine wichtige Operation verunmöglicht, mit der ein Bein, ein Daumen, ein Herz oder eine Niere gerettet werden könnten? Hat dieser andere Mensch denn kein Recht auf Gesundheit?

Gesellschaftliche Verantwortung

Ich komme zurück auf die im ersten Teil dieser Betrachtung festgehaltenen Maxime: Dein Recht darf das Recht eines andern Menschen nicht verletzen. Rosa Luxemburg zitierend könnte ich sagen: Dein Recht ist immer auch das Recht des andersdenkenden. Oder wie es die Philosophin Bini Adamczak in einem Beitrag von Deutschlandfunk Kultur gesagt hat:

(…) die Entwicklung eines Gemeinwesens, das nicht herrschaftlich organisiert ist, muss immer mit allen gemeinsam geschehen – und das heißt eben auch, mit denen, die eine andere Meinung haben.

Bini Adamczak, Zitat aus erwähnter Sendung

Denn letztlich dienen alle diese Menschenrechte nur einem: der Vermeidung von „Akten der Barbarei“, von der die Erklärung der Menschenrechte in der Präambel spricht. Akte der Barbarei aber haben immer eine gesellschaftliche Tragweite.

Rechte haben ihre Grenzen dort, wo sie die offene, freiheitliche Gestaltung und Entfaltung einer Gesellschaft verhindern. Das gilt auch für das Recht auf Freiheitssphäre und alle anderen Prinzipien der Menschenrechte.

Wer dieses Recht nur für sich in Anspruch nimmt, tritt damit das Recht seines Mitmenschen.

Will heissen, die von Adamczak erwähnte „andere Meinung“ kann und wird oft auch die Mehrheitsmeinung sein, die du zu respektieren hast. (Das sollte jeder Schweizer*in klar sein, denn wer wählt, kann unterliegen – und muss dann das Resultat der Abstimmung akzeptieren, weil es in Gesetz gegossen werden wird.)

Gesellschaftliche Verantwortung übernehmen heisst also, seine Rechte derart und in Freiheit auszuüben, dass dadurch keinerlei Rechte von andern Menschen gefährdet oder beschädigt werden.

Indem mich impfen lasse, tue ich genau das: ich ermögliche das freie Funktionieren der Gesellschaft ohne Restriktionen.

Fazit: Gesellschaftsvertrag in Gefahr

Der Gesellschaftsvertrag wird in unserer Gesellschaft vorausgesetzt: dass alle sich an die Regeln, Gesetze (Rechte) und Pflichten dieser Gesellschaft halten. Denn Rechte gehen einher mit Pflichten. Wenn du auf freier Meinungsäusserung bestehst, so darf deine Meinungsäusserung nicht dazu führen, dass die anderer beschnitten oder ihnen die argumentative, eigenständige Findung einer Meinung abgesprochen wird.

Anders gesagt: kein Rechtssystem besteht nur aus Ansprüchen. Das Gegenstück zu den Ansprüchen, die über Rechte einzufordern sind, sind die dadurch bewirkten, damit verbundenen Pflichten.

Im Gegensatz zum Fall der eingeschränkten Freiheitsrechte im Rahmen des „Kriegs gegen den Terrorismus“ sind wir jetzt in einer Situation – der Pandemie -, wo alle unmittelbar und nicht mittelbar bedroht sind: es kann jede und jeden von uns treffen. Das Virus ist in der Mitte der Gesellschaft; das war der Terrorismus nur in den Augen einiger konservativer Hitzköpfe.

Wir erleben eine Gesellschaft, in der Interessengruppen oder Echokammern sich den Meinungen anderer verschliessen. In der diese Meinungsgruppen (so z.B. die bereits erwähnten „Freiheitstrychler“) ihre Rechte absolut zu setzen begonnen haben. Doch kein Recht kann oder darf absolut gesetzt werden: alle menschlichen Handlungen betreffen andere Menschen.

Ich wiederhole mich, aber dieser Punkt scheint mir sehr wichtig: dem Recht auf Freiheit sind dort Grenzen gesetzt, wo es das Recht auf Freiheit (auf eine offene, funktionierende Gesellschaft und Wirtschaft) einschränkt.

In der postrationalen Gesellschaft droht das gesamtheitliche Vertragswerk eines Gesellschaftsvertrags ausser Kontrolle zu geraten. Die oben erwähnten Echokammern behaupten eine Ausschliesslichkeit ihrer Meinung und Haltung, die zudem jeglicher rationaler Argumentation verschlossen ist.

Damit gefährden sie das Wohl unserer gesamten Gesellschaft, weil einige wenige (immer zahlreicher werdende) Gesellschaftsmitglieder ihr eigenes Wohl oder Dafürhalten absolut setzen.

Verantwortungsbewusstsein und Empathie

Ein heute alltägliches Bild: einfach auf die Strasse oder in die Büsche geworfene Masken (Bild mit Dank an Alexas_Fotos)

Für die liberale Ironikerin leistet phantasievolles Einfühlungsvermögen die Arbeit, die der liberale Metaphysiker von einer spezifisch moralischen Motivation – Rationalität oder Liebe zu Gott oder Liebe zur Wahrheit – getan wüsste.

