Glaubensworte: verkopft

Seit ich in der Katechese und auch in der liturgischen Arbeit tätig bin, ist ein mir vorher unbekanntes Wort an mich heran getreten. Ein Wort, das mich charakterisieren soll. Es schillert im Graubereich zwischen Achtung und Kritik. Ich sei „verkopft“ heisst es häufig.

Damit soll im Extremfall ausgedrückt werden, ich sei nicht mit „Leib und Seele“ oder noch schöner, nicht mit „Herz und Seele“ dabei. „Verkopft“ kann aber auch meinen, dass ich nicht mit dem Herzen, dem Gefühl, mit Emphase an die theologischen und religiösen Stoffe herangehe, sondern eben: nur mit und über den Kopf.

Diese Aussage wirft in meiner Perspektive auch ein Licht auf diejenigen, die sie tun: wer jemand „Verkopftheit“ vorwirft, fürchtet sich u.U. vor intellektuellen Auseinandersetzungen, vor schwierigen Themen. Ja, vielleicht befürchtet sie oder er sogar, wenn er oder sie nachdächte, verlöre sie etwas von der Tiefe oder Höhe des Glaubens, von seiner Unmittelbarkeit, von seiner Unschuld und Naivität. Was ja auch wiederum bedeutete, dass Glauben etwas für Unschuldige, Naive und Herzliche ist, für „Gefühlige“ und „Gespürige“.

Oh, und hier geht es gar nicht um mich. 

Es geht um das Wort. Und was es bedeutet für unseren Glauben, für unsere Glaubenswelten. Wie es auf und in die Welt wirkt, die wir über unseren Glauben gestalten (können oder könnten).

Verkopfung findet dort statt, wo der Glauben kopfgesteuert, wo der Glauben keine Empfindung oder Haltung, sondern eine blosse ethische oder theologische Reflexion ist. Eine Reflexion zudem, die jeder denkende Mensch nachvollziehen kann, die aber schwer nachzuleben ist. 

Verkopfung ist demnach eine Form von Religiosität und Theologie, die eine Gefahr in sich birgt: die Ablösung des Handelns vom Denken, des Sehens vom Urteilen und daher Handeln. (Die Befreiungstheologie lässt grüssen.)

Ich will diese Gefahr nicht minimieren oder kleinreden.

Nein, ganz unbegründet ist die Angst vor einer überhand nehmenden Rationalität nicht. Immerhin ist die ganze neoliberale Bewegung eine Zahlenquetscher-Bewegung, und wenn man die Welt nur noch kalkulierend wahrnimmt und interpretiert (denn erleben kann man nicht kalkulierend), wird sie das, was sie jetzt ist. 

Aber das wäre Verkopfung oder Verkopftheit falsch verstanden – oder wenigstens nur teilweise.

Die Neoliberalen würden niemals auf die Idee kommen, sich als verkopft zu bezeichnen. Bei ihnen kommt das „aus dem Bauch heraus“, siehe übrigens auch die SVP. (Lese oder verstehe: „aus dem Bauch heraus“ ist „richtiger“ – aber nicht notwendigerweise „wahrer“ – als „aus dem Kopf“.)

Also konzentrieren wir uns doch darauf, was genau diese Menschen sagen wollen, wenn sie jemand als verkopft bezeichnen. 

Denn es geht nicht um die Tiefe des Glaubens allein. Die Tiefe des Glaubens erreichen ja die wenigstens (der Autor mit eingeschlossen), es geht darum, dass Nachdenken nicht nur eine Herausforderung ist, sondern dass im Nachdenken auf einmal Veränderungen nötig werden: wer nachdenkt (und um I-Ah zu zitieren: denken, wenn ihr wisst, was ich meine), lernt Ehrlichkeit sich selbst und anderen gegenüber. 

Ab einem gewissen Moment in der menschlichen Entwicklung ist diese Ehrlichkeit nicht mehr erwünscht, dann funktioniert der von mir so getaufte „Lamborghini-Effekt“ (oder „PS4-Effekt“): Die schillernden Güter der Welt locken zu stark (in unserer hiesigen Wohlstandswelt sowieso), als dass die eigentlichen „Basics“, die Grundprinzipien des Lebens und der Gesellschaft noch funktionierten. 

