Demenz: Person und Fremdbestimmung

Seit gut drei Jahren ist mein Vater nun schon an Alzheimer erkrankt. In diesem Jahr war er bereits dreimal im Krankenhaus, wegen Stürzen und Krankheit. Beim dritten Mal wurde er nun vom Spital als „fremdaggressiv“ diagnostiziert und in eine psychiatrische Anstalt überwiesen. Dort soll er „stabilisiert“ und „richtig eingestellt“ werden. Laut den Ärzten könne das zwei bis drei Wochen dauern. Im Anschluss würde mein Vater in ein Alters- und Pflegeheim überstellt, das eine Demenz-Abteilung hat.

Seit dem Eintritt in die psychiatrische Klinik hat sich die geistige Situation meines Vaters rapide und drastisch verschlechtert, die „Fremdaggression“ ist jetzt ausgeprägter. Das heisst, er reagiert auf alles Fremde (Mensch oder Ding) mit Aggression(en). Er versteht seine Situation nicht, vermag seinen Aufenthalts-Ort auch nicht zu begreifen; er weiss nicht, warum er in der Klinik ist. Die alten Menschen mit Demenz, die auf seiner Station eingewiesen sind, unterscheiden sich von ihm selbst nur darin, inwiefern sie ihrer eigenen Person noch zeitweise habhaft werden können.

In der Woche seit seiner Einweisung fiel die Person meines Vaters zunehmend auseinander. Seine Wünsche und Bedürfnisse werden kaum noch geachtet. Sei gelten nichts mehr, gelten nicht mehr als die flüchtigen Illusionen eines halluzinierenden Gehirns; Illusionen, die keinen Stand mehr in der Wirklichkeit, in der Möglichkeit der Verwirklichung haben dürfen, wie es mir scheint. (In einem Gespräch hat er mir z.B. gesagt, er würde gerne noch einmal mit mir und seiner Frau durch den Herbstwald spazieren. Dass er von „noch einmal“ gesprochen hat, scheint mir ein Zeichen dafür zu sein, dass er sich seiner endlichen und unausweichlichen Demise bewusst ist.)

In den Augen der Psychiater ist mein Vater keine rechtliche Person mehr, weil er seine (eigenen) Rechte und Pflichten nicht mehr wahrnehmen kann; er ist nicht mehr urteilsfähig. Das ermächtigt sie dazu, über seine Art zu leben (und zu sterben) zu entscheiden. Durch diese Macht sind die Angehörigen, zuvörderst meine Mutter, ebenfalls in gewissem Sinne entmächtigt worden. Für meinen Vater ist die Fremdbestimmung total.

Dass sie dies (zu seinem eigenen und anderer Schutze) sein muss, liegt u.a. daran, dass mein Vater seine Person immer weiter verliert. „Die Person als unteilbare Substanz eines vernünftigen Wesens“, wie sie Boethius definierte, kommt ihm im Laufe seiner unweigerlich und unhinderbar fortschreitenden Krankheit abhanden. Zwar nimmt er sich weiterhin als ein „Ich“ wahr, kanns ich dieses Ich (mit Kant zu sprechen) vorstellen und erhebt sich damit über Steine, dennoch hat er keinen Zugriff auf die Realität mehr. (In einem Gespräch mit einem untersuchenden Arzt hatte er genau diese Frage gestellt: „Ja, was ist denn Realität?“ Es hatte die Zuhörenden alle erstaunt und sie zum Lächeln gebracht, selbst den Arzt.)

Mit Zugriff auf die Realität meine ich letztlich, dass er sich nicht mehr orientieren kann. Seine Weltsicht ist dadurch schwankend und unsicher geworden. Was er wahrnimmt, kann er vermutlich noch beurteilen, einordnen. Aber er verliert in gewisser Weise das Wissen vom Handeln, von den Folgen des Handelns. Auf das Einordnen folgt keine Handlung; das Erkennen ist nicht mehr direkt mit dem Folgern verbunden.

Noch blitzen wohl Teile seiner Person auf. So, wenn er plötzlich in Gedichtrezitation ausbricht. Oder wenn er in eine altbekannte Tirade gegen die anderen ausbricht. (In letzterer zeigt sich die Einsamkeit und bewusste Entfremdung von seinem oder gar einem gesellschaftlichen Leben, wie es z.B. mit Freunden möglich ist.) Doch sehe ich gut, wie seine Äusserungen von äusserlichen Reizen angestossen werden, – wie der herbstschöne Jura vor den Fenstern der Klinik den Gedanken an einen Herbstspaziergang im Wald hervorrufen kann. Die Reize wecken Wünsche, deren unmögliche Verwirklichung ihm nicht bewusst ist.
Dennoch frage ich mich, und es ist eine allseits schmerzliche Frage, die sich jeder Angehörigen eines dementen Menschen stellt, mit welchem Recht mein Vater in so kurzer Zeit entmündigt wurde, entmündigt werden musste (zu seinem und meiner Mutter Schutze).

Äussert er doch mit einiger Dringlichkeit zum Beispiel den Wunsch, meine Mutter zu sehen, weint, wenn sie kommt vor Freude oder Erlösung, will mit ihr nach Hause.

Allen ist klar, dass das nicht möglich ist (ausser ihm). Dennoch: ist dies nicht ein letzter Teil seiner Person, aus den 50 Jahren Eheleben mit meiner Mutter gewonnen? Ein letzter Teil seiner Person, der unbedingt respektiert und gewürdigt werden sollte?

Selbst dieser innigste, ja zutiefst menschliche Wunsch eines dementen Menschen muss ignoriert werden, als handelte es sich dabei um ein unvernünftiges Kind, das immer wieder Ausflüchte und Ausreden findet, um noch ein weniger aufbleiben zu dürfen?

Für Tausende von Menschen mit Alzheimer und Demenz gilt das Recht auf Selbstbestimmung nicht mehr, das wir in unserer Gesellschaft fast zu einem Gott erhoben haben (man denke nur an die Sterbehilfe-Organisationen). Schleichend haben sie dieses Recht ohne eigene Schuld eingebüsst, wird es ihnen allmählich entzogen. Mit ihnen verlieren es auch in gewissem Masse die Angehörigen: jetzt entscheiden Fachleute (die Ärzte) über ihr eigenes Schicksal und das ihrer Liebsten.
Und mit der Selbstbestimmung verlieren sie auch den letzten Rest an menschlicher Würde.

Ich sehe meinen Vater auf der Schwelle seines Zimmers stehen, mit einem grossen Schmerz im Gesicht, der halb aus Unverstehen stammt, leicht vornübergebeugt, als müsse er gleich losrennen, um uns einzuholen, die Hände hängen an seiner Seite hinunter, ein Abschied ist nicht möglich. Er versteht nicht, wohin wir gehen, warum wir gehen müssen. Es ist ihm nicht mitzuteilen. Die wenigen Augaufschlänge lang, da er durch uns wieder weiss, wer er ist, sind vergangen.

Ist er denn nur noch eine Art von Körpermaschine, der man keine Person zugestehen vermag, ein Insekt, das man lenkt? Sein ganzes Gesicht erzählt noch von ihm, seine Stimme, seine Bewegungen, aber seine Person ist zerfallen.

Verfügt er wirklich über keine Person mehr?

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Danke an geralt für das Foto.

Glauben ohne Konfession IX: Perfektibilität

Das jüdisch-christliche Denken beheimatet ein wundervolles, aber furchtbares Paradox. Ich möchte es hier „die Aufgabe des rechten Weges“ nennen.

Dieses Paradox hat einerseits mit der gottgeschenkten und gottgewünschten (Entscheidungs-) Freiheit des Menschen zu tun. Denn auch wenn die Heilige sich vermutlich gewünscht hätte, wir würden die Unterscheidung von Gut und Böse nicht kennen und lernen, so hat sie uns die Wahl gelassen. Der Mensch ist frei, sich für einen eigenen (womöglich auch: individuellen) Weg zu entscheiden, unabhängig von den Ge- und Verboten, die von der Heiligen ausgehen. (Diese Ge- und Verbote stammen aus der Einsicht in die Folgen des Guten, die Adonaj als einziger und erster Schöpfer besitzt.)

Die andere Medaillenseite des Paradoxes ist bereits angesprochen: Es gibt einen klaren, für jeden empfindenden, achtsamen und denkenden Menschen einsichtigen Weg des Guten. (Navajos nennen ihn den „Pollenpfad“, Lakota haben ihn „den guten, roten Weg“ genannt.) Doch das Gehen auf diesem Weg verlangt uns Menschen meistens eine Einschränkung, zumindest aber Geduld und Demut ab – im Gegensatz zu den durch die geschenkte Freiheit geforderten Instanzen von Entwicklung, Leistung und Machbarkeit.

Einschränkungen: Das Wissen um Zu- und Umstände in Welt, Natur und Gesellschaft, und die Einsicht in dieselben Um- und Zustände macht ein Handeln gegen bestehende Logiken, Paradigmen und Prozesse, die den Status quo verstärken oder verewigen, ethisch unumgänglich, ethisch unausweichlich.
Im Wissen und in der Einsicht in die Prozesse der anthropogenen (menschgemachten) Erderwärmung kann ich als Mensch nicht anders, als mich weiterer fossiler Mobilität oder dem Konsum von industriellem Fleisch zu verweigern; mich also einschränken, bescheiden, um auf dem „guten Weg“ zu bleiben, auf den die Schriften der Offenbarung und die Mythen und Traditionen der indigenen Völker weltweit nimmer müde werden hinzuweisen.

Was heisst „Perfektibilität“?

Dieses hier umrissene Paradox lässt sich gut mit dem Begriff der „Perfektibilität“ beispielhaft ausführen.
Eine gute Definition des Begriffes finde ich in meinem „Wörterbuch der philosophischen Begriffe“. Unter dem Stichwort „Perfektionismus, auch Perfektibilismus, frz. perfectibilite Vervollkommnungsfähigkeit“ heisst es dort:

… eine Richtung des aufklärerischen Geschichtsdenkens, besonders in Frankreich, die im gleichmässigen Fortschritt zu immer grösserer Vollkommenheit der Menschheit als Gattung den Sinn der Geschichte sieht…

Wörterbuch der philosophischen Begriffe

Diese Denkrichtung sieht also die Aufgabe des Menschen in seiner Vervollkommnung; dabei blickt sie durchaus positivistisch / materialistisch auf eine industriell zu deutende Entwicklung, die im Denken der Aufklärung ja auch der gesamten Menschheit zum Wohle dienen, auch im Sinne des „trickle-down“-Effekts den Armen und Ärmsten dieser Welt zugute kommen sollte.

Als von der Rousseau-Lektüre ebenso wie von der Nietzsche-Lektüre geprägter Denker kommt hier fast notwendigerweise Rousseaus visionär früher Widerstand gegen industriellen und kulturellen Fortschritt. Visionär deshalb, weil Rousseau den Urzeitmenschen, den „homme solitaire“ aufs Podest erhebt als die vollkommenste Form des Menschseins. Und die heutige Archäo-Anthropologie hat ihm inzwischen mit wissenschaftlichen Indizien und Funden recht gegeben: Die Jäger und Sammler des Paläolithikums waren Menschen, die Musse kannten und keinen Hunger oder dauernde Notlage; auch von Zoonosen ausgelöste Epidemien waren ihnen unbekannt.

Für Rousseau ist diese Perfektibilität, die im Menschen angelegt ist, der eigentliche Ursprung des Sündenfalls.

In meiner Lesart ist die Perfektibilität dabei mit der gottgeschenkten Freiheit identisch, die uns die eigenen Fähigkeiten und damit Möglichkeiten der Entwicklung nicht nur erkennen, sondern auch verwirklichen wollen lässt. Diese in dem Menschen inhärente Dimension von aktualisierbarer Potenz führt zum modernen Denken der Machbarkeit: Was denkbar ist, kann auch gemacht werden, und weil es gemacht werden kann (möglich ist), muss es auch gemacht (realisiert) werden.