R. Rorty: Kontingenz, Ironie und Solidarität

Die heutigen Zeiten halten für den werdenden Menschen – ob Erwachsener, Jugendlicher oder Kind – viele Herausforderungen bereit. Eine der schmerzvollsten und drängendsten scheint mir aktuell jene der Unfähigkeit zum Perspektivenwechsel und ganz generell zur Empathie zu sein.

Eine pessimistische Bestandsaufnahme

Es passiert immer wieder: In einer mehr oder minder offenen Diskussion verklemmt sich ein Gegenüber in eine Haltung, zu der es von niemand gezwungen ist. An einer Bushaltestelle, in Bus, Tram oder Bahn verhalten sich Jugendliche und Erwachsene nicht nur wie Rüpel, sondern werden bei Ermahnung und bei Hinweisen auf ihre gesellschaftlichen Pflichten (gegenüber ihren Mitmenschen) ausfällig und bedrohen dich. Ehepartner leben jahrelang in überholten Verhaltensmustern, Eltern hätten ihre Kinder am liebsten auf Rollen fixiert, aus der diese längst hinausgewachsen sind. Pädagogen versuchen verzweifelt, ihren Schüler*innen grundlegende moralische Haltungen und im Minimum Verhaltensweisen anzugewöhnen, die sie von zuhause aus mitbringen könnten oder sollten.

In zahlreichen Stunden und Reflexionsübungen schon habe ich feststellen können, dass die meisten Menschen durchaus fähig sind, ethisch gesunde und überlegte Positionen zu vertreten, diese auch in den allermeisten Fällen auch kognitiv nachzuvollziehen, wieder- und weiterzugeben sind. Manche Primarschüler*innen können sich im Nachdenken durchaus auf Kohlbergs 5. Stufe hinaufschwingen (Orientierung am Sozialvertrag und Orientierung am Prinzip der zwischenmenschlichen Achtung).

Keine Stunde später jedoch handelt die Schüler*in auf dem Pausenplatz z.B. wieder ganz nach egoistischen Massstäben. Ein möglicher Perspektivenwechsel, ein Hineinfühlen ist unmöglich geworden, weil sie / er – wie ich vermute – selbst betroffen ist. Wie die meisten Pädagogen habe ich schon die Erfahrung gemacht, dass ich zwei verstockte Streithähne mit ihren beiden Versionen von derselben Geschichte konfrontiert habe. Meist kommt es weder zu einer Einsicht (auch bei dem Geschädigten nicht), sondern zu einer allzu leichthin und daher unverbindlichen Entschuldigung. Dass die beiden Streithähne weiterhin Groll verspüren und diesen in weiteren Auseinandersetzungen schüren werden, ist quasi selbstverständlich und kann nicht erstaunen.

Dazu kommt, dass Beispiele wirklicher Versöhnung, Beispiele wirklicher Perspektivenwechsel und Bemühung um Verständnis sich an einer Hand abzählen lassen. Auch in meinem eigenen, ganz privaten Leben. Wie sollen Kinder und Jugendliche dann verstehen lernen, wie auf den andern „verständnisvoll“ und hörend zuzugehen ist?

Gegen die Fassadentheorie

Zuerst will ich jedoch – ganz im Sinne von Rutger Bregmans Buch „Im Grunde gut“ – klarstellen, dass ich zwar ein Pessimist bin, der hin und wieder fast den Glauben in das Gute im/am Menschen zu verlieren droht, aber doch daran zu glauben bereit ist, dass dieses Gute in unser aller Leben und Lebenshaltung überwiegt. Dass der Mensch also kein egozentrisches, nur auf Nützlichkeit für sich selbst versessenes Tier ist. Sondern ein grundgutes und vielleicht sogar grundgütiges Lebewesen, das zu mehr fähig ist.

Ich selbst bin also vielleicht der falsche Zeuge für das Gute im Menschen, für eine optimistische Sicht auf den Menschen. Immer wieder ertappe ich mich bei „bösen Gedanken“, wenn ich sehe, wie Menschen an Bus- und Tramhaltestellen ihre Kippen einfach fallen lassen oder in den Rinnstein werfen. Oder wenn, wie heute in Corona-Zeiten, in den Büschen und Gräsern der Wege und Strassen die blau-weissen Wegwerf-Schutzmasken hängen.

Ich denke dann häufig an den Ausspruch des Tigers Shir-Khan aus der sowjetischen Animationsfilm-Adaption des Dschungelbuchs (1973): „Jeder für sich“. Und der Tiger ist darin – ganz klassenkämpferisch gedacht – ja nicht nur ein wenig Sinnbild für den „bösen Kapitalisten“. Der am Schluss von einer Herde wildgewordener Wasserbüffel buchstäblich aufgespiesst und zertrampelt wird.