Zwei Beispiele: 

  • Vor einigen Monaten habe ich zwei Jugendlichen in der S-Bahn zugehört. Der eine der beiden war vollkommen traurig, weil sein Auto in einem unbedenklichen Unfall dennoch zu Schrott gefahren war. Der andere versuchte ihn zu trösten. Dabei fiel einmal der Satz, „Hey, ohne mein Auto bin ich imfall gar nichts, das Auto ist mein Ein-und-Alles.“
  • Bei einer Uebung in der Religionsstunde (5. Klasse) ging es darum, die Liebsten und gleichzeitig auch die für das menschliche Leben wertvollsten Dinger „auf eine Insel“ mitzunehmen. Den Mädchen der Klasse fiel es nicht schwer, die wichtigen Dinge und Personen zu nennen, die sie mitnähmen; die Jungs hingegen nahmen Dinge wie Stromgeneratoren mit, um auf ihrer PS4 spielen zu können, und keine einzige Person. 

Was will ich damit sagen?

Ich glaube, dass der Vorwurf der Verkopfung nur gemacht werden kann, wenn nicht gerne genug „tief“ gedacht wird. Und denken ist im Gegensatz zur weit verbreiteten Vorstellung eine ganzheitliche menschliche Handlung und Haltung: auch die Gefühle spielen da sehr wohl mit, der oben benannte „Bauch“. 

Denken und Fühlen muss eine Einheit sein, die beiden Akte sollen sich ergänzen können. 

Und wenn Denken und Fühlen sich die Hände reichen, entsteht der Impuls zu Veränderung. 

Anders gesagt: Fühlen und Denken gleichzeitig führt zu einem Handeln, das verändern will, ja, weil durchdacht, verändern muss.

Oder, um mit den Worten des italienischen Rappers Lorenzo zu sprechen: 

Cerca di essere uomo prima di essere gente.

Und ich wäre am Ende dieses Blogeintrags fast versucht zu sagen: 

Ich wünsche mir mehr Kopfgeburten, und weniger Bauchgeburten!

Glaubensworte: Annehmen

Es gibt Wörter, die zur fixen Idee werden. Sie lassen nicht mehr los. Einerseits will ich sie immer gebrauchen, immer anwenden; sie sollen alle Bereiche meines Lebens durchdringen. Daraus kann sich andererseits eine Art Hassliebe entwickeln. Der Gebrauch nutzt die Wörter allmählich ab. Sie werden alltäglich. Sind sie dann nicht mehr wirksam? Vielleicht werden sie dann erst recht nötig und benötigt?

Andere Wörter bieten sich von aussen an. Sie sind „Fremdwörter“, weil ich sie zuerst für mich anwenden lernen muss. Lange bleiben sie so: entweder negativ belastet und vorbelastet oder aber unverstanden.

Und irgendwann, urplötzlich scheinbar, sind sie „mein“ geworden. Ich brauche sie dann sehr häufig und sehe hin und wieder die verwunderten Gesichter der andern, die mit ähnlichen „Anfangsvorurteilen“ zu kämpfen haben, wenn sie mich diese Wörter fast schon inflationär gebrauchen hören.

Ein solches Wort ist für mich im Laufe des vergangenen Jahrs „annehmen“ geworden.

Dieses Wort war für mich lange Zeit mit den Gutmenschen verbunden, die ja immer so ach empfindsam, emphatisch und irgendwie unerlaubt offen und akzeptierend sind. (Übrigens heisst das nicht, dass sie tolerant sind; diese Gutmenschen haben genauso ihre Prinzipien wie „unsereins“.)

Das Wort ekelte mich fast an, ähnlich wie dieses andere, von der „Achtsamkeit“.

Es bedeutete mir nichts, weil ich es nicht zu mir liess, nicht zuliess.

Doch irgendwann muss in mir etwas geschehen sein, das dieses Wort in den absoluten Vordergrund meines Denkens und Glaubens gerückt hat.