Zusammenfassend liesse sich sagen, die Perfektibilität ist jener Bereich der menschlichen Freiheitswürde, der den Menschen am stärksten in den Abgrund der Hybris, des Hochmuts, der ersehnten Gottähnlichkeit führt.

„Alles entartet unter den Händen des Menschen“

Der erste Satz in Rousseaus Erziehungsbibel „Emile oder Von der Erziehung“ drückt bereits diesen tief sitzenden Zweifel an der Moderne aus:

Alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers hervorgeht, alles entartet unter den Händen des Menschen.

Jean-Jacques Rousseau, Emile oder Von der Erziehung, 1762.

Diese skeptische Haltung hat erstaunliche positive Bewegungen hervorgebracht, ob in der Erziehung / Erziehungswissenschaft oder in der Philosophie. Das Rousseausche Denken sieht den Menschen als Ganzes, als Gesamtheit, vielleicht sogar als „von Natur aus vollkommen“ an. Rousseau will den Menschen nicht einschränken, sondern ihn auf diese gute, von der Gütigen vorgesehene und gewünschte Bahn lenken. So ist die handwerkliche Fähigkeit eine wesentliche Eigenschaft, die den Menschen zu einer Schöpfung führt, solange diese im Einklang mit der Natur steht. (Und gerade die handwerklichen Fähigkeiten und Berufe verkümmern immer mehr in unserer modernen Gesellschaft!)

Für Rousseau ist der Weg der Natur oder der Natürlichkeit jener Pfad, den der aufgeklärte Mensch aus der Einsicht in seine Gattungsart zu gehen hätte. Denn natürlicherweise würde der Mensch das Gute suchen, folgte er nur seinem ersten Impuls. Die Gesellschaft und die Kultur aber fälschen den Menschen, lassen ihn „degenerieren“.

Obwohl dieser Begriff der „Entartung“ vor allem durch die Ideologie der Nazis beschmutzt und fast unbenutzbar gemacht worden ist (Stichwort „entartete Kunst“), zeigt er gut auf, was Rousseau im tiefen Wortsinn meint: der Mensch folgt nicht mehr den ursprünglichen Impulsen (Instinkten?) seiner Gattung (seines Genus, seiner Art), sondern will sich und die Welt mit sich umgestalten, entwickeln.

Das technokratische Paradigma laut Papst Franziskus

Diese Reflexion wurde gestern von dem Schreiben „Laudate Deum“ von Papst Franziskus angestossen, reaktiviert. Schon in seiner Enzyklika „Laudato si“ hatte er das Thema des Klimawandels explizit und ausführlich thematisiert. Darin hatte er bereits das technokratische Paradigma unserer Zeit angesprochen und angeprangert:

Nie hatte die Menschheit so viel Macht über sich selbst, und nichts kann garantieren, dass sie diese gut gebrauchen wird, vor allem wenn man bedenkt, in welcher Weise sie sich gerade ihrer bedient.

LS, 109

Franziskus leugnet keineswegs die vielen Vorzüge, die Technik und Forschung für die Menschheit bewirkt haben. Doch er betont wiederholt, dass die Abschätzung der Folgen von technischen Neuerungen und Forschungserfolgen in Hinblick auf eine ganzheitliche Sicht auf Mensch und Umwelt meist ausbleiben oder ignoriert werden. In seiner Lesart verstärkt sich das technokratische Paradigma wie eine selbsterfüllende Prophezeihung. So weit, dass jetzt auch nur nach technischen bzw. technologischen Mitteln für die Bekämpfung der Erderwärmung gesucht und geworben wird – statt sich auf die Lehren von indigenen Völkern zu besinnen; doch dazu später.

Franziskus schreibt in Laudate Deum:

Während der vergangenen Jahre haben wir diese Diagnose bestätigen können und zugleich ein weiteres Fortschreiten dieses Paradigmas erlebt. Die künstliche Intelligenz und die jüngsten technologischen Neuerungen gehen von der Vorstellung eines menschen ohne jegliche Grenzen aus, dessen Fähigkeiten und Möglichkeiten dank der Technologie bis ins Unendliche erweitert werden können. So nährt sich das technokratische Paradigma in ungeheurer Weise von sich selbst.

Laudate Deum, 21.

Und er hält klar fest:

… das grösste Problem ist die Ideologie, der eine Besessenheit zugrunde liegt: Die menschliche Macht über alles Vorstellbare hinaus zu steigern, für die nicht-menschliche Wirklichkeit nur eine Ressource zu ihren Diensten ist. Alles, was existiert, hört auf, ein Geschenk zu sein, das man würdigt, schätzt und pflegt, und wird zu einem Sklaven, zum Opfer einer beliebigen Laune des menschlichen Geistes und seiner Fähigkeiten.

Laudate Deum, 22.

In meinen Augen steht der Begriff des „technokratischen Paradigmas“ genau für die Auswirkungen der dem Menschen geschenkten Perfektibilität.

Wechsel-Beziehungen und Verbundenheit vs. Kannibalismus

Als Argentinier kennt der Papst die bedrohte Lebensweise seiner Mitmenschen, der indigenen Völker. Diese können immer weniger nach ihren eigenen Wegen und Haltungen leben und schöpfen, weil sie vom technokratischen Paradigma entrechtet, entwürdigt und entmachtet weren.

Indigene Völker von Papua Neuguinea über die Mongolei, von Kanadas Inuit über die Native People Nordamerikas bis zu den Ur-Peruanern, Ur-Mexikanern, etc: alle diese Völker versuchen immer noch verzweifelt, in diesem Einklang mit der Natur zu leben und schaffen, den ich als die Haltung der „Wechsel-Beziehungen“ oder „Verbundenheit“ bezeichnen möchte.

Diese Haltung der Zwischen-Verbundenheit steht laut Jack D. Forbes im Gegensatz zum „Kannibalismus“ der westlichen Moderne. Forbes hat den Begriff des Kannibalismus verwendet, um mit brutaler Deutlichkeit die nicht-nachhaltige, ausbeuterische-konsumistische Natur des Kapitalismus-Imperialismus-Kolonialismus zu veranschaulichen.

Ein Kannibale / eine Kannibalin ist demnach eine Person, die das Wahnsinn verfallen ist: Eine Person, die Ressourcen und Lebewesen einzig zu ihren eigenen Gunsten ausnützt, ohne an die Folgen dieser Versklavung und Ausbeutung, dieses Vampirismus zu denken:

Kannibalismus, wie ich es definiere, ist das Verzehren eines anderen Lebens für den eigenen Zweck und Gewinn.

Jack D. Forbes, Columbus and other Cannibals, 1992 / 2008.

Gegen dieses herrschende und versklavende, opfernde Paradigma hält Forbes die Haltung der Zwischen-Verbundenheit, der Zwischen-Beziehungen:

Der Pollenpfad und der rote Weg führen zu einem in einer heiligen Weise gelebten Leben, das sich dauernd der Wechsel-Beziehungen aller Lebensformen achtsam bewusst ist.

Jack D. Forbes, Columbus and other Cannibals, 1992 / 2008. Hier gebraucht Forbes den Begriff „inter-relationship“, den ich mit „Wechselbeziehungen“ übersetze.

Demut statt Hochmut

Je länger ich mich mit diesem Themenkomplex befasse, desto klarer wird mir, wie unentwirrbar und unentrinnbar ich selbst als privilegierter weisser Mann mit dieser Pefektibilität und diesem technokratischen Paradigma verstrickt bin – und davon profitiert habe und profitiere.
Vor diesem hier skizzierten Hintergrund verspüre ich eine grosse Sehnsucht nach Geduld und Demut, verstehe den heiligen Grund und die heiligende Wirkung dieser beiden Tugend-Mächte.

Ich möchte zum Schluss sowohl Forbes als auch Franziskus das Thema der Perfektibilität nochmals verdeutlichen lassen. Denn die Verfolgung der Verbesserungsmöglichkeit des Menschen hat uns nicht nur aus dem Paradies (und dem Paläolithikum) gewiesen – und ist unsere eigentliche Ursünde -, sondern hat uns eine Welt schaffen lassen, die uns selbst zerstört.

Diese Demut des Native American ist eine Demut, die auf dem Bewusstsein und Wissen von der eigenen Schwäche gründet, aber auch auf dem Bewusstsein, nur ein einzelnes Mitglied einer riesigen universalen Familie zu sein. Mit dieser Art von Demut kommt auch die Achtung vor dem Leben und den Träumen der anderen Geschöpfe.

Jack D. Forbes, Columbus and other Cannibals, 1992 / 2008.

Und während Forbes von der Krankheit namens „wetiko“ spricht, schreibt Franziskus ganz ähnlich:

Der Mensch ist nicht völlig autonom. Seine Freiheit wird krank, wenn sie sich den blinden Kräften des Unbewussten, der unmittelbaren Bedürfnisse, des Egoismus und der Gewalt überlässt. In diesem Sinne ist er seiner eigenen Macht, die weiter wächst, ungeschützt ausgesetzt, ohne die Mittel zu haben, sie zu kontrollieren. Er mag über oberflächliche Mechanismen verfügen, doch wir können feststellen, dass er heute keine solide Ethik, keine Kultur und Spiritualität besitzt, die ihm wirklich Grenzen setzen und ihn in einer klaren Selbstbeschränkung zügeln.

Laudato si, 105.

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Mit Dank an _Marion für das schöne Bild.

Gut essen und gut leiden: Agonie und Narkose

So sehe ich nun das für gut an, dass es fein sei, wenn man gut isst und trinkt und gutes Mutes ist in aller Arbeit, die einer tut unter der Sonne sein Leben lang, das Gott ihm gibt; denn das ist sein Teil.

Prediger 5, 17; Lutherbibel

Diese fast schon widerständige Behauptung von Lebensfreude im Angesicht von Leid und Unglück, die dem Prediger eigen ist, sie ist für mich eine Art Glaubenssatz geworden für ein gutes Leben.

Darum lobte ich die Freude, dass der Mensch nichts Besseres hat unter der Sonne denn essen und trinken und fröhlich sein; und solches werde ihm von der Arbeit sein Leben lang, das ihm Gott gibt unter der Sonne.

Prediger 8, 15; Lutherbibel

Dieser ermutigende Gesang ist eine Bejahung von Lebensfreude im Wissen darum, dass „dem Gerechten wie dem Gottlosen, dem Guten und Reinen wie dem Unreinen“ dasselbe begegnet und geschieht. Denn „dass es einem geschieht wie dem andern“, „das ist ein böses Ding unter allem“, – „daher auch das Herz des Menschen voll Arges wird“.

Darum merkte ich, dass nichts Besseres darin ist denn fröhlich sein und sich gütlich tun in seinem Leben. / Denn ein jeglicher Mensch, der da ist und trinkt und hat guten Mut in aller seiner Arbeit, das ist eine Gabe Gottes.

Prediger 3, 12f.; Lutherbibel

Die Weisheit des Predigers liegt also darin, erkannt zu haben, welche Haltung einem gelingenden Leben zugrunde liegt. Eingesehen zu haben, dass Harm und Schuld angesichts der Ungerechtigkeit in Gesellschaft und Geschichte wie auch im eigenen Leben keine tragenden Gefühle sind, ja: sein dürfen. Dass Ohnmacht und Zorn keine Antworten sein dürfen. Dass Mitleiden am Leiden in und an der Welt nichts ändern wird.
Dieses Gegeneinanderhalten, das kein Gegeneinander-Aufwägen, sondern ein Annehmen ist, eben: ein Einsehen, ein Belehrtsein, ist für den Prediger Anlass für eine Rückkehr und eine Konzentration auf das Einzige, was du mehr oder minder wirklich bestimmen kannst: auf dein eigenes Wohlbefinden und Wohlergehen, auf deine eigene Lebenshaltung.
Um es mit anderen Worten zu sagen, wie sie sich Dorothee Sölle in „Mystik und Widerstand“ von Reinhold Schneider borgt und wiederverwendet: Unser Leben pendelt zwischen Agonie – dem Mitleiden und Daran-Leiden und der Ohmacht oder Wehrlosigkeit – und der Narkose – dem Wegschauen, dem Für-sich-Schauen und -Sorgen, der konsumistischen selbstbefriedigender Gleichgültigkeit.
Die Haltung des Predigers gründet in meinen Augen jedoch nicht auf Gleichgültigkeit, sondern auf Gleichmut. Um diese Haltung mit den Worten des Grimmschen Wörterbuchs zu fassen:

fast ausschliesslich als bezeichnung einer gleich bleibenden seelischen verfassung, eine gleichmäszig festen haltung im sinne der gelassenheit…, als bezeichnung angemessener, maszvoller, gleichbleibender haltung oder gesinnung, die frei ist von überheblichkeit…

Grimm 1984 VII, 8174 ff.