Gewalt und Pathologisierung

In einer meiner ersten Stunden als Religionslehrer, noch ganz ungelernt und naiv, musste ich zwei 4. Klässler voneinander trennen. Sie hatten sich vor der Türe beleidigt („Du bist voll fett“ – „Und du bist Arschloch“ oder so). Der kleinere der beiden schäumte regelrecht, obwohl er ganz offensichtlich derjenige gewesen war, der den Streit losgetreten hatte. Ich musste ihn mit meiner ganzen Kraft eines erwachsenen Manns festhalten, an die Wand drücken, sonst hätte er mich verletzt. Er beruhigte sich nur so, durfte dann auch einen Moment draussen bleiben, bis seine Wut und seine Tränen getrocknet waren. Die Eltern, die ich nach der Stunde informiert habe, waren scheinbar ebenso verblüfft und schockiert wie ich über ihren Buben.

Ich werde diesen Jungen nie mehr vergessen: Was für eine Kraft er entwickelt hatte! Wie zutiefst überzeugt er von seinem Recht war, obwohl die ganze Klasse ganz klar davon erzählte, wie er den andern Jungen (der auch weinte) auf dem ganzen Schulweg und den ganzen Schulmorgen schon gepiesackt und beleidigt hatte!

Fast 5 Jahre später, inzwischen ausgebildet und mit einem grossen Erfahrungsschatz unterwegs, passierte mir etwas ähnlich Unerklärliches, Widersinniges. Auf dem Rückweg vom Lehrerzimmer traf ich auf dem Pausenplatz einen Erstklässler, der zu mir in den Unterricht kam. Er war unterwegs zu einer heilpädagogischen Stunde. Damals standen auf dem Pausenplatz gelegentlich noch Kleinlaster von lokalen Sanitär- und Malerunternehmen, der Umbau und die Renovation war fast abgeschlossen.

Der Erstklässler hatte mich gegrüsst, ging aber schnell weiter. Auf seinem Weg fuhr ein Kleinlaster rückwärts auf ihn zu. Ich rief dem Jungen zu, er solle doch ausweichen! Als ich bemerkte, wie der Junge nicht ausweichen würde, rannte ich ein paar Schritte, um ihn vor dem zurückrollenden Kleinlaster zu retten; der Junge befand sich genau im toten Winkel des Fahrers. Der Junge aber wurde wütend und befreite sich ruckartig aus meinen Händen.

Ich stellte ihn zur Rede: „Wieso bist du denn nicht ausgewichen? Hast du das Auto nicht gesehen?“ Er antwortete nicht. Ich fragte weiter: „Was hättest du gemacht, wenn das Auto weiter auf dich zugefahren wäre? Es hätte dich überfahren können!“ Der Junge antwortete: „Ich hätte es geschlagen!“ Ich bohrte weiter: „Aber das Auto ist doch stärker als du!“ Der Junge wiederholte: „Ich hätte es geschlagen, ich bin stark!“

Der Junge schien keine Relation zu Objekten im Raum zu haben: Er nahm nur sich selbst wahr, hielt sich in einer gewissen Form für allmächtig, allbeherrschend. Ich hatte bereits erlebt und erfahren (von anderen Lehrpersonen), dass er auch eine schwierige Haltung zu Subjekten im Raum hatte, zu anderen Menschen. Auf alle Probleme antwortete er mit Gewalt, mit Über- und Angriffen.

Ich habe die schulische Laufbahn dieses Jungen aus den Augen verloren. Ich weiss, dass er noch vor Ablauf des Schuljahrs in eine Förderklasse verwiesen wurde, wo auf seine Bedürfnisse eingehender eingegangen werden konnte. Was sich sehr positiv auf die Schüler*innen der Klasse und die Lehrpersonen ausgewirkt hat; sie atmeten auf.

Nun bin ich zwar sehr froh um die reichhaltigen Unterstützungs- und Fördermassnahmen, die unsere heutige Schule den „verhaltensauffälligen“ Schüler*innen bietet. Umso mehr, als es sich dabei um das inklusive Schulmodell handelt. Gleichzeitig aber bin ich skeptisch, inwiefern diese Fördermassnahmen nicht auf eine allzu starke Pathologisierung der „Verhaltensauffälligkeiten“ zurückzuführen sind. Oder – anders gesagt – ob den Kindern manchmal nicht mehr gedient wäre, wenn man sie sein und werden liesse. Denn nicht alle „Auffälligkeiten“ sind pathologisch, genauso wenig wie alle Pathologien auffällig sind.

Aber das ist eine andere Geschichte. Sie berührt zwar das hier angesprochene Thema, aber ich bin zu weit abgeschweift.

Bevor ich fortfahre, liesse sich zusammenfassend etwa Folgendes sagen:

  • Im schulischen wie im privaten Alltag dominiert Gewalt als Lösungsweg, sowohl als verbale, gestisch-nonverbale oder als effektive, verletzende, tätliche Gewalt.
  • Im schulischen wie im privaten Alltag dominiert eine Haltung der Unversöhnlichkeit einerseits und eine Haltung der (bewussten oder unbewussten) Argumentlosigkeit bzw. des bewussten oder unbewussten Verzichts auf eine vernünftige Argumentation, die aufgrund ihrer Basis in der Vernunft auch offen für Gegenargumente und Einwände ist.
  • Im schulischen wie im privaten Alltag dominiert eine Haltung der Empathielosigkeit bzw. eine Haltung der Empathie gegen Mitglieder der gleichen Familie, Ethnie oder Partei (ob politisch oder gesellschaftlich).

