Sonntagsstelle: Ambivalenz und Facettenreichtum

Wahrlich, jene, die Gott und Seine Gesandten leugnen in ihrem Bemühen, einen Unterschied zwischen (dem Glauben an) Gott und (dem Glauben an) Seine Gesandten zu machen, und die sagen: „Wir glauben an das eine, aber wir leugnen das andere,“ und die einen Pfad dazwischen verfolgen wollen – es sind sie, sie, die wahrhaft die Wahrheit leugnen: und für jene, welche die Wahrheit leugnen, haben Wir schmachvolles Leiden bereitet.

(Sure 4, 150. Zitiert nach Asad, Muhammad: Die Botschaft des Koran)

Ein Thema, das in dieser Textstelle aus der Sure 4 (an-Nisa, Die Frauen) aufscheint, beschäftigt mich immer wieder.

Es ist dies auf der einen Seite eine Ausschliesslichkeit des Glaubenmüssens. Will heissen, es geht nicht darum, eine Auswahl zwischen verschiedenen Ausformungen oder Gestalten des Glaubens zu tätigen oder finden, sondern vielmehr darum, die Offenbarungsbotschaft als Ganzes, als Gesamtheit in all ihren Facetten anzunehmen.

Doch ist diese Haltung nicht einfach ein- oder gar auszuhalten. Jede neue Offenbarungsbotschaft verschiebt den Glaubensinhalt ein wenig.

Der Koran spricht hier bewusst von „Seine(n) Gesandten“, bezieht also explizit die Mohammed vorangegangenen Propheten oder Gesandten in die Offenbarungshandlung ein. Der Koran weiss um viele Gesandte, die Mohammed vorangegangen sind, von Moses (Musa) bis Issa (Jesus). Sie alle waren Gestalten einer Offenbarung, die (so interpretiere ich es) für jeweilige Gemeinschaften/Ummas gelten sollte – und explizit auch weiterhin gilt (für die nachfolgenden Gemeinschaften/Ummas).

Das ist die andere Seite des gleichen Themas, die Kehrseite der Medaille: Die vorangegangenen Offenbarungshandlungen sind weiterhin aktuell und gegenwärtig. Darin fordern sie von der Glaubenden die Bereitschaft für die Umsetzung einer vielschichtigen, mehrpoligen Botschaft.

Und das Multipolare, das Ambivalente ist für mich einer der Kerngedanken für einen verständigen, einen reflektierenden und reflektierten Glauben. Eines Glaubens, wie ihn der Koran immer wieder explizit einfordert: das Mit-, das Hinter-Denken allen menschlichen Sinnens und Handelns. Wie oft hörst du im Koran nicht den Ausruf, fast schon verzweifelt, voller Mitgefühl: „Könnten / Würden sie nur einfach nachdenken, ihren Verstand gebrauchen!“.

Die Vernunft, die im Koran (soweit ich das sehe) die Glaubenshandlung begleitet, ist dabei zentral. Wie schreibt es Asad in seinem Vorwort zu seiner Koran-Übertragung schön: „seine (des Korans) Betonung der Vernunft als gültigem Weg zum Glauben wie auch sein Beharren auf der Untrennbarkeit der spirituellen und der physischen (und daher auch der gesellschaftlichen) Sphären der menschlichen Existenz“. (Kursivsetzung durch Asad selbst.)

Doch für uns westliche, „modernen“ Menschen ist die Vernunft ein Schneide-Instrument, ein Werkzeug zur Trennung (von wahr und falsch). Doch die „Wahrheit“, wie sie auch in Jesu „wahrlich, wahrlich, ich sage euch“ immer wieder aufscheint, ist eben vielgestaltig, non-linear. Sie ist nicht mit einer einfachen Gleichung oder mit einem empirischen Experiment darzulegen.

Die Wahrheit eines Glaubenden ist selbst in der Vernunft begründet noch ambivalent und mehrgestaltig. Sie hält rationale Ungereimtheiten wie den scheinbaren Gegensatz von „allmächtig“ und „allgütig“ aus.

Die Konstruktion eines strafenden Gottes dagegen versucht dieser Wahrheit einen Schneid zu geben, den sie nicht hat: fordert dort Eindeutigkeit ein, wo die Wahrheit Geduld und Langmut verlangt.

In diesen Momenten – so sehe ich es im Augenblick – ist die Vernunft herausgefordert, die beiden Spiegel (einerseits/andererseits, sowohl/als auch) mit aller Kraft nebeneinander zu halten. Und in dieser Handlung, in diesem Denken eine tiefe Sinnhaftigkeit zu erfahren.