Diese ideale „verfassung“ ist kein Desinteresse, kein fehlendes Engagement; sie ist eine „gesinnung“, die das Gute wie das Böse, Wohlergehen und Leid zusammendenkt, sich gleichzeitig auch nie an die Extreme kettet, sondern das „falsche Denken“ des Dualismus als Trugschluss liest: zwischen Gut und Böse, Leiden und Wohlergehen all die millionen Abstufungen und Facetten sieht oder weiss, und aus diesem Wissen vom Werten absieht, und aus diesem Wissen heraus betrachtet, mitfühlt und gegebenenfalls handelt.


Exkurs: Mitleiden oder Mitfühlen?

Wenn sie andere leiden sieht, so leidet sie mit„: ein schöner Beispielsatz aus dem Duden-Wörterbuch, der mir einen schönen Einstieg in diesen für mich schon längst notwendig gewordenen Exkurs erlaubt.
Denn ein Merkmal des Leidens ist die Ohnmacht, das Versiegen der Hoffnung: Leiden entfremdet, entmenschlicht, schwächt und stumpft ab.
Wenn ich ein Lebewesen leiden sehe und mitleide, so laufe ich Gefahr, selbst vom Leiden entmündigt und entmächtigt zu werden.
Wer mitleidet, ist unfähig zu Trost und Hilfe.
Wer jedoch mitfühlt – „am fühlen jemandes teilnehmen“ (Grimm 1984 XII, 2343), – nimmt zwar Anteil an diesem Gefühl, an diesem Zustand, wird aber nicht in dessen Sog hineingezogen, bleibt also handlungsfähig, trost- und hilfsbereit.

Für dich mag das jetzt ein wenig linguistische Akrobatik sein, du denkst: „also ich brauche die beiden Begriffe gleichberechtigt“ oder „also ich sehe den Unterschied zwischen den beiden Begriffen nicht“.

Lass dir also den Unterschied erzählen: Ich war immer wieder in Situationen präsent, da jemand litt (seelisch oder physisch), jedes Mal fühlte ich mich ohnmächtig und hilflos, weil das mitgelittene Leiden mein ganzes Handeln blockierte. Ich stand mit hängenden Händen und hängendem Kopf machtlos neben der leidenen Person. Ich schwankte zwischen Hysterie und Kreislaufzusammenbruch. Ich war keinerlei Hilfe; oft musste mir (auch noch) geholfen werden.
Vor einigen Jahren dann begriff ich zum ersten Mal angesichts meines eigenen, persönlichen Leidens, dass Mitleiden keinen Trost und keine Hilfe bietet: wie verkrüppelt, trostlos und ratlos sassen meine liebsten Menschen an meinem Spitalbett und vergrösserten nur meine Schwäche, liessen mich (ohne böse Absicht!) inmeinem Erstaunen und meiner Furcht allein. (Allerdings nicht die Kinder…)
Seither weiss ich: Mitfühlen lässt dir die Kraft zum Trost und zur Hilfe, Mitleiden lässt dich selbst in die Ohnmacht sinken.
Eine mitfühlende Person sieht das Leben in der Gesamtsicht, eine mitleidende Person sieht nur den Ausschnitt des Lebens, in dem Leid(en) geschieht – und verlängert dessen Dauer, verstetigt dessen Präsenz im Leben.
Und natürlich denke ich nicht zuletzt an die Überlegungen von Prousts Ich-Erzähler, wenn er über die Metaphorik der Caritas Giottos nachdenkt:

Wenn ich später im Laufe meines Lebens beispielsweise in einem Kloster Gelegenheit bekam, wahrhaft heiligen Verkörperungen der tätigen Barmherzigkeit zu begegnen, hatten sie im allgemeinen den rüstigen, nüchternen, unbeteiligten und kurzangebundenen Ausdruck eines überbeanspruchten Chirurgen, jenes Gesicht, in dem nichts von Mitgefühl zu lesen ist, keinerlei Ergriffenheit angesichts menschlichen Leidens, keine Furcht, daran zu rühren, und ebendas ist das Gesicht ohne Sanftmut, das unsympathische und erhabene Gesicht der wahren Güte.

Proust Reclam 2020, 119

Doch die Grossartigkeit und Vielfalt der Bibel bietet genau diesen ständigen Perspektivenwechsel, der den Dualismus überwindet. So wie keine Offenbarung endgültig ist, so ist auch keine Einsicht abschliessend.
Wie gross war mein Erstaunen, als ich im 2. Kapitel des Buchs der Weisheit auf eine ironische Spiegelung der Haltung des Predigers stiess. Dort legen die „Gottlosen“ ihre Überzeugung mit grosser Sprachkraft, ja fast mit der Verve des Psalmisten oder des Predigers dar. Es ist eine Freude, diesen Text entdeckt und gelesen zu haben. Denn auf einmal kommt hier das „häwäl“ des Predigers, das „Haschen nach Wind“, das Einsehen der Vergeblichkeit menschlichen Strebens und Webens, aus dem Mund seiner „Gegner“. Was vorher so glaubwürdig und einsichtig geklungen hat, ist nun trügerische, törichte Rede.
So sagen die Gottlosen:

Kommt also! Lasst uns geniessen, was es Gutes gibt! Lasst uns die Schöpfung in vollen Zügen auskosten, wie in der Jugendzeit; kostbaren Wein in Hülle und Fülle – und keine Frühlingsblume soll uns entgehen! Bekränzen wir uns mit Rosen, ehe sie verblühen! Keine Wiese soll von unserem Treiben unbehelligt bleiben, überall wollen wir Zeichen der Fröhlichkeit hinterlassen; denn das ist unser Anteil und unser Los.

Weis 2, 6-9; BigS

Obwohl in diesem Text, der durchaus als Verspottung zu lesen ist, sogar die Formulierungen des Predigers gespiegelt werden („denn das ist unser Anteil“), wird der Lesenden bald deutlich, dass es hier um ein ausgelassenes Prassen, nicht um ein geniessend-genügsames Essen und Trinken geht. Ich sehe hier vor meinem inneren Auge die Bilder von den Wiesen, auf denen die Gäste eines Open-Air-Festivals gefeiert haben und nach der Feier ohne Aufzuräumen abgezogen sind… Hier handelt es sich um ein gänzlich anderes Fröhlichsein, um ein gänzlich anderes Geniessen des Lebens, und das wird gleich im darauffolgenden Absatz klar:

Lasst uns die Aufrechten unterdrücken, Witwen nicht schonen und die grauen Haare alter Männer nicht scheuen! Unsere Kraft bestimme, was Gerechtigkeit sei! Denn alles Schwache erweist sich als unbrauchbar.

Weis 2, 10f.; BigS


Und schon befinden wir uns wieder mitten im Zentrum der Anfrage, die ich mir in diesem Text zu erwägen vorgenommen habe: Wie verhalte ich mich als Glaubender nicht nur im eigenen Leid, sondern auch im Falle fremden, weitaus schlimmeren Leids, das zu lindern fast unmöglich scheint und meine Kräfte übersteigt? Und wie verbinde ich meinen Wunsch nach einem guten, gelingend-geniessenden Leben damit?
Es ist mir unmöglich, das Leider einer jungen beschnittenen Frau auch nur in Ansätzen zu verstehen oder nachzuvollziehen; genauso wie ich mich unfähig fühle, das Leiden der vergewaltigten Frauen in der Ukraine, in der Region Tigrai in Äthiopien oder in Syrien zu lindern.

Gewiss, ich kann immer noch Zuflucht zur Narkose nehmen, mich betäuben im Wohlleben und Wohlstand der Schweiz, mich in der Völlerei suhlen, im schlimmsten Fall gar in die beelendende Haltung der Alkhol- oder Drogensucht verfallen, um nicht leiden oder fühlen zu müssen, was mich doch betreffen muss. Ich kann bewusst wegschauen, die Konfrontation mit dem Leiden des „Gottesknechts“ (Jesaja) verdrängen, doch wird es sich dabei immer nur um eine Herauszögerung handeln, um eine unmögliche Abwehr.

Gleichzeitig bin ich überzeugt, dass die entgegengesetzte Haltung, die Agonie, eine ebenso ausweglose ist. Ausweglos, weil ich mich in ein Mitleiden begebe, das mich genauso lähmt wie die Leidenden. Ausweglos, weil im Mitleiden noch nicht geholfen ist. Die Handlungslähmung, welche die Agonie in meinen Augen ist, führt mich nicht in den Widerstand, sondern in die Wehrlosigkeit. (Immerhin lässt sich aber das Wort Agonie verbinden mit dem hellenistischen Streitgespräch, Agon, das auch ein musischer oder sportlicher Wettkampf sein konnte.)

Letztlich musst du selbst eine Gewissenslösung finden angesichts der Entfremdung und Entmenschlichung der Welt.

Ich persönlich nehme das Schwanken zischen den beiden Polen an, stehe zu diesem Schwanken, dieser Unentschlossenheit. Ich verstehe den Menschen nicht als ein Lebewesen, das die Extreme lange aushält, sondern als eines, das sich im Zwischendrin, im Beinahe, im Geradeso, im Schattenreich des Unentschieden-Schwankenden heimisch fühlt. Um jedoch immer wieder ins grelle Licht oder in die blendende Dunkelheit zu treten, um seine Ohnmacht und Schwäche mit einer zeichenmächtigen Tat aufzuheben und zu versinnbildlichen.


(Das Bild der Caritas aus der Cappella degli Scrovegni, entstanden um etwa 1306, ist gemeinfrei; ich habe es der Wikipedia-Seite entnommen.)

(Der „Exkurs Mitleiden oder Mitfühlen“ zehrt hauptsächlich von einem Gespräch mit J.M. Sie hat mich zum ersten Mal auf diese Spur geführt. Ich danke hier für den anregenden, philosophischen Austausch!)