Was aber heisst das für mich als Religionspädagogen, der seinen Unterricht immer wieder mit ethischen Fragen unterfüttert?

Für eine vernunftgeleitete Haltung der Versöhnlichkeit und Offenheit

Mit den Schüler*innen wären vermehrt folgende Kompetenzen zu erwerben:

  • Übung in der Findung oder Erarbeitung von Argumenten (pro und contra) im Falle von umstrittenen dilemmatischen Situationen aus Schul- und Familienalltag (Stichwort Argumentieren)
  • Vertreten von den Schüler*innen u.U. konträren Haltungen mit stichhaltigen Argumenten in einem konfliktfreien, geschützten Umfeld (Stichwort Debattenkultur)
  • Übung(en) im Zuhören, im Abwarten, im „Einfühlen“

Für eine empathiestarke Haltung der Verantwortung

Doch wie der letzte Punkt oben schön aufzeigt, genügt ein „Argumentierenkönnen“ noch lange nicht. Ein Dialog muss in Empathie gegründet sein. Und dieser empathievolle, vernunftgeleitete Dialog muss (müsste) in verantwortungsvolles Handeln münden.

Wie ein äusserst lesenswerter Artikel auf philosophie.ch, verfasst von Till Hopfe & Adem Mulamustafić, unter dem Titel „Empathie oder Dialog?“ aufzeigt, handelt es sich hier fast um die Quadratur des Kreises.

Dabei stellen die beiden Autoren besonders heraus, dass ein erfolgreicher „empathischer Dialog“ einige Vorbedingungen hat:

  • Der den Dialog Suchende muss um sein eigenes Nichtwissen wissen: sowohl in Bezug auf die wirkliche Weltperspektive des Gegenübers als auch um die Lücken in seiner eigenen Weltperspektive.
  • Dies führt von einer Haltung der intellektuellen Arroganz zur Haltung intellektueller Bescheidenheit: „Bei auftretenden Missverständnissen sollten wir zunächst unterstellen, dass unser Gegenüber etwas Sinnvolles gesagt hat und wir die die Ursache für das Missverständnis sind…“
  • Die beiden Autoren nennen dies in Rückgriff auf Daniel Davidson das „Prinzip der wohlwollenden Interpretation„.
  • Der Verstehensprozess hat mit dem „Hineinfragen in den anderen“ zu tun.

Diesen hilfreichen Vorbedingungen und Hilfsmitteln zur Führung eines inklusiven und aufklärenden Dialogs sollte jedoch auch noch das Bemühen um Kontaktaufnahme zum andern hinzugefügt werden. Denn nur Kontakt mit dem anderen verhindert Vorurteile und Fehlinterpretationen. Je näher du also jemand „Unbekanntem“ und/oder „Unverständlichen“ bist, umso leichter kannst du ihn als ebenbürtigen und ebenso würdigen Nichtmenschen wie dich selbst erkennen und auf ihn und auf sie zugehen.

(Nicht umsonst stimmen die Landkantone in der Schweiz regelmässig für fremdenfeindliche Initiativen, weil sie die Diversität der städtischen Gesellschaften in Unkenntnis gegenüber stehen! Würden sie selbst in einem diversen Quartier leben, fielen die Vorurteile ganz allmählich und natürlich von ihnen ab.)

Soweit zur Hilfseigenschaft der Empathie als Vermittlerin und Ermöglicherin von Kontakt und Verständnis. Doch wie steht es um die Verantwortung, um das anwachsende Verantwortungsbewusstsein in einem solchen Prozess?

In dem Moment, wo ein empathischer Verständnisprozess nicht nur zur Kontaktaufnahme, sondern zu zusätzlicher Nähe geführt hat, können die beiden Gegenüber ihr Handeln verantwortungsvoll und gemeinsam durchführen. Beide Gesprächspartner können die Verantwortung für aufgeklärtes, empathisches Handeln übernehmen und mittragen. Und dieses vor anderen, befremdeten oder befremdlichen Gegenübern verantworten und argumentativ vertreten.

Vor diesem Hintergrund heisst also Verantwortungsbewusstsein, dass du dich jederzeit als für den anderen Menschen ebenso fremden Menschen – ja mehr noch: für dich selbst fremden Menschen – verstehen lernst und erst nach Ergründung von dessen Motiven und Lebensperspektiven mit ihm und ihr gemeinsam zu handeln beginnst, damit sie und er sich nicht nur gemeint fühlen, sondern gemeint sind.

Und den Lernprozess des empathischen Verstehens weitertragen helfen.

Oder, um es mit dem Philsophen Bregmann zu sagen:

„Woran wir uns erinnern müssen – und das gilt auch für mich selbst -, ist, dass der andere uns ähnelt. Der wütende Bürger in der Zeitung, der Kriminelle mit einem schwarzen Balken vor den Augen, der Flüchtling als statistische Grösse – sie alle sind, jeder für sich, Menschen aus Fleisch und Blut. Menschen, die in einem anderen Leben unsere Freunde, unsere Verwandten, unsere Liebsten hätten sein können.“

Im Grunde gut, S. 411f.

