Führe uns…

Führe uns nicht in Sicherheit
Weder Schein noch Stein retten.
Führe uns in Versuchung
Um die Stärke zu glätten
In Schwäche.

Führe uns nicht mit Regeln
Weder Schrift noch Schlag retten.
Führe uns in Versuchung
Um das Gute zu härten
In Schwäche.

Führe uns nicht in Höhen
Weder Steig noch Stab retten.
Führe uns in Versuchung
Um die Angst zu schütten
In Schwäche.

Führe uns nicht mit Mut
Weder Stahl noch Sprung retten.
Führe uns in Versuchung
Um die Gnade zu hüten
In Schwäche.

Führe uns nicht in Wohlstand
Weder Staat noch Stiefel retten.
Führe uns in Versuchung
Um die Vorhaben zu scharten
In Schwäche.

Versuchung

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Beten heisst nicht immer auch verstehen. Die ganze Rätselhaftigkeit des Worts kann sich in einer Sentenz, in einer Phrase verbergen. Obwohl man immer wieder daran stösst, vielleicht nicht einmal mit Unverständnis, sondern bloss mit Erstaunen, dass einem dieses Wort schon wieder fast mühelos über die Lippen gegangen ist, und grade obwohl man keine Handhabe gegen seine Magie findet, bannt es einen in die Haltung eines Kleinkindes, das einen Satz wie aufspürend nachzusagen vermag, noch ganz ohne etwas von seinem Sinn zu verstehen.

Seit Jahren, Jahrzehnten geht es mir so mit dem

Und führe uns nicht in Versuchung

Des Vaterunser. Dieser Satz, direkt nach dem Doppelsatz der Vergebung, irritiert und verwundert. Umso mehr jemand wie mich, der mit Hiob einen guten, ja alltäglichen Umgang pflegt und sich nicht nur betroffen, sondern gemeint weiss in dieser Geschichte.

Wenn ich jedoch darüber nachgedacht habe, schien mir dieser Spruch immer wie ein falscher Spruch, der vermutlich fehlerhaft überliefert wurde oder aber noch ganz im Denken des „ganz andern“ Gottes des Alten Testaments verwurzelt ist: Gott ist derjenige, der in die Versuchung führt?! Gott, so wurde ich gelernt, so habe ich verstanden, so glaube ich, ist das Gute, auch das Prekäre, aber niemals das „Versuchende“.

Es könnte durchaus sein, dass ich oder jemand anderes in einer ähnlichen Lage in eine neue Entwicklungsstufe meines Glaubens hinübergehe, wenn ich diesen Spruch zu begreifen vermag…

Dann bin ich auf Hans Weders „Die „Rede der Reden“. Eine Auslegung der Bergpredigt heute“ gestossen. Und obwohl das Vaterunser aus dieser Rede stammt, schien mir diese Rede bisher immer eine der verbrauchtesten, ja scheinheiligsten Reden der Bibel. Und ich lernte, dass und wie dem nicht so ist.

Ich bin mir dabei nicht sicher, ob ich die Gedankengänge Weders richtig nachvollziehe, aber sie haben mir eine Verständnismöglichkeit eröffnet, die meinen Glauben erweitert hat. So glaube ich wenigstens.

Schon vorher war mir klar, dass die Bitte darum, nicht in Versuchung geführt zu werden, ein Eingeständnis der Schwäche des Betenden ist. Will heissen, der Betende gesteht, dass er vor der Versuchung schwach ist. Und dass er daher lieber nicht in Versuchung geführt werden möchte. Nicht umsonst heisst es ja gleich darauf (wieder eine Doppelforderung, sehr hebräisch-biblisch), man wolle bewahrt werden vor dem Bösen.

Weder nun nimmt genau dieses Konzept der Schwäche auf. Wir sind schwach und daher auf Gottes Stärke und Hilfe angewiesen. Nur wenn wir uns dies bewusst sind, ständig neu bewusst machen, uns in dieser demütigen und ehrlichen Einsicht üben, befähigen wir uns dazu, nicht in Versuchung zu geraten.

Der moderne Mensch (und Weder setzt das „modern“ immer in Anführungszeichen) verlässt sich häufig nicht auf andere, nur auf sich selbst glaubt er zählen zu können. Er hält sich für stark – seines Glückes Schmied. Diese Stärke, und das ist ganz Paulus, ist seine Schwäche, jene Blösse, mit der er sich der Lächerlichkeit und Peinlichkeit (im Sinne des Schmerzlichen der „Pein“) ausliefert – freiwillig und willentlich.

Versuchung wird hier also als der Moment gedacht, in dem der Mensch sich stark glaubt. Er verlässt sich auf nichts, nämlich auf sich selbst.

Das Nichts aber, wie das Böse, hat keine „Eigenständigkeit“ (Weder). Es ist – „nichts“. Verlässt man sich also auf „nichts“ (und daher nur auf sich), riskiert man, „den Teufel mit dem Beelzebub austreiben“ zu wollen:

In dieser Situation der Versuchung erinnert die Bitte im Unser Vater daran, dass ich nicht mich selbst gegen das Böse aufbieten kann, sondern dass gegen das Vernichtende nur der schöpferische Gott aufzubieten ist.

Folgt man Weders Gedanken, so ist die uns von Gott in Freiheit zugestandene Liebe gerade der Ort, an dem wir in Versuchung geführt werden. Sie lässt ja gerade „Raum für das Sich-Verlassen auf das Nichts“:

Sie kann nicht ausschliessen, dass ich mich auf meine Stärke mehr verlasse als auf sie. Würde sie das ausschliessen, wäre sie selbst zur Stärke degeneriert. (Hervorhebung von mir)

In dieser Freiheit durch Liebe muss es das Ziel des Betenden also sein, sich hin zu dem Ort zu bewegen, „wo er sich im Kampf gegen das Böse auf Gott verlässt“.

Und noch etwas verstehe ich damit: Alles Beten ist Bewegung, Bewegung hin zu Gott.

Weder behauptet in seiner Auslegung letztlich, dass es nicht um die Hineinführung in die Versuchung gehe, sondern um die Herausführung aus ihr.

Damit aber behält die Bitte weiterhin ihren bitteren Beigeschmack der „Prüfung“ durch Gott, nicht wahr?

Obwohl dies eine Möglichkeit ist, bin ich mir nicht mehr sicher: Das „Führe uns nicht“ ist vermutlich einfach vorauseilendes Eingeständnis der eigenen Schwäche, die sich (manchmal) stark genug glaubt, alles selbst bestehen zu können. Als Eingeständnis ist sie auch ein Zugeständnis an Gottes (rettenden) Beistand in dieser Gefährdung durch Selbstsicherheit.

Vielleicht geht es nur darum, und nicht um die Probe, den Test, den man uns immer wieder einbläuen wollte von kirchlicher Seite her…

Ich habe einiges verstanden, aber es bleibt für mich auf Messers Schneide. Vielleicht muss diese Deutung in mir noch reifen, noch wahrer, gelebter werden. Geholfen hat es mir letzthin, als ich in einem Nachtgebet des Te Deum (September-Ausgabe) diese schwierig zu deutende Bitte sogar dahin gewendet sah, dass sie um das „nichts“ gekürzt wird:

Führe uns in der Versuchung
damit wir auf deinem Weg bleiben

Quellen:

  • Hans Weder: Die „Rede der Reden“. Eine Auslegung der Bergpredigt heute, TVZ (5) 2003; S. 190-193.
  • Te Deum, Klosterverlag Maria Laach, September 2016.