Mit einem Kind spielen

Gestern habe ich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder einmal mit einem Kind gespielt. Mit dem dreijährigen Sohn meines besten Freundes. Mit zwei identischen Feuerwehrautos aus HOlz, zwei Pastikfischchen, in denen Reste von Sojasosse waren, mit meinem Gedichtheft, seiner Trinkflasche, mit meinem Hut und zuletzt auch mit meinem gelben, geliebten Kugelschreiber. Dazu haben wir noch eine Restaurant-Quittung und ein angeklettes, aber ablösbares Schildchen bentutzt, auf dem die Gäste des Lokals auf die Selbstbedienung aufmerksam gemacht wurden; die beiden Dinge waren unsere Parkplätze.
Wir hatten uns in einem dieser Konsumtempel in der Züricher Europaallee, diesem Sinnbild für Gentrifizierung, niedergelassen. Es war kein Laden, obwohl überall reich bestückte Regale mit veganen biologischen Produkten standen; und es war kein Restaurant, denn es gab mehrere „Essensstände“, an denen du dir was dein Herz begehrt und deine Börse erlaubt bestellen und an einem der um eine Art Atriumtreppe gruppierten Tische verspeisen konntest. Wir hatten uns in der Nähe eines Spielbereichs für Kinder hingesetzt, in dem auch Frauen und Männer mit ihren Säuglingen und Kleinkindern sassen udn miteinander redeten; das Hand in Griffnähe für allfällige Schnappschüsse ihres Liebsten.
Ich fühlte mich zuerst unwohl, bedroht, obwohl wir ja zu viert unterwegs waren, wie ich mich immer fühle, wenn ich in der Umgebung von reichen und schönen Menschen bin. Ich fürchte sie sehr, denn ich weiss um ihre Selbstgewissheit, um ihr untrügliches Sicherheitsgefühl. Manche von ihnen haben tatsächlich vergessen, dass sie nichts besitzen, dass sie meilenweit über dem Abgrund des wirklichen Lebens seiltanzen. Ich halte mich lieber unten auf, schwinge mcih zur erschreckenden Erheiterung aber hin und wieder zu ihnen hinauf und tue, als sei ich einer von ihnen.
Mein Freund hatte sich kurz entfernt, um sich einen Kaffee zu holen. Ich hatte mir mein Gedichtheft gekrallt, um an einem im Zug begonnen Gedicht weiterzuschreiben. Ich schaffte drei Verse, dann wurde ich vom Sohn meines Freundes ins Spiel hineingeholt.
Ich könnte nicht sagen, wie lange das Spiel gedauert hat, zwei Stunden oder 15 Minuten. Ich erlebe so einen Zustand manchmal beim Schreiben, ein totales Konzentrieren auf einen kleinen Aus- oder Querschnitt der Welt. Herkömmlicherweise nennst du das vermutlich, „ich war auf einem anderen Planeten“, „ich bin voll abgedriftet“ oder „ich war vollkommen absorbiert“. Nur am Rand registrierten meine Ohren andere Geräusche von Kindern und Eltern, das zugewandte Gespräch meines Freundes mit meinem Sohn über dessen Ruderleidenschaft, ein Vater, der mit seinem anderthalbjährigen Kind zwischen den Regalen Verstecken spielte. Doch mein ganzes Wesen, meine ganze Aufmerksamkeit war auf diese beiden leicht klebrigen Tischplatten gerichtet, auf denen sich unser Spiel entwickelte.
Solche Spielverläufe sind schwierig nachzuerzählen, doch will ich es hier kurz versuchen: Am Anfang waren wir beide damit beschäftigt, mit den Feuerwehrautos die immer wieder auf der Trinkflasche ausbrechenden Brände zu löschen. Mit der Zeit kamen die beiden Sojafischchen hinzu; sie waren anfangs simple Feuerwehrmänner oder -Chauffeure, wurden dann aber in abwechselnden Rollen zu Ärzten, Doktoren; einer von ihnen verletzte sich (meistens der von mir geführte) und musste vom anderen geheilt werden. Später kam ein Krebs als Verletzungsursache hinzu (Daumen und Zeigefinger des Kleinen), ein aus meinem Heft herausgefallenes Blatt, das ich zu einem kleinen Papierflieger gefaltet hatte, wurde zu einer Taube. Es war ein angeregtes Verletzen, Jagen und Heilen. Bald wurde mein Hut zum Haus für eines der Feuerwehrautos, halb Feuerwehrposten und halt Spital oder Arztpraxis. Jetzt mussten die Verletzten klingeln und auf den Doktor warten. Der war einmal da und einmal nicht da, ganz wie ihm beliebte. Ganz am Ende kam noch der Kugelschreiber hinzu als Oberdoktor, der den Auftrag seines Jobs noch willkürlicher interpretierte. Inzwischen war auch mein Gedichtheft als Brücke oder Adler im Einsatz. Langsam begann das Spiel Endzeit-Dimensionen anzunehmen, selbst das Handeln der ansonsten stoischen Brücke, die von einem Tisch zum andern führte, wurde unvorhersehbar. Der Hut musste einiges erleiden, auch der Oberdoktor. Die Trinkflasche mutierte zum Löschinstrument. Jetzt war richtiges Wasser im Einsatz.
Das schliesslich war eine gute Zeit, um das Spiel zu beenden und aufzubrechen, und das Unwetter hatte sich auch gelegt. Die Feuerwehrautos wurden von meinem Spielgefährten ordentlich zurückgebracht, das kleine Publikum aus Kindern, die uns umstanden, löste sich auf, und wir verliessen den Konsumtempel.

Als Vater von zwei Kindern (21 und 14) weiss ich, wie wichtig es ist, sich ganz auf den Menschen, der das Kind ist, – es ist bereits ein ganzer Mensch, dem Achtung, WErtschätzung und Würde gebührt, – sich ganz auf diese Person einzulassen: ihr Zeitgefühl zu respektieren, ihre Bedürfnisse wahrzunehmen und achten ohne sie jedoch immer zu befriedigen, etc.
Ich weiss, dass du als Vater oder Mutter im Dienst dieses Menschen stehst. Deine Verantwortung für diesen Menschen heisst aber nicht, dass du diesen Menschen besitzt. Du hast kein Anrecht auf diesen Menschen. Diese Person hat Anrecht auf deine ganze Anteilnahme.
Eltern (gute Eltern?) wissen darum, wie du dich auf einen Menschen einlässt, ihn oder sie ganz und gar ernst nimmst, sodass sie oder er sich entwickeln und werden kann, was er oder sie ist.
Nur sehe ich das in den Erwachsenenwelt viel zu selten gespiegelt. Die wenigsten von uns – und nehme dich bitte nicht aus! – gehen ohne Vorbehalt, Forderungen, Erwartungen und Ansprüche aufeinander zu. Die wenigsten von uns sehen den anderen als ebenbürtig und würdig an, die wenigsten sind bereit, sich auf jemand ganz und gar einzulassen, diese Person anzunehmen, ganz wie sie ist, ohne jeglichen Besitzanspruch; sie anzuschauen mit Anerkennung, sie anzuhören mit Zuneigung, ihr zu antworten in Freundlichkeit.
(Bei Katherine May las ich diesen wundervollen Satz über den Wald als Ort der Verzauberung: „Bring questions into this space, and you will receive a reply, though not an answer.“ – Das hat mich sehr ergriffen: Ja, du sollst nicht antworten, sondern erwidern in deinen Beziehungen.)
Denn das heisst ein Kind erziehen, werdenlassen; es ist das Gleiche wie einem Menschen begegnen: un versuche nicht, aus diesem kleinen Wesen etwas zu machen: führe es nicht in die Leistungsgesellschaft ein, lass es seine Kompetenzen selbstbestimmt und selbswirksam entwickeln, dein Kind muss kein multitalentiertes Genie sein. (Nebenbemerkung: Als ich geboren wurde, soll mein Vater in Lausanne einen Ratgeber gekauft haben, der den Titel trug: „Comment faire de votre enfant un genie“…) Dein Kind muss nur ein Dasein haben können, da sein dürfen. Das genügt vollauf.
Und was für ein Wunder, wie aus deinem Kind, dem du seine Kompetenzen zugetraut hast, eine Person wird, die sich entfaltet: ohne dein Dazutun fast, von alleine, weil du es angenommen, gewürdigt hast als vollständigen Menschen und ihm oder ihr immer zugeneigt bleibst. (Und manchmal scheint es schief zu gehen, doch dafür kannst du in meinen Augen meist nur sehr wenig.)

Ich sage all das vor einem schrecklichen Hintergrund, den ich nicht verleugnen und mir immer gegenwärtig halten möchte: der Praxis der weiblichen Geschlechtsverstümmelung (Female Genital Mutilation, FGM) in weiten Teilen des globalen Südens. Millionen von Mädchen werden verstümmelt und traumatisiert von diesem Eingriff. Ich fühle mich hilf- und machtlos vor diesem Fakt. Ich verstehe die Väter nicht und auch nicht (noch weniger?) die Mütter dieser Kinder.
Vor diesem Faktum will es mir die Sprache verschlagen, will ich kapitulieren. Denn was für eine vollkommen unverdiente Gnade ist es denn, im globalen Norden aufgewachsen zu sein und zu leben?

Doch schmälert dies das zuvor gesagte keineswegs: es gilt für alle Menschen auf dieser Welt, für alle Kinder.
Kinderrechte sind Menschenrechte. Kinder sind Menschen.
Lasst sie spielen und Kind sein. Seid selbst Kind.
Was wäre das für eine herrliche Welt, in der wir alle Kinder wären.
Ich sehne sie herbei, als wäre sie Gottes Reich.


(Mit herzlichen Dank an 12257183 für das herzige Bild.)

Glauben als Körper – Glauben mit dem Körper

Geprägt von einer christlichen, europäischen Glaubenstradition, die den Körper als Ursprungsort, als Sitz des Bösen oder der Sünde versteht, einer Tradition und Denkweise, die im Körper das Gefängnis der Seele sieht, die daher „nach dem Geist“ leben und streben will, finde ich mich am Ende einer längeren Zeit der Beschäftigung mit dem Alten Testament und dessen jüdischen Glaubensformen und Glaubenskonzepten an einem neuen Ort in meinem Glauben.

Ich möchte den Körper nicht länger mehr ausschliessen aus meinem Glauben, aus meiner Gotteserfahrung, denn der Körper ist meine „Brücke“ zur Welt. (Und selbst hier verstehe ich mich immer noch als ein geistiges Wesen, wenn ich den Körper als „Brücke“ bezeichne; denn ist der Körper nicht gerade dadurch gekennzeichnet, dass er IN der Welt ist?)

Zu einer Welt zudem, die aufgrund unserer systemisch erhaltenen Sünde zunehmend zerfällt – und auch unsere Existenz, unseren Fortbestand selbst als Lebewesen bedroht.

Zu einer Welt, die von den alten animistischen Glauben der Ureinwohner nicht nur als Schöpfung geachtet und geschätzt wurde, sondern die im Wesentlichen als ein Ganzes, ein Zusammen-Existieren, fast als nur „im-Zusammen-und-Gemeinsam-Leben“ fortbestehendes Lebewesen anzuerkennen ist.

Kurz: Jener Mensch, der den Geist und seine Kraft betont, gefährdet nicht nur das Überleben und Fortbestehen zahlloser Lebewesen, die eine von ihm unabhängige, mehr noch: eine ihn ermöglichende Lebensberechtigung haben, sondern in letzter Konsequenz auch seine eigene, nicht anders als körperlich zu denkende und empfindende Existenz und Lebensberechtigung.

***

Dein Körper ist so eine wichtige Form deines Lebens. Und während im Silicon Valley und anderswo im Glauben an die Machbarkeit und Funktionalisierung aller Dinge und Wesen an Konzepten von Unsterblichkeit oder zumindest der Lebensverlängerung herumgeforscht und herumgedacht wird, soll dich dein Körper immer wieder an deine Verletzlichkeit und an deine Sterblichkeit erinnern.

Er ist das Instrument der Schwerkraft, des Staubs für deinen Geist. Seine Bedürfnisse, Wünsche, Schwächen und Fehler verankern dich immer wieder von Neuem in der Kreatürlichkeit: du bist ein Geschöpf, kein Schöpfer.

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Dein Körper hilft dir die Welt erfahren, erkennen, ja: einsehen. Eine kleine Beeinträchtigung seiner Funktionen zeigt dir auf, wie wichtig sein Ganz-Sein, sein Heil-Sein, sein Gesamt-, vielleicht sogar Gesammelt-Sein ist.

Vor kurzem hatte ich ein verstopftes rechtes Ohr; nichts Schlimmes, einfach einen Pfropf im Ohr. Ich habe die Beeinträchtigung eine Woche lang ertragen, bis sie zu stark wurde; ich musste allem Laut oder Geräusch mein linkes Ohr zuwenden – mein linkes Ohr begann darauf zu schmerzen. So habe ich mir bei meiner Ärztin mein rechtes Ohr ausspülen lassen. Was für ein wundervolles Gefühl war es, endlich wieder klar zu hören, fast schmerzhaft war diese Deutlichkeit der Laute und des Lärms.