Liebe, die nicht fordert

Die schönsten Beziehungen meines Lebens habe ich mit Freundinnen und Freunden. Nicht mit allen von ihnen bin ich sehr eng befreundet oder teile ich mein Leben. Die “wirklichen” Freunde sind wenige und treu. In der Liebe habe ich bisher nur selten und in den Anfängen erlebt, dass eine Beziehung so harmonisch und gleichmässig wie meine besten Freundschaften verläuft.

Geben und Nehmen

Seit meiner ersten Liebe – einer unerwiderten Liebe – ist mir klar, dass die menschliche Liebe ein Gefühl oder eine Haltung ist, die fordert: Zuwendung, Bedingungen, Anteilnahme und (Liebes-) Beweise.

Der geliebte Mensch kann diesen Forderungen zumeist nicht entsprechen, weil sie oder er aus einem anderen Leben stammt, ein anderes Herz und eine andere Herkunft hat. Solche fordernde Liebe ist immer eine Überforderung. Die Erwartungen einer solchen Liebe können nur enttäuscht werden.

Im Rahmen unseres binären Denkens ist “Geben und Nehmen” logisch: Geben, damit ich bekomme; bekommen, damit ich geben kann.

Das habe ich schon immer für mehr oder minder infantil gehalten. Ich weiss (oder glaube zu wissen), dass ich niemals genau das geben kann, was ich (in den Augen des Beschenkten) geben soll. Und niemals genau das erhalte, was ich mir wünsche.

Hingabe

Als Vater lerne ich mit jedem Jahr, das meine Kinder altern lässt, wie wandelbar meine Liebe ist und – sein muss. Mit einem pubertierenden Kind muss ich die Vater-Kind-Beziehung manchmal innert eines Tages mehrfach austarieren.

Das gerade ist ein gutes Beispiel: elterliche Liebe soll und muss bedingungslos sein. Sie soll und muss ganz im Dienste des Kindes und nicht im Dienste der Wunscherfüllung oder der Kompensationswünsche der Eltern sein.

Idealerweise ist die elterliche Liebe also eine Liebe, die gibt ohne etwas zurückzuerhalten. Idealerweise, weil auch Eltern Ansprüche, Bedingungen und Erwartungen haben, die sie nur allzu gern erfüllt haben möchten, von den schulischen Leistungen bis hin zu der Sauberkeit und Ordnung in Kinderzimmern.

Niemals würde ich von mir behaupten, dass ich eine solche ideale Eltern-Kind-Liebe pflege. Ich bin auf dem Weg dahin – gerade mit einem pubertierenden Kind.

Die Hingabe, von der wir bei Jesus reden, diese ausschliessliche und bedingungslose Liebe, diese Form der Liebe ist für einen Menschen schwer zu praktizieren. Wenn der Mensch sie erreicht, erreicht er oder sie einen Zustand von Quasi-Heiligkeit wie Gandhi oder Tolstoi.

Freundschaft, die andere Liebe?

Wie bereits gesagt, mit meinen (besten) Freundinnen und Freunden verbindet mich ein starkes Band der gegenseitigen Anteilnahme, des Mit-Lebens. Diese Beziehungen leben davon, dass sie genügend Distanz haben oder halten, um immer wieder neu die Freude über die menschliche Nähe zu spüren. Die Freude, wie ähnlich wir uns als Menschen doch sind, ob in Leid oder in Freude.

In diesen Freundschaften bin ich meist ausserordentlich glücklich und erfüllt, weil ich nicht auf Forderungen zu reagieren habe, weil ich angenommen bin, ohne etwas leisten zu müssen. Ich werde akzeptiert, wie ich bin.

Ich wiederhole nochmals, das kann gelingen, weil die Freunde sich nicht jeden Tag in der Dusche treffen oder zusammen kochen oder im gleichen Bett schlafen. Ich glaube sehr wohl, dass die Einheit, die Gemeinschaft dann bald vorbei wären.

Christlich gesehen, handelt es sich bei der Freundschaft sicherlich eher um den Aspekt “caritas”: Nächstenliebe. Diese widmet sich uneigennützig dem andern, ja dem fremden Menschen. Diese Liebe nimmt den anderen Menschen an. Voraussetzung für diese Liebe ist jedoch, und das wird in meinen Augen viel zu oft unterschlagen, dass man sich selbst gern hat.

Erfüllung in der Liebe

Haben Sie schon einmal Kleinkinder betrachtet, wie sie auf andere Menschen zugehen? Natürlich “fremden” sie auch, doch sieht man selbst hinter dieser “Angst” die Neugier für andere Menschen.

Ja, Kleinkinder gehen auf andere Menschen zu, wie wir das nicht mehr können (oder glauben zu können). Sie leben aus einem Vertrauen heraus, das ihnen ihre Eltern schenken. Sie fühlen sich durch und durch geliebt. Aus diesem erfüllten Leben heraus ist es ihnen ganz natürlich, ebenso liebevoll und offen auf andere Menschen zuzugehen.