Ich denke inzwischen, es war meine Beschäftigung mit den letzten Tagen von Dostojewski, die einen ersten Impuls gesetzt hat. Dieser soll nämlich auf seinem Sterbebett gewünscht haben, dass seine Frau aus seiner geliebte „Tobolsker Bibel“ lese. Wie seine Frau berichtete, diente ihm die Bibel oft als eine Art Kompass. Auch auf dem Sterbebett soll das so gewesen sein. Wie durch ein Wunder soll die Stelle im 3. Kapitel des Matthäus-Evangeliums aufgeschlagen worden sein, in der sich Johannes (eine zentrale Figur für Dostojewski, wie ich glaube) weigert, Jesus zu taufen:

 Johannes aber wollte es nicht zulassen und sagte zu ihm: Ich müsste von dir getauft werden, und du kommst zu mir? Jesus antwortete ihm: Lass es nur zu! Denn nur so können wir die Gerechtigkeit ganz erfüllen. Da gab Johannes nach. (Mat 3, 14-15; EÜ)

Dieses Nachgeben, dieses Zulassen, von dem sich Dostojewski angerufen fühlte ­– das ihn aufrief, sein Sterben „anzunehmen“ –, das ist vermutlich die Initialzündung für meine Fetischisierung des Wortes „annehmen“.

Doch was heisst dieses „annehmende“ Leben, diese Lebensweise, die annimmt?

Letzthin musste ich schmunzeln, als ich bei der Vorbereitung einer Religions-Stunde, in der es um die Realisierung von Träumen ging, auf eine Webseite gestossen bin, die in 5 Schritten zur „Verwirklichung des Traums“ zu führen vorgibt.

Und nach dem Schmunzeln musste ich nicken, denn da steht doch tatsächlich jener fast primordiale, alles überscheinende Punkt für meine „Theorie des Annehmens“:

Akzeptiere deine Vergangenheit mit ganzem Herzen

Das ist es ja. Ja, das ist es.

Nur wem es gelingt, seine Vergangenheit mit allem Schönen und vor allem mit allem Scheusslichen und Schuldigen anzunehmen, voll zu dieser Vergangenheit zu stehen – nur diesem ist der Schritt ins Annehmen vergönnt. Wer nicht zu seiner Vergangenheit stehen kann, wer nur einen Teil seiner Vergangenheit – und wenn wir schon dabei sind, auch seiner Gegenwart! – akzeptiert (und den „schlechten“ Rest nur „toleriert“), der wird nie in einen Zustand gelangen, der ihm das Annehmen erlaubt.

Annehmen meint also:

  • Die eigene Identität als einzige, wahrhafte zu verstehen. Es gibt keine andere, imn Abwendung oder im Gegensatz zur jetzt gelebten anzustrebende Identität; wohl aber andere Wege als die bisher eingeschlagenen! – Ich glaube auch, dass dies der einzige Weg ist, sich der Sündhaftigkeit einerseits bewusst zu werden und sie andererseits aus dieser Bewusstheit heraus mindern zu können.
  • Das „Schlechte“, „Böse“ nicht verdrängen, sondern es als Teil von Gottes Welt zu verstehen. Dass „Böses“ und „Schlechtes“ geschieht, vielleicht geschehen muss, so schrecklich dieser Nebensatz ist, gehört zu dieser Schöpfung. Diese „Spiegelungen“ des „Guten“, wie ich sie nennen möchte, diese „Widerbilder“ des Guten entstehen aus der Freiheit heraus, die uns Gott im Anfang geschenkt hat. – Auch das von mir ausgehende Böse und Üble kann ich so erkennen. Es kann jedoch niemals das „Schöne“ und „Gute“ negieren; das wird ihm nur gelingen, wenn ich mich gegen das „Böse“ und „Schlechte“ in und an mir wehre.
  • Annehmen ist weder rückwärtsgewandt noch fatalistisch. Es ermöglicht im Rück- und Jetztblick einen Zukunftsblick und eine Zukunftswelt, die sich vielleicht nicht einmal tiefgreifend verändert hat oder verändern lässt, aber doch eine grössere Freiheit verspricht.

Und dieses Annehmen ist ein ganzheitliches. (Auch dieses „ganzheitlich“ ist so ein Ekelwort wie es das „annehmen“ einmal war…) Es erstreckt sich auf alle Aspekte des eigenen Lebens, der eigenen Person und umfasst sie gleichzeitig.

Aber es ist, und das ist ein wichtiger Punkt, wie alle menschlichen Haltungen und Verhaltensweisen, nicht ein Zustand, der andauert. Es ist eine Haltung, die immer wieder von neuem eingeübt, eingenommen und praktiziert werden muss; und in gewissen Situationen leichter als in anderen fällt.

Mit dem Annehmen ist es letztlich ein wenig wie mit der Nachfolge, diesem hohen Anspruch für jeden Christen: Nachfolge ist ein momentaner und affektgesteuerter Zustand und keine Wesensart. Oder vielleicht doch?