Seit mein Gehör-Sinn wieder im Gleichgewicht ist, habe ich begonnen, auf Klang-Spaziergänge zu gehen…

***

Doch was könnte es heissen, Gott mit deinem Körper zu erfahren und loben? Und mit „deinem Körper“ meine ich ja letztlich „mit deinen Sinnen“, denn ein Körper ist ein Sinnesempfänger…

In einem Film namens „Foudre“ erlebt eine junge Frau, die aus dem Kloster zurück in ihr abgelegenes Bergdorf kommt, ein Aufblühen ihres Körpers im sinnlichen und Liebesspiel. Sie beginnt, ähnlich wie die mittelalterlichen Mystikerinnen, das körperliche Spiel mit den Sinnen und dem Geschlechtsempfinden immer mehr mit ihrem Glauben an Gott zu verknüpfen. Was dem engstirnigen Bergpastor und seiner teufelsfürchtigen und -süchtigen „Herde“ als Dämonen- oder Teufelswerk einer Versucherin erscheint, bekämpft und „ausgetrieben“ werden soll, wird von der jungen Frau, die ein erstes Mal körperliche Liebe erlebt und in einer leibfeindlichen Welt aufgewachsen ist, welche paradoxerweise in ihren Arbeitsweisen und Arbeitsformen sehr körperorientiert ist (Beispiel: das Heuen an einem Steilhang am Berg), – dieses Abwehren und Verteufeln wird von der jungen Frau als Befreiung und Widerstand empfunden: In der bewusst auch körperlich gedachten Beziehung zu einem anderen Menschen erfährt sie Gott. Denn Gott zeigt sich im Körper der Kreatur, sie wohnt ihrer Schöpfung und ihren Geschöpfen ständig auch ein.

***

Körperliches, sinnliches Erleben hat (entgegen aller leibfeindlichen Tradition) nicht nur ein mystisches, widerständiges Element, sondern vielmehr auch eine transzendierende, ein über deine eigene unmittelbare körperliche Existenz hinausweisende Wirkmacht.

Das kann nur schon jene oder jener verstehen, der einmal nach einem heissen, drückenden Sommertag das erste kühlende Lüftchen der Dämmerung empfunden hat, den Ruf der Turteltauben in der noch grauen Morgendämmerung oder das ansteckende Lachen eines spielenden Kindes, das Leuchten des Spiegels eines fliehenden Rehs im lichten Wald.

***

Im Alten Testament, der jüdischen Tora, wird der Mensch als Körperwesen, als ganzheitliche Kreatur verstanden und gelesen. Einzelne Körperteile oder Organe stehen für Lebensfunktionen. So ist die Kehle (näfäsch) jenes Organ, mit der ein Mensch ihre Bedürfnisse und sein Begehren kund tut.

Schroer und Staubli haben diese Körpersymbolik oder -Metaphorik erstmals herausgearbeitet. So schreiben sie über die Kehle als Symbol: „Die näfäsch steht so also für das Leben schlechthin. Wo keine näfäsch ist, da ist auch kein Leben.“

Dieses kreatur- und körper-basierte Glauben, Sagen und Handeln kann in meinen Augen dazu führen, dass wir in Glaubenswörtern oder in der schriftlichen Offenbarung nicht mehr einen figurativen, übertragenen Sinn suchen, sondern den buchstäblichen, körperlich gedachten Sinn. Diese Sagen, Handeln und Glauben kann gleichfalls dazu führen, dass wir unseren Körper vermehrt als Glaubensinstrument und Glaubensort wahrnehmen und benutzen, sei das im Wald draussen, um den Duft des Waldbodens zu geniessen und schätzen (und Gott dafür zu loben), auf einem Kiesweg in den Bergen, auf dem wir barfuss schreiten, in einer Umarmung für den eigenen Sohn, der wir eine Wärme und Zurückhaltung gleichzeitig vermitteln, um zu sagen: „Ich bin für dich da, wenn du mich brauchst, ich bin dir zugewandt allezeit“, in einem Kuss, in dem wir die oder den gänzlich Andere(n), der uns in sihrem Körepr von Gottes Schöpfungskraft erzählt, erforschen und „erkennen“…

Und vielleicht sollten wir wieder Gottesdienste machen, in denen das Essen eines Festmahls zentral ist, in dem mehr als ein symbolisches Verspeisen eines geschmacklosen „Brotes“ und das symbolische Trinken eines Tröpfchens schlechten Rotweins geschieht: ein Fest der Sinne, in der es keine Worte und Zeichenhandlungen mehr braucht, sondern der Akt des Schmeckens, Riechens, Kauens, Schluckens, Verdauens selbst genug ist und geschieht „Gloria in excelsis Deo“, zur Ehre und Verherrlichung der Göttin, die unsere Schöpferin war, ist und sein wird.


Anmerkungen:

  • Schroer, Silvia / Staubli, Thomas: Die Körpersymbolik der Bibel, Darmstadt (2) 2005.
  • Der Film „Foudre“ wurde von der Westschweizer Regisseurin Carmen Jacquier geschrieben und gedreht.
  • Für das schöne Foto am Anfang dieses Beitrags bedanke ich mich bei Shoolnau.

Aufgehoben in der Schwäche

(Bild mit Dank an Karabo_Spain.)

Einige Erlebnisse prägen unserer Haltung zum Leben und zum Glauben dauerhaft grundlegend und dauerhaft verändernd. Noch viel später entfalten sie ihre Wirkung; selbst wenn du denkst, ihre Strahlkraft und Wirkmacht müsse längst versiegt sein. Mehr noch: diese Kraft verändert im Laufe der Zeit ihre Gestalt, ihren Ton und ihre „Botschaft“.

Ein solches Erlebnis stellt für mich ein Hirnschlag dar, den ich vor 11 Jahren erlitten habe. Aufgrund einer gerissenen Karotiden-Arterie gelangte ein Blutgerinnsel in mein Hirn. Ich verlor die Beherrschung über meinen Körper. Ich war etwa anderthalb Monate in der Rehabilitation. Ich hatte dabei ein unglaubliches Glück: im Gegensatz zu vielen meiner Reha-Kolleg*innen gewann ich alle meine Fähigkeiten schnell wieder zurück; sie waren nicht stark beeinträchtigt worden.

Ein Moment der Anrufung: Anstoss zu andauernder Veränderung

Im Spital erlebte ich eine Anrufung. In einem Gottesdienst, zu dem ich im Rollstuhl gebracht wurde, predigte der Pfarrer über die Aussendung der Freund*innen Jesu (Lk 10,2):

Er sagte zu ihnen: Das Erntefeld ist gross, die Menge der Arbeiterinnen und Arbeiter aber gering. Bittet nun den Herrn der Ernte, dass er Arbeitskräfte für sein Erntefeld spriessen lasse.

Lk 10,2 (BigS)

Ich weiss nicht mehr genau, wie die Predigt auf mich gewirkt hat. In meiner Erinnerung ist alles vermischt: Meine Erschöpfung darüber, so lange aufmerksam und aufrecht sein zu müssen; meine Entkräftung, die sich in Übelkeit, Schwindel und Kopfschmerzen äusserte; das Jesus-Wort, das auf mich leise einzuwirken begann; di ein mir spriessende Freude über die Gemeinschaft im Gottesdienst mit allen anderen Patient*innen – ich glaube, im Moment musste ich mich nur noch ausruhen, nur noch neu Kraft schöpfen.

Erst mit der Zeit wurde dieses Erlebnis zu einem Gründungsmoment für den Rest meines Lebens (bis zum nächsten Gründungsmoment): die Anrufung durch eine andere, sinnhaftere Aufgabe, die ich damals „Berufung“ nannte; die Getragenheit in diesem Zustand der Schwäche, der auch einer der Ausgeliefertheit war.

Diese „Berufung“ ist inzwischen schwächer, persönlicher und säkularer geworden: ergänzt durch das Bewusstsein eines pädagogischen Auftrags, der nichts (mehr) mit der Vermittlung eines Glaubens, aber alles mit der ethischen Bemühung um das Mündigwerden der unterrichteten Kinder und Jugendlichen zu tun hat. Der Glaubensaspekt ist in den Hintergrund getreten: ich bin heute viel stärker damit befasst, mir Glaubens-Wissen und Glaubens-Erfahrungen zu erschliessen, die in den Heiligen Schriften und in der eigenen Erfahrung in der Wirklichkeit wurzeln.

Vertrauen aus der Schwäche und in der Schwäche

Dauerhaft und unverändert ist jedoch dieses Gefühl von Vertrauen aus und in der eigenen, menschlichen Schwäche. In der gefährdeten Lage weiss ich mich geborgen und gehalten, und je ratloser und schwächer ich bin, je auswegloser die Situation scheint, desto mächtiger wirkt in mir diese aufrichtende, diese auferstehende Kraft des Vertrauens.

Vertrauen worauf?

Es ist dies ein Vertrauen, dass du selbst im Bösen, im Schlechten, in Gefahr und schlimmer Krankheit von einer universellen Grundkraft aufgehoben und getragen werden kannst, wenn du dich ihr überlässt – unverdient und bedingungslos. Es ist dies ein Gefühl, das ich damals zum ersten Mal verspürt und später benennen gelernt habe: zum Beispiel, als mich meine damals 10- oder 11-jährige Tochter zu ihrem Chorkonzert geschoben hat, später bei jedem erfolgreichen Treppenlauf, nach jeder heftigen Migräne.

Ja, im Moment der Gefährdung und der Schwäche treibt mich mein menschlicher Sinn dazu, mit dem Unglück – ob Krankheit oder Unfall, Verletzung oder Depression – zu hadern und „mein Schicksal zu verfluchen“, wie du sagen könntest. Wie du bin ich (noch) nicht bereit, mein Geschick anzunehmen.

Doch zuletzt erfahre ich immer wieder dieses Geduld lehrende Gefühl eines Vertrauens darin, „dass es schon gut kommt“ – sogar, wenn dieses Gute der Tod oder eine bleibende Beeinträchtigung deiner Lebensqualität sein kann.

Ich denke sogar manchmal, dass du nur in solchen Fällen körperlicher oder geistiger Anfechtung und Gefährdung der HEILIGEN wirklich deine menschlich-göttlichen Qualitäten beweisen kannst: ein Zutrauen, das in der Geduld gründet und im Wissen um deine wirkliche Schwäche, den Hochmut, der dich als Herrn (oder Schmied) deines Schicksals, wenn nicht gar der Welt, verstehen und bestimmen will; eine Neigung, das Kommende bewusst wehrlos und ohne Kampf entgegenzunehmen.

Ich denke manchmal, dass du nur in der Schwäche zu deinem wahren Menschentum, wie HASCHEM es für dich gewünscht hat, finden kannst. Einem Menschentum, das in der Schwäche die Werkzeuge für ein „Leben in Fülle“ findet: die Geduld und die Demut.

Ein universalistischer, säkularer Blick auf deine Schwäche

Diese Gedanken kannst du auch weniger persönlich formulieren.

Wenn du ganz ehrlich zu dir über deine Kräfte, Ressourcen und dein Potenzial bist, musst du eingestehen, dass du nichts vermagst ohne dieses Vertrauen; nichts lässt sich wirklich erzwingen, alles ist letztlich ein Geschenk – sicher hilft dabei dein Einsatz, deine Mühe in der Arbeit und im Hoffen.

Doch alleine kannst du nichts. Du kannst zwar den Reproduktionsprozess anstossen mit einem Ei und einer Spermatozoe, aber dieser Prozess, einmal ins Laufen gekommen, kannst du nicht machen; er läuft – wie das Wachsen des Samenkorns in der Erde, über die der Bauer wachsam gebeugt wartet – ohne dein Dazutun ab. Du verdankst das entstehende Kind Prozessen und Mechanismen, die du nicht in der Hand hast. Du kannst diesem Prozess helfen, indem du dich gesund ernährst, deine Gesundheit nicht gefährdest, etc., aber diese von dir angestossene Entwicklung in dir hat nichts mehr mit dir zu tun – und doch alles; und doch sagen diese Prozesse alles über dich aus.