Ich habe auch schon Kleinkinder erlebt, aus deren Blick das Bewusstsein des eigenen Werts sprach: sie waren sich bewusst, dass sie “nicht umsonst” geliebt sind.

Und ausser in unseren kalten mitteleuropäischen Gefilden reagieren die Menschen spontan und herzlich auf Kleinkinder und Kinder. Es ist vielleicht eine Art “Gegenübertragung”: die Kinder voller Liebes-Vertrauen schenken den Erwachsenen ganz natürlich Vertrauen, das in der Umkehr wiederum Liebe ermöglicht.

Kleinkinder fordern in uns also das Beste heraus: eine Öffnung hin zum andern (Kleinkind oder Kind). Diese Öffnung und dieser Schritt hin zum andern anerkennt grundsätzlich den Selbstwert und die Würde des andern.

 

Das ewige Leben

Doch kommen wir wieder zu den Freundinnen und Freunden zurück. Ich weiss nicht, wie es Ihnen geht, aber ich bezeichne meine drei, vier besten Freundinnen und Freunde als wirkliche “Lebenspartner”. Natürlich teilen wir nicht das Bett oder die Körpersäfte, aber wir haben in der Kommunikation zwischen uns Anteil aneinander.

Mit diesen drei, vier Freundinnen und Freunden gehe ich durch das Leben. Und das meine ich genauso: als gingen wir Hand in Hand eine lange, gewundene und hindernisreiche Strasse hinunter oder hinauf. Und obwohl wir in ferne Ländern und Kantonen verstreut sind, erreichen sich unsere Hände ohne Probleme.

Das liegt an unserem Vertrauen und an unserer Liebe. Wir geben lieber: nehmen hat hier keine Priorität.

Wenn ich mit meinen Freundinnen und Freunden zusammen bin, vergeht die Zeit einerseits wie im Flug und andererseits ist sie so reich, dass wir das Gefühl haben, wir hätten gerade Jahre zusammen verbracht. Für mich ist das immer ein Zeichen von wertvollem, würdigen Leben. Zeichen eines erfüllten Lebens.

Dieses erfüllte Leben ist für mich immer auch “Gottesreich”: wir achten uns, wir trauen uns, wir lieben uns. Und das Gefühl von Ewigkeit, das wir dabei empfinden, ist ein Geschenk.

Anders gesagt: wertvolle und würdige Beziehungen sind immer ein Geschenk. Ausdruck, dass Gott “mit uns” ist. Wahre Beziehungen entstehen in Achtung der Andersartigkeit, in Liebe zur Andersartigkeit.

Diese erfüllten Momente nenne ich bei mir “das ewige Leben”. Es sind Momente, in denen wir nichts erwarten – und göttlich beschenkt werden. Momente, in denen wir nichts fordern – und göttlich erhalten. Momente, in denen wir nur geben – und göttlich belohnt werden. Momente, in denen wir uns in Einfachheit einem Menschen zuwenden – und göttlich geliebt werden.

 

„Verinnerlichung“

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In meiner Arbeit als Religionslehrer, als Religionspädagoge geht es mir meist darum, in Kindern und Jugendlichen von mir so genannte Übertragungsprozesse zu motivieren und aktivieren. Ziel eines solchen Prozesses wäre es, das Kind oder die Jugendliche nicht nur in eine (objektivierende?) Reflexion hinein zu leiten, in deren Rahmen es Alltags- mit Glaubenserfahrung zu kombinieren lernt; und aus dieser Reflexionsleistung heraus auch kompetent wird, eine solche Hintersinnung in alltäglichen Situationen aus sich selbst heraus zu vollziehen.

Mit Hintersinnung meine ich ein geistiges Handeln, das sich auf das körperliche, das weltliche Handeln in der ersten Phase explizit und späterhin implizit auswirkt und ausdrückt. Dabei gehe ich nicht von mir selbst aus: auch ich handele oft einfach so, wie „man“ handelt oder glaubt, handeln zu sollen – also unsinnig und/oder unhinterfragt. Nein, ich bin kein Vorbild; aber ich habe Erfahrungen dieses impliziten Hintersinnens gemacht, kann sie erzählen und manchmal sogar vorleben…

Es gibt diesen schönen biblischen Spruch vom Gesetz, das mit der Absicht der Verwirklichung eines „gottgemässeren Menschenlebens“ auf oder in das Herz des Menschen geschrieben wird. (Ich habe hier bewusst das „gottgemässere Menschenleben“ in Anführungszeichen gesetzt. Damit will ich ausdrücken, dass es sich hier nur um eine Annäherung an das – nur von Gott? – gewünschte Verhalten des Menschen gegenüber dem andern Menschen handelt.)

Doch seien wir präzise: der oben angesprochene und im Bild des beschriebenen Herzens ausgedrückte Prozess ist kein mechanischer, etwa wie die Formatierung einer Computer-Festplatte!

Das ist er nämlich nur zu leicht: mechanisch-äffend. Weil wir Menschen uns denkend anpassen können: vor allem in Situationen des Lernens, in der Schule oder allgemein im Unterricht, sind Jugendliche und Kinder durchaus fähig, „anders“ zu denken, manchmal auch, sich „anders“ zu verhalten. Für einen mehr oder minder  langen Augenblick wird ihr „draussen“ oder „in der Umwelt“ geltendes Programm „überschrieben“. Und der Religionspädagoge erhält einen durchaus falschen, vielversprechenden Eindruck von bewirkter oder wenigstens möglicher Veränderung von Verhalten und Nachdenken.

So gelingt es Jugendlichen durchaus, sich in Dilemmageschichten von Kohlbergs „Law and Order“-Stufe auf jene Stufe zu hieven, also von der konventionellen Stufe auf die postkonventionelle Stufe zu gelangen, in der allgemeine, universale Erwägungen vor konventionellen, organisatorisch-staatlichen zu liegen kommen. Das können sogar Mittelschüler! Doch handelt es sich dabei um eine reine „Denkleistung“, die vielleicht (und sehr wahrscheinlich) auch bereits durch vorgängige Religionslehrerinnen oder auch Aussagen und Verhalten der Eltern konditioniert sind.

Darum aber darf es nicht gehen. Konditionierung ist Formatierung, und Formatierung ist das Prägen eines Menschen auf seine Funktionalität hin, legt den Schwerpunkt auf sein Funktionieren statt auf sein Sein. 

Der von mir durch die Übertragungsprozesse angestrebte Schritt der Verinnerlichung, der von mir so sehr (auch für mich!) erwünschte Schritt des „Denkens mit dem Herz“ oder besser: „Denkens aus dem Herz“, – dieser Schritt erfolgt erst, wenn das „Universale“ oder „Absolute“ wirklich verstanden worden ist, eingegangen ist in Seele und Denken. Selbst die Jünger Jesu geben ja zahlreiche Beispiele davon, wie „unverstanden“ die Lehre des Rabbi selbst von den eigenen Schülern war, die mit ihm bereits einige Jahre unterwegs waren…

Doch gebe ich durchaus zu, dass ein gewisses „Konditionieren“ erforderlich ist, um uns Menschen im Moment, da eine solche Übertragungsleistung wirklich vonnöten ist, dafür aufzuwecken, auferstehen zu lassen in dieser Handlung und Anwendung des Glaubens. Das „Konditionieren“ wäre dann eine Art imitative Einübung.

Und vielleicht sollte man Glaubenlernen nur mit Erwachsenen unternehmen, denn erst sie haben Erfahrungen gemacht, ide unseren Glauben zur Entwicklung (oder zum Ersterben) zwingen: Erfahrungen von Krisen und Nöten, von Gefährdung und Ungewissheit.

Dennoch werde ich die Verwandlung, die Auferstehung in den Schülern immer anstreben, anzustreben versuchen. Werde mich nicht zufrieden geben damit, reine Denk- oder Überlegungsleistungen zu würdigen, sondern weiterhin Glaubens-Erfahrungen anzustossen versuchen. Und glücklich sein, wenn eine meiner zehn oder fünfzehn Schülerinnen das Prinzip der „Goldenen Regel“ so verstanden hat, dass sie oder er nicht mehr anders handeln kann, weil das Herz es nicht anders mehr will.

Denn das eigentliche Ziel, das ich mir meist nicht eingestehe, aber doch mitfühle, ist ja die Besserung der Welt, in der wir leben, mit und durch unsere Kinder und Jugendlichen. Und so grosskotzig und naiv dies klingt, so energisch stehe ich dafür ein.

Denn es kommt eine Zeit…

Denn es kommt eine Zeit, da werden die Menschen der gesunden Lehre des Evangeliums kein Gehör mehr schenken. Stattdessen werden sie sich Lehrer aussuchen, die ihren eigenen Vorstellungen entsprechen und die ihnen das sagen, was sie hören möchten. Sie werden ihre Ohren vor der Wahrheit verschliessen und sich Legenden und Spekulationen zuwenden.

(2 Tim 4,3f.; NGÜ)

Zweite Naturen

Lehrer sind mehr denn andere Berufsleute am Puls der gesellschaftlichen Entwicklung. Man möge mir den Gemeinplatz verzeihen, den ich auch gleich übertreffen möchte. Religionslehrer sind mehr denn andere Berufsleute am Puls der religiösen Entwicklung.

In meiner täglichen Arbeit als Religionslehrer habe ich viel Freude, weil immer wieder der heilige Geist eingreift, mich oder die Kinder oder alle zusammen erfasst und zu wundervollen Erkenntnissen führt.

In allen Fällen und Stunden aber beobachte ich immer wieder (nicht zu meinem Erstaunen, das sei dann doch gesagt), wie zugebuttert die ursprüngliche menschliche Natur bereits ist – von konsumistischen, auf Unterhaltung ausgehenden Gedanken und unausgedachten, unausgegorenen Empfindungen, von der Erwartung nach schneller Befriedigung der Reize bis hin zum Sprücheklopfen der SVP-Narren.

(In einer Stunde musste ich mich doch ernsthaft anhören, dass man alle Albaner und Kosovaren einfach vergasen sollte. Das in einem Dorf, wo keine Kosovaren oder Albaner wohnen.)