Wenn du deinen Blick, dein Denken und Verstehen auf die globale Ebene richtest: welche Aber-Milliarden kleiner und kleinster Prozesse laufen da ab, dass dein eigenes Leben weiterhin gewährleistet ist! Vom Korn, aus dem dein Brot ist, von der Traube, aus der dein Wein ist, über die Faser, aus der dein Kleid ist, bis hin zu den Ziegeln, die dein Dach bedecken – ja, bis zur Luft, die du gerade atmest: Wie viele Werdungs-Prozesse hat es dafür gebraucht, in die du nicht einbezogen warst, die du nicht einmal angestossen hast – die gänzlich unverdient und nicht machbar, nicht replizierbar sind! Das ist ein Werk von viel wichtigeren Lebewesen und Organismen als du, seien das Mikro-Organismen, Bakterien, Algen, Pilze – oder einfach die Blätter am Baum vor deinem Haus und die Läuse in deinem Rosenstrauch.

Du bist in deiner ganzen Existenz auf diese angewiesen. Du alleine bist nichts ohne dieses grosse, ganze und weitverzweigte Netz(werk), das dich erhält – und vielleicht, angesichts der kollabierenden Ökosysteme weltweit, bald nicht mehr erhält. 

Ein Blick zurück auf Kindheits-Spiele

Und dann denke ich an die kleinen, improvisierten Theaterstücke, die ich zwischen 8 und 15 Jahren mit meinen Freunden inszeniert habe. Darin ging es meistens um einen Helden, der in seiner Stärke plötzlich grässlich gefährdet wird und fällt. (Ja, der „Seewolf“ von Jack London lässt buchstäblich grüssen!)

Und in diesem Fall, in dieser Gefährdung (Todesnähe, etc.) kommt dem Helden (manchmal auch der Heldin – was in den Augen des Buben, der ich war, eine noch höhere Wirkung garantierte) eine stützende, helfende, aufrichtende Hand zu Hilfe (meist einer meiner Freunde in einer spontan erfundenen Rolle, manchmal gar ich selbst, indem ich aus meiner Rolle heraustrete).

Dieser Moment, da der Held hilflos und ausgeliefert war, „sein Ende nahe glaubte“, fast schon tot, in seiner Schwäche „darniederlag“ (ja, ich trug viel viktorianisches Pathos in diese Spiele hinein, während meine Freunde ihre Comic-Welten aktivierten), kurz bevor der Held / die Heldin gerettet wird – das war ein unglaublich erregender und beglückender, buchstäblich stärkender und revitalisierender Moment in der Schwäche.

Nichts aus sich gemacht – Teil 2

Potenzial und Erfüllung, Freiheit und Zwang

Im ersten Teil dieser Erörterung habe ich versucht, die Anfrage an den eigenen Erfolg auf persönlicher Ebene, aus persönlichem Blickwinkel zu beantworten. Also zu klären, ob und wie, wann und wodurch ich „aus mir etwas gemacht“ habe – oder eben nicht.

Hier möchte ich nun den theologischen und philosophischen Grundbedingungen menschlichen Erfolgs nachgehen. Was würde es bedeuten, zu genügen (vor Gott und den Menschen)? Wann erfüllst du dein Potenzial? Was für einen Horizont liegt in theologischer Hinsicht im Menschen? 

Mit Dank an Freiheitsjunkie für das Bild.

Ein Mangelwesen in Freiheit

In den monotheistischen Religionen ist der Mensch ein Mangelwesen, das in Freiheit zu handeln berufen ist. Mangelwesen meint, der Mensch ist nicht perfekt. Die Geschichten von Adam und Eva, von Kain und Abel, vom Turmbau zu Babel, von Noah, von Esau und Jakob und viele andere zeigen, wie schwer es dem Menschen fällt, sich in dieser – von Gott geschenkten und gewollten! – Freiheit zu behaupten und sich für das „Gute“ zu entscheiden. So sehr, dass die Propheten immer wieder von dem „geraden“ Pfad der Gerechten, Jesus gar von der „engen Tür“ gesprochen haben, durch die du als Mensch zu Gott findest, Erlösung in Gott findest.

Geht durch das enge Tor! Denn das weite Tor und der breite Weg führen ins Verderben, und viele sind auf diesem Weg. Doch das enge Tor und der schmale Weg führen ins Leben, und nur wenige finden diesen Weg.

Matthäus 7, 13f.

Immer wieder spricht die Bibel von Menschen mit „verstockten“ Herzen; das Herz ist dem Orient der Sitz des Verstandes. So meint auch der Koran:

(Der Koran ist) eine von uns zu dir hinabgesandte, gesegnete Schrift (und wird den Menschen verkündet), damit sie sich über seine Verse Gedanken machen, und damit diejenigen, die Verstand haben, sich mahnen lassen.

Sure 38, Vers 29 (Übers. Rudi Paret)

Sowohl in der Bibel als auch im Koran ist der Mensch auf die Gemeinschaft verpflichtet. Es handelt sich dabei um ein vormodernes Menschenverständnis: Der Mensch wird nicht als „Individuum“ gesehen, sondern als Teil einer Gemeinschaft, zuerst der Familie, der Sippe, des Stammes bzw. der Ethnie, schliesslich des Gottesvolkes. In dieser Einbettung hat er seine Rolle: die Gemeinschaft fördern, ihr helfen und die Schwachen unterstützen.

Was aber ist genau der Mangel am Menschen als Geschöpf Gottes, als „von Anfang an beschenktes“ Wesen?

Neben den oben herausgestellten Schwierigkeiten des Menschen, aus der ihm geschenkten Freiheit heraus das „rechte Verhalten“ zu finden, wählen oder erlernen, lassen sich zwei weitere  Fehl-Stellen bezeichnen. Diese sind beide wiederum verbunden mit dem in diesem Blog bereits oft erwähnten „adamitischen Hochmut“.

  • Geht es dem Menschen gut, rechnet er sich seinen Erfolg selbst zu. Er ist überzeugt, „seines eigenen Glückes Schmied“ zu sein; vielleicht sogar, das Erreichte wortwörtlich zu verdienen.
  • Geht es dem Menschen schlecht, rechtet er sofort mit dieser angeblichen „Ungerechtigkeit“: Warum geht es den anderen, den „Bösen“ denn schlecht, aber mir nicht?

Vor diesem Hintergrund stellt sich eine weitere Frage: diejenige nach dem Potenzial des Menschen (geboren aus seiner Perfektibilität). Denn nicht nur ist der Mensch als „Geschöpf“ berufen, zwischen Freiheit und Unfreiheit, zwischen Freiwilligkeit und Zwang zu wählen, sondern mehr noch: die in der Person „schlummernden“ Anlagen (Keime) zur Frucht zu bringen.

Diese Perfektibilität macht es, dass du als Mensch immer das Gefühl oder den Eindruck haben kannst, du lebest nicht „zur Fülle“ das Leben, das du verdienst oder das du zu verdienen glaubst. Immer wieder wirst du damit konfrontiert, dass andere Menschen mit ähnlichen Anlagen und/oder Voraussetzungen scheinbar „mehr“ oder „besseres“ erreicht haben, ob an beruflichem oder materiellem Erfolg.

***

Exkurs: „Tun-Ergehen-Zusammenhang“ oder Die Folgen hängen nicht immer mit meinem Tun zusammen

Hier muss ich kurz einschieben: Ich bin keineswegs ein Anhänger von „Tun-Ergehen-Zusammenhängen“, wie das die Religionen immer wieder vermitteln. Ich weiss zwar, dass mein Tun Folgen hat in meinem Leben; aber ich weiss und glaube gleichzeitig, dass die Folgen nicht immer mit meinem Tun zusammenhängen.

Wenn ich also einen Kater habe, weiss ich, dass ich am Abend zuvor zuviel getrunken habe; aber wenn ich Krebs habe, weiss ich, dass ich über diese Krankheit nicht nur keine Macht habe, sondern ihr Ausbrechen nicht (notwendiger- oder gezwungenerweise) von mir verschuldet wurde. 

Mit einem anderen Beispiel: ein Erdbeben ist keine Strafe für das Handeln der Menschen in einer Stadt, dennoch ist es nicht verwunderlich, wenn es geschieht und Unglück anrichtet, weil die Menschen im Wissen um die Wahrscheinlichkeit oder Möglichkeit eines Erdbebens weiterhin in der Stadt wohnen. Sie haben ihre Wahl in Kenntnis eines möglichen Erdbebens getroffen.

***

Das Geschenk der Freiheit, das auch an die Gnade gekoppelt ist, jedoch ist eine schwierige Aufgabe oder Herausforderung. Leicht ist es, sich verlocken, verführen zu lassen. Unzählige Mythen und Geschichten erzählen in immer wieder ähnlichen Formen davon, wie der Mensch scheitert daran, dass er in Freiheit wählen kann.

Darunter die schönsten sind jene, in der ein junger Tor „alles recht macht“ und maximales seelisches und materielles Glück „erwirbt“. So in der Geschichte von den drei goldenen Haaren des Teufels. Doch fast am Schönsten von allen ist die Geschichte von „Hans im Glück„: Da geht einer mit grossem Reichtum auf den Heimweg und kehrt mit leeren Händen heim. Mehr noch: wie dankbar ist er dafür!

Ähnlich denkt und lehrt auch Jesus, wenn er uns im Gleichnis vom Kornbauern, der Vorräte anhäuft, aufzeigt, dass materielle Schätze im Angesicht des Todes, ja des Gerichts vor Gott keinerlei Bedeutung haben: „Du kannst sie ja nicht mitnehmen!“

Mechanismen der Öffentlichkeit entwerten und überfordern die Einzelne

Diese oben angesprochene Wahlmöglichkeit kann als eine der schwersten Herausforderungen verstanden werden. Denn wohl ist der Mensch ein für sich und an sich Wirkender, aber er bleibt auf die Gesellschaft, auf die Gemeinschaft bezogen. In dieser Bezogenheit orientiert er sich.

Doch die Gesellschaft vermittelt dir derart viele Wege, Möglichkeiten. Alle Wege und Möglichkeiten, wird dir von Kind auf gepredigt und eindringlich vermittelt, sind nur Anreize. Anreize, damit du ausdauernder und inniger arbeitest; Anreize, damit du Wohlstand erreichst, der dir Freiheit verleiht; Anreize, damit du die Liebe nützest, die dir begegnet, um einen Gegenpol zu den Herausforderungen in deinem Berufsleben zu haben.

Einen Gegenpol? Wohl eher eine weitere Überforderung: Denn wird nicht die Liebe so sehr überzeichnet, dass sie dir als unmöglich zu verwirklichen erscheinen muss? Gibt es denn diese romantische Liebe, die uns Stars und Starlets vorleben, einreden? Besonders in einer Zeit, die so ich-bezogen ist, dass auf Social media Filter erfunden werden, die dich noch schöner erscheinen lassen.

Ich persönlich kenne niemand, der diese romantische Liebe erfahren hätte; eine romantische Liebe zudem, die von Dauer wäre.

Und welche Werte und Normen vermitteln wir unseren Kindern? Eine kapitalistische Weltsicht des „Höher, Weiter, Schneller“, der sich doch niemals gerecht werden können – wie auch wir Eltern nicht. Schon in der Schule geraten die Kinder in diese Tretmühle des Ungenügens: die Leistung zählt, Ermutigung oder Würdigung ist eine Seltenheit.

Doch sie sehen im Fernsehen und in ihren Endgeräten lauter gelungene Lebensläufe, von Ronaldo oder Yan Sommer über Hamilton oder Odermatt bis zu Beyoncé oder Ariana Grande. Doch sind das nicht die Ausnahmen, die die Regeln bestätigen?

Denn die Wahlmöglichkeiten sind geringer. Du bist schon eingeschränkt von deinem sozialen Umfeld ; du bist schon eingeschränkt von der Kaufkraft deiner Familie; du bist schon eingeschränkt durch die dir geschenkte Zeit der Eltern.

Der Weg der meisten Kinder wird einer im Mittelmass sein. Sehr unwahrscheinlich, dass ihnen Wahlmöglichkeiten offen stehen, die sie zu einem herausragenden Leben anspornen und dieses verwirklichen lassen.

Und daran ist nichts falsch. Was mich daran dennoch bekümmert? Sie werden mit diesem Mangel in ihrem Leben auskommen müssen, sich damit zurechtfinden müssen. Und wer hat sie darin gelehrt? Wer hat ihnen erzählt, dass im Mittelmass, im Genügen auch eine Freude und auch eine Rechtfertigung liegt? Werden sie nicht ihr ganzes Leben mit dieser Wunde, mit diesem Misserfolg herumlaufen und darin sauer und böse werden?

Denn ist unsere Gesellschaft nicht gezeichnet von einem merkwürdigen Revanchismus, einem wütenden Anprangern von Fehlern bei andern? Auf Social media und überall in den Medien: Schadenfreude als beherrschendes Gefühl. (Denke nur an all die „Fail“-Kompilationen, die im Netz zirkulieren.) Und Schadenfreude, die politisch und gesellschaftlich im Handumdrehen in eine Ressentiment geladene Widerstandskraft führt, die lähmt.

Es ist wie mit der Medaille, die zwei Seiten hat: Auf der einen Seite die Idole und Helden, auf der anderen Seite die Wut auf den Erfolg des andern, Nächsten. Und im Hinterkopf immer: der hat doch einfach Glück gehabt, das war doch einfach Zufall.

Und wie gut tut es doch, wenn unsere Idole sich als fehlbar, als „menschlich“ erweisen: Wenn Ronaldo eine Frau vergewaltigt oder zumindest zu Sex gezwungen hat, wenn Will Smith mit seiner Ohrfeige zeigt, dass er ein Macho alter Schule ist, wenn der Djoker nicht nach Australien einreisen darf, weil er sich nicht gegen Covid-19 impfen lassen will… Wochenlang können wir uns zumindest medial daran stimulieren, solche „Fälle vom hohen Ross“ sind köstlich.

Denn diese Fälle zeigen, wie sehr der Mensch ein Mangelwesen ist und bleibt: Die ihm geschenkte Freiheit ist ein (zu?) hoher Anspruch an seine Fähigkeit, sich für das Gute zu entscheiden, eine Herausforderung für seinen Herzens-Verstand.

Genügen können: „Du bist gut so, wie du bist“?

Zahlreich sind die Momente in meinem Unterricht, allgemein in der Schule, da Schüler*innen an ihre Grenzen kommen, affektiv oder kognitiv. Mache Schüler*innen merken früh, dass sie nie genügen können werden. Sie haben nicht die „Ressourcen“, um den Leistungs-Anforderungen gerecht zu werden; sie haben nicht die Unterstützung von zuhause, um in der Schule wie in der Gesellschaft „(vor-) anzukommen“.

Viele dieser Schüler*innen retten sich in einen verrückten Glauben: die meisten Erwachsenen wollen ihnen Übel, sie selbst sind nicht an ihrem „Versagen“ schuld. Die Aggression, die aus dem Scheitern und Nicht-Genügen entsteht, wenden sie gegen andere, brausen auf und schädigen andere, aber vor allem sich selbst. Häufig werden sie in diesem Glauben noch von den Eltern bestärkt, die sich (bereits aus eigenem Ressentiment gespeist) gegen die Menschen empören, die in den Institutionen dieser Gesellschaft wirken.

Ich begegne diesen Schüler*innen mit Respekt und Anerkennung. Ich nehme sie als wertvolle, gleichwertige Gesprächspartner*innen wahr. Ich versuche immer wieder, ihnen zu zeigen, dass nicht alles von ihrer Leistung, nicht alles von ihrer kognitiven Fähigkeit abhängt. Dass sie allein durch ihre Existenz als Mensch in meinen Augen als Lehrperson eine Würde, ein Recht auf Würde haben. Dass sie in letzter Konsequenz mit Leichtigkeit und ohne Anstrengung der Anforderung, ein Mensch zu sein oder werden, genügen können.

Das gelingt häufig nicht, vor allem nicht in einem Klassenverband, wo jede jeden beobachtet; aber im Einzelgespräch ist dies ein leichtes. Und immer wieder ein wundervoller Augenblick, wenn eine Jugendliche, ein Jugendlicher merkt, dass ich sie oder ihn genauso beachte wie ich meine Erwachsenen-Lehrkolleg*innen beachte.

Natürlich fordere ich in dieser Interaktion eine Gegenseitigkeit. Doch erstaunlicherweise ist allein diese Bewegung hin zu einem anderen Menschen in Anerkennung und Respekt ausreichend, meistens ausreichend, um einen Austausch, eine Interaktion zu ermöglichen, die auf Gleichberechtigung und Augenhöhe beruht.

Ich versuche also der anderen Person, die mir gegenübersteht, in einfachster Form Würde und Anerkennung zuzugestehen. Damit zeige und sage ich ihr auch, dass sie genügt. Dass sie, weil sie mir genügt, auch sich genügen könnte.

***

Exkurs: Werkgerechtigkeit und/oder Gnade

Hinter all diesen Erwägungen und Verhaltensmöglichkeiten steht letztlich die Frage nach einer ausgleichenden, jedoch nicht gleich machenden Gerechtigkeit. Nach einer Gerechtigkeit, die Ungleiches angleicht, ohne es gleich zu machen; nach einer Gerechtigkeit, die falsche Entwicklungen und Prozesse nivelliert und im besten Falle gar „transzendiert“, in „Höheres“ verwandelt.

Denn unser ganzes Leben zeigt uns, dass ein Korrektiv fehlt oder gefehlt hat. Die uns bewussten Fehler oder Schulden haben nicht zu den vorgestellten Folgen geführt; die uns nicht bewussten Schulden oder Fehler haben zu unvorstellbaren Folgen geführt; die Gesetze der Kausalität sind uns immer wieder als willkürlich oder eben: ungerecht erschienen. Gäbe es da nur eine regelnde, eingreifende Hand!

Könnte ich nur wissen oder sicher sein, dass meine guten Handlungen (nicht die guten Absichten!) wirklich zu guten Ergebnissen oder Resultaten führen! Könnte ich nur sicher sein und wissen, dass meine schlechten Handlungen (nicht die schlechten Absichten!) wirklich zu schlechten Resultaten oder Ergebnissen führen!

Doch dieses Prinzip – theologisch unter dem Begriff der Werkgerechtigkeit geführt – wird bereits in den Psalmen immer wieder als „ausgehebelt“ oder „unwirksam“, ja geradezu als absurd erkannt: den Bösen (den Frevlern) geht es trotz ihrer schlechten Taten weiterhin gut, die Gerechten (Guten) leiden in Armut oder Krankheit. Aus dieser Fehl-Lage entsteht der Schrei nach Gottes Eingriff in die Geschehnisse in der Wirklichkeit.

Die Gnade dagegen, die durch erlösende Handlungen der Propheten oder Jesu den Menschen geschenkt wurde, kann als rettende, berufende Wirkmacht verstanden werden. In der Gnade der Errettung und in der Gnade der göttlichen Zuwendung erfährt der Mensch eine Befreiung von den Zwängen und Notwendigkeiten der Welt, der Wirklichkeit. In der Gnade wird der Mensch auch dazu berufen, das Gute aus dieser unverdienten, erlösenden Zuwendung freiwillig und in Freiheit zu tun.

Auch hier – weit und breit keine eingreifende Hand. Die einzige Hand, die hier zum Unterschied zwischen „verdient“ und „ungerecht“ werden kann, ist deine eigene Hand. Du als Mensch musst bereit sein, dich für einen Weg einzusetzen, für ein Verhalten, das deinen Nächsten aufwertet, tröstet und stärkt. Nur so kannst du der anderen Person aufzeigen, dass auch du dich ihr aus Freiheit und freiwillig zuzuwenden geneigt bist. Und damit ein wenig „Göttliches“ in ihre und deine triviale Wirklichkeit hinein-giesst.

Anders gesagt: indem du dich in Freiheit und freiwillig für das Gute entscheidest, kommst du dem Weg, der sich Gott für den Menschen wünscht, am Nächsten. Mehr noch: vielleicht wirkt diese Entscheidung wahrhaft befreiend.

***

Er-füll-ung

Der Gedanke der gottgeschenkten Freiheit müsste befreiend wirken. Das Wissen um die eigene, gottgeschenkte Freiheit, wenn auch eingebunden in wirkliche Zwänge und Notlagen, müsste dich befreien. Was für eine Macht ist dir doch geschenkt: du kannst dich für das Gute oder das Böse / Schlechte entscheiden.

Doch woraus könnte oder kann dieses Wissen oder Erfahren dich befreien?

Du könntest dich lösen aus Abhängigkeiten. All die körperlichen und geistigen Zwänge und Notwendigkeiten, denen du als Mensch in der (trivialen) Wirklichkeit unterworfen bist, – können sie dich wirklich daran hindern, das zu sein, wozu du von Gott berufen bist? Anders gefragt: kann die Person, die du bist oder wirst (und die sich Gott von Anfang an wünscht), sich nicht unabhängig von all diesen Zwängen (weiter) entwickeln?

Fragen wir noch weiter: Genügt es nicht schon allein, dass du bist? Dass du trotz unterschiedlich be- oder entgrenzter Entscheidungs- und Wirkungsmacht immer noch eine gewisse Wahl-Freiheit hast? Dass diese Wahlfreiheit immer noch deinen Weg bestimmt, selbst wenn du dich zum tausendsten Mal verrannt hast, selbst wenn du zum tausendsten Mal die falsche Entscheidung getroffen hast?

Genügt es nicht schon, dass du viele Entscheidungen triffst – ob vernünftig oder irrational? Dass diese Entscheidungen – getroffen aus der Wahl-Freiheit – deinen Weg gestalten, aber doch nie ganz abschliessend bestimmen? Dass noch viele Entscheidungen vor dir liegen, die diesen Weg abweichen, umschwenken lassen? Dass in der Rückschau dein Leben – ob kurz oder lang – voller Entscheidungen war, die dich getroffen haben und die du getroffen hast?

Genügt es nicht schon, dass im Rückblick sich Freude und Begeisterung mit Trauer oder Wehmut, manchmal auch Bedauern oder Ärger vermischen, einen unglaublich komplexen und nur dir eigenen Cocktail von Emotionen und Erfahrungen mixen- der dich ausmacht; mehr noch: der deine Frucht ist? Dass im Rückblick das Gefühl oder der Eindruck von Fülle entsteht.

Eine Fülle, die aus Überwindung von Hindernissen und Zwängen, aus der Verwirklichung von freien, freiwilligen Entscheiden besteht.

Und dass in der Fülle der Retrospektive eben nicht zählt, was du aus dir gemacht hast. Nicht zählt, was du „geworden“ bist angesichts deines Potenzials. Sondern was du vor dir selbst bist.

Und somit vor Gott: denn nur sie kann der Messende sein, der weiss, wie sehr du dein Potenzial „genutzt“ hast. Wie sehr du deiner Perfektibilität gerecht geworden bist – und gleichzeitig dich so oft als möglich für das Gute und gegen das Böse / Schlechte entschieden hast. Ob und wie du deine Keime (Anlagen) zur Frucht gebracht hast.

Hindere nicht auf dem Weg zur Gerechtigkeit!

Johannes sagte zu ihm: »Lehrer, wir sahen, wie einige mit Hilfe deines Namens von Dämonen befreiten, und wir hielten sie davon ab, denn sie gehörten nicht zu unserer Nachfolgegemeinschaft.« Aber Jesus entgegnete: »Hindert sie nicht. Denn die mit Hilfe meines Namens vollmächtig handeln, werden nicht kurz danach Übles gegen mich reden können. Wer nicht gegen uns ist, ist für uns. Die euch einen Becher Wasser zu trinken geben, weil ihr zum Messias gehört, ja, ich sage euch: Denen wird ihr Lohn nicht vorenthalten werden.