Ich hüte mich davor, diese Entwicklungen zu bewerten. Ich ordne sie ein. (Auch das mag eine Wertung sein, gewiss.)

Aber ich sprach von der zweiten Natur.

Bei Pascal ist das, soweit ich mich erinnere, die Gewohnheit, die sich über die ursprüngliche Natur des Menschen stülpt. In dieser Hinsicht wäre die zweite Natur eine zivilisatorische Errungenschaft: denn die Gewohnheit (wenigstens in Westeuropa) verbietet dem Menschen Selbstjustiz und andere Akte der Ungerechtigkeit.

Bei Rousseau, meinem anderen Liebling, ist die zweite Natur gesellschaftlich. Der Mensch ist beim ollen Jean-Jacques eigentlich ein Einzeltier, ein Einsiedler. Alle Konflikte stammen daher aus der „Vergesellschaftung“ des Menschen.

Diese beiden Konzepte haben sich bei mir zur Rede von der zweiten Natur verschmolzen. Was meine ich damit, wenn ich von meinen Schülern sage, ihre ursprüngliche Naturen seien „zugebuttert“?

Sind sie wie Brotschnitten, die  ohne Butter besser schmeckten?

Vielleicht…

Ich sehe einfach, dass sie in Gesellschaft nicht fähig sind, sowohl zu sich zu stehen als auch menschliche Regungen (von Schwäche z.B.) zu zeigen oder zuzugeben. Sie befinden sich in einer Art Schutzmodus, in einer Dialektik der Selbstabwehr. (Dazu fällt mir ein, ich muss dringend Pascals Begriffe des „amour propre“/Eigenliebe und „amour de soi“/Selbstliebe vertiefen; sie können zu diesem Thema u.U. noch was beitragen…)

Kurz, es ist ihnen nur sehr selten möglich, sich selbst zu sein. Einerseits, weil sie gelernt haben, dass man in Gesellschaft etwas „darstellen“ muss; man ist also sozusagen ein Schausteller seiner selbst. Andererseits aber, weil sie, da fast immer in Gesellschaft, nie richtig zu sich durchdringen gelernt haben.

Ich gebe zu, dass dies bei mir auf ein sehr pessimistisches Menschenbild schliessen lässt, das dem Menschen grundsätzlich skeptisch gegenüber steht, ihm seine Menschlichkeit (Menschhaftigkeit & Menschsein) nicht wirklich zuzutrauen bereit ist. Mangelt es mir da etwa an Vertrauen?

Das glaube ich nicht. Sehr oft habe ich bereits erlebt, dass die gleichen trägen, gleichgültigen, abgebrühten Kinder aus dem heiteren Himmel wundervolle Diskussionen losgetreten oder wirkliche religiöse Einsichten gehabt haben. Als habe man sie umgestülpt wie eine Socke oder einen Handschuh.

Womit wir wieder bei der zweiten Natur wären.

Wir alle brauchen sicherlich diesen Panzer der zweiten Natur, um überleben zu können. Vieles an diesem Panzer ist und bleibt uns / unserer Persönlichkeit sicherlich äusserlich. Einiges aber verschmilzt aber mit der Zeit – und mit mangelndem Sinnen und mangelnder Glaubensübung – mit der eigenen Persönlichkeit.

Was das mit Glauben, mit Religion zu tun hat?

Jesu Impuls war ein Impuls zur Befreiung. Diese Befreiung durch und im Glauben / Vertrauen findet in der Welt statt, nicht ausserhalb von ihr. Wir sind alle in der Welt, aber wir können uns auch befreien von ihr.

Wir müssen uns (als Christen) befreien von der Welt, von ihren Mechanismen und Machenschaften. Ohne jedoch uns von ihr ganz abzutrennen.

Das können wir, so bin ich überzeugt, nicht andauernd, aber ausdauernd. Immer wieder ansetzen, die zweite Natur abzustreifen versuchen. Zum Menschen in sich vorstossen wollen.

Ich selbst habe eine Neigung zur Innerlichkeit. Diese Neigung ist bei mir keine zweite Natur. Sie ist primär, ursprünglich.

Diese Neigung weiss ich auch in meinen Schülern. In allen Menschen. Und andere auch.

Wie hat es Erofeiev in seinem grandiosen „Moskau-Petuschki“ so schön gesagt (ich zitiere frei aus dem Gedächtnis):

Allgemeine Kleinmütigkeit… Was wäre das für eine Welt, in der allgemeine Kleinmütigkeit herrschte! Keine Kriege mehr…

Kurz: auf dass jede und jeder hin und wieder tief in sich die eigentlichen Eigenschaften suche, erforsche und entdecke, und sie „nach oben“ hole, um die Welt an ihrem Geheimnis teilhaben zu lassen. Fern jeder verkrusteten Verhaltensmuster und „so haben wir das schon immer gemacht“…

Ich plädiere dafür: wir sind alle Freaks. Stehen wir dazu und seien wir ehrlich. Hin und wieder.

Nicht zu oft: wo kämen wir denn da hin…

PS: Eine spannende Frage, die sich im Schreiben dieses Blogs gestellt hat: Ist nicht das „neue Gewand“ der Paulus-Briefe eine Art „zweite Natur“?