Die auch nur ein Kind Gottes, das mir vertraut, vom Weg der Gerechtigkeit abbringen, für die wäre es weit besser, wenn ihnen ein riesengroßer Mühlstein um den Hals gehängt und sie in den See geworfen würden. Wenn dich deine Hand vom Weg der Gerechtigkeit abbringt, schlag sie ab! Es ist besser, dass du verstümmelt ins Leben hineingelangst, als mit zwei Händen von Gott verurteilt zu werden, ein Feuer, das nie verlöscht. Und wenn dich dein Fuß vom Weg der Gerechtigkeit abbringt, schlag ihn ab! Es ist besser, dass du eines Fußes beraubt ins Leben hineingelangst, als mit zwei Füßen von Gott verurteilt zu werden. Wenn dich dein Auge vom Weg der Gerechtigkeit abbringt, reiß es heraus! Es ist besser, dass du einäugig in Gottes Reich hineingelangst, als im Besitz beider Augen von Gott verurteilt zu werden, wo ihr nagender Wurm nicht stirbt und das Feuer nie erlischt.

Mk 9, 38-48; zitiert nach BigS
Das Tal von Ge-Hinnom um 19000
Von der ursprünglich hochladende Benutzer war Briangotts in der Wikipedia auf Englisch – From the 1901-1906 en: Jewish Encyclopedia. Übertragen aus en.wikipedia nach Commons durch Storkk mithilfe des CommonsHelper., Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=4452832

Es sind solche Texte in den Evangelien, die mich wieder neu an Jesus glauben lassen. Sie wecken in mir den Glauben daran, dass Jesus Mensch ist. Ein Mensch, der von Liebe ebenso wie von Zorn redet; Zorn ebenso wie Liebe verteilt. Denn nur zu oft reden gläubige Menschen nur von der Liebe, die Jesus bringt; weitaus seltener sind sie bereit, auch den Zorn, die Ermahnung, die Schelte in Jesu Worten anzuerkennen.

Seit ich mich mit der Bibel näher auseinandersetze, sind mir diese Zornesreden Jesu die liebsten Stellen. Denn sie machen die Dringlichkeit, die Bedeutung seiner „frohen Botschaft“ nur umso deutlicher.

Die Kinder im Blick

Wenn du zurückblickst über das ganze 9. Kapitel des Markus-Evangeliums erkennst du, dass es sich immer wieder mit dem Begriff des Kindes, des Kindseins und des Gotteskindes befasst.

  • Mk 9, 7: „Dieser ist mein geliebter Sohn“ (BigS: mein geliebtes Kind) sagte die Stimme aus der Wolke zu den Freunden Jesu.
  • Mk 9, 14-29: Jesus heilt einen Jungen, der von epileptischen Anfällen heimgesucht wird.
  • Mk 9, 31: „Der Sohn des Menschen (Menschensohn) wird übergeben in die Hände von Menschen, und sie werden töten ihn…“ (zitiert nach dem Münchener Neuen Testament)
  • Mk 9, 37: Der Streit um die Rangfolge unter den Freunden Jesu wird dadurch entschieden, dass Jesus ein Kind in ihre Mitte stellt: dieses Kind ist wie Jesus, wenn es in seinem Namen aufgenommen wird.
  • Mk 9, 42: „Die auch nur ein Kind Gottes, das mir vertraut, vom Weg der Gerechtigkeit abbringen, für die wäre es besser…“

Es geht in diesem Kapitel und im vorangestellten Text – Evangelium des vergangenen Sonntags, 26.09.21 – im Wesentlichen um die Sorge für die schwächsten Glieder der Gesellschaft, für die Kinder.

Die Gutes tun „jenseits der gemeindlichen Grenzen“

Im ersten Abschnitt dieses Auszugs aus dem Markus-Evangelium muss Jesus seine engstirnigen Freunde zurechtweisen. Sie wollen einen Exklusiv-Anspruch auf Gott und auf ihn haben. Für die Freunde Jesu sind sie die Kerngruppe seiner Schule. Will heissen, nur sie können die Macht von Jesu Namen in Anspruch nehmen.

Doch Jesus weist sie deutlich zurecht: Selbst wer nicht ausdrücklich an mich glaubt, aber doch meinen Namen benutzt, tut Gutes „in meinem Namen“. Adolf Pohl hat es in der Wuppertaler Studienbibel sehr schön ausgedrückt:

Aber Jesus korrigiert ihre verengte Sicht der Gottesherrschaft. Gott ist grösser. Er herrscht auch jenseits der gemeindlichen Grenzen. (Pohl, 359)

Damit öffnet Jesus das Feld von Glauben um einiges: du musst, um Gutes zu tun, nicht notwendigerweise Jesus nachfolgen, sein Freund sein. Oder wie Pohl es sagt: „…Fernstehende ermutigt er.“

Ganz im Sinne Gottes: die Not haben, denen will ich helfen. Gott also als Arzt, wie ihn schon Moses gesehen hat: „Ich, der Herr, bin euer Arzt“ (2. Mose 15, 26).

Wer Anstoss gibt

Die darauf folgende Wutrede richtet sich an Verführer: Wer ein Kind Gottes „vom Weg der Gerechtigkeit“ abbringt, wie es die BigS formuliert, soll sich selbst richten.

Die Um- und Übersetzung des Begriffs „Anstoss geben“ ist vielseitig und vielfarbig:

  • Die Zwingli-Bibel meines Grossvaters (1958) redet von „zur Sünde verführt“,
  • eine noch ältere französische Bibel (1912) in meinem Besitz (basierend auf der Übersetzung des Neuenburger Theologen Osterwald, 1663-1747) spricht ebenfalls von „tomber dans le péché“,
  • meine Firmbibel (1982) nennt es „zum Bösen verführt“,
  • in der Wuppertaler Studienbibel-Übersetzung heisst es „zu Fall bringen“ und
  • die Volxbibel übersetzt: „zu Sachen verführt, die Gott nicht gern hat“.

Besonders gelungen scheint mir die Vielfalt in der Übertragung von Jörg Zünd (1965):

  • „Wenn deine Hand etwas tut, das deine Beziehung mit Gott stört…“
  • „wenn dein Fuss dich irgendwohin trägt, wo du Gott nicht zuhören kannst…“
  • „wenn dein Auge etwas sehen möchte, das du nur sehen kannst, wenn du Gottes Willen missachtest“.

In der Lesart von Adolf Pohl besteht hier eine Parallele zur Gerichtshandlung in Israel:

Ebendasselbe Körperglied, mit dem jemand eine Untat vollbracht hatte, wurde ihm zur Strafe abgehauen.

Pohl, 364

Die auch nur ein Kind Gottes, das mir vertraut, vom Weg der Gerechtigkeit abbringen…

Ich glaube, bei der Lektüre dieser Zornrede sind wir zu oft auf uns selbst fokussiert. Wir denken daran, was mit uns geschehen sollte, was wir uns tun sollten, wenn wir etwas in Gottes Augen Verwerfliches oder Falsches tun.

Doch der erste Verdammungs-Spruch ist weitaus wichtiger: Wer jemand anderes „vom Weg abbringt“, der sollte ertränkt werden. Hier wird jeder Gläubige in die Pflicht genommen: Du bist verantwortlich für deinen Nächsten!

Wie hat Kain so schön rhetorisch gefragt: „Soll ich ständig auf meinen Bruder aufpassen?“ („Bin ich denn meines Bruders Hüter?“ sagt es die Zwingli-Bibel).

Gott beantwortet die Frage nicht, weil es ja klar ist. Kain hat gegen seinen Willen gehandelt. Er hat seinen Nächsten nicht mit „Kraft“ beigestanden, nicht für sein Wohl gesorgt.

Fazit: die Fernen schützen, die Kinder und die Glaubenden

Zuletzt ist die Botschaft Jesu eine einfache, unmittelbare. Er will uns immer wieder sagen: Beschütze die Gottfernen, hilf ihnen, denn sie haben ich nötiger als du. Und vergiss nicht, was deine Taten und Worte bei deinen Nächsten auslösen, auf dass du sie „nicht in die Irre führst“. Beides Dinge, die auch die Freunde Jesu immer wieder lernen mussten – und müssen.

Nebengedanke: Gehenna, Hölle

Bei der Gehenna handelt es sich nicht nur um einen übertragenen Ort, den du Hölle nennen könntest. Es handelt sich auch um ein konkretes Tal, das Hinnom-Tal (Tal des Sohnes von Hinnom). Es war eine Grabstätte unweit Jerusalems. In alttestamentlicher Zeit war es auch in schlechtem Ruch, weil dort dem Gott Moloch geopfert wurde / worden sein soll. Spannend ist dabei der Hinweis von Pohl:

Später diente die verrufene Schlucht als Müllhalde. Das Stadttor dorthin trug den Namen „Misttor“. Die ständig schwelende Brandstätte galt als der abscheulichste Ort der Welt. Seit dem 2. Jh. v.Chr. diente der Name zur Bezeichnung der endzeitlichen Verderbensstätte.

Pohl, 361

Inwiefern eine Auferstehung aus diesem sowohl konkreten als auch übertragenen Höllenort möglich sein würde, könnte Anlass für eine spannende Diskussion und Nachforschung geben.

Wer sich impft, übernimmt gesellschaftliche Verantwortung

Eine Betrachtung unter dem Gesichtspunkt der Menschenrechte

Mit herzlichem Dank an TheDigitalArtist für das Bild

(Ich bedanke mich herzlich bei J. M. für das erste Gespräch und besonders bei M. Leemann für die klärende, vertiefende Diskussion, aus der einige Gedanken in das Fazit dieses Beitrags eingeflossen sind. Ich bedanke mich auch bei meiner Tochter, die mein Interesse an den Menschenrechten und den damit verbundenen philosophischen Fragen wieder geweckt hat.)

Ich habe schon viele Diskussionen mit verschiedensten Menschen meines näheren und ferneren Umfelds geführt über die herrschende Impf-Skepsis, Impf-Unwilligkeit, Impf-Angst. Eine Lehrerkollegin hat mich gebeten, einen Gedankengang, der mir im Gespräch mit ihr gekommen war, schriftlich festzuhalten. Das will ich hier versuchen.

Es handelt sich dabei keineswegs um einen neuen oder aussergewöhnlichen Gedanken, aber hin und wieder lohnt es sich, für sich und andere festzuhalten, was gedacht worden ist: Das hilft in der Festigung des Reifungsprozesses als Mensch.

Und natürlich kann ich nicht auf die Argumentation der Impfgegner und Corona-Skeptiker eingehen, obwohl ich mir das von unseren Philosophen dringend wünschte: Sie befinden sich längst jenseits der Fakten, die die Wissenschaft wieder und wieder bestätigt und verifiziert hat. (Das betrifft insbesondere die Vorwände und Ängste der Impfgegner, was Nebenwirkungen betrifft.) Ich setze also die Fakten voraus.

Ist mein Recht wichtiger als das Recht des andern?

Die Corona-Skeptiker sind lauter als diejenigen, welche die Gefahr erkannt haben und gegen sie handeln. Die Corona-Skeptiker haben sogar versucht, beim Bundeshaus Krawall zu machen und den Sicherheitszaun niederzureissen. Die Schweiz ist so ein neutrales Land, dass daraus kein öffentlicher Aufschrei entstanden ist, obwohl der Fakt dieser versuchten Handlung durchaus aufrütteln hätte müssen. Ebenso wie jener, dass der Finanzminister des Landes sich mit einer der ärgsten rechtslastigen Gruppen des Landes gemein macht, die den Begriff der Freiheit derart gepachtet hat, dass sie ihn nicht mehr auf andere anwendet.

Was bedeutet es, wenn jemand die Freiheit „gepachtet“ hat, wie ich das genannt habe? Denn es ist dies ein Phänomen, das weltweit zu beobachten ist und zutiefst beunruhigen sollte.

Deine Freiheit – sich impfen oder nicht impfen zu lassen – wirkt sich unmittelbar auf die Freiheit eines anderen, einer anderen aus. Dadurch, dass du dich nicht impfst, gefährdest du die Gesundheit eines anderen Menschen. (Wenn du keine Maske trägst, gefährdest du die Gesundheit eines andern Menschen.)

Du verletzt oder gefährdest damit sein Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person (Artikel 3 der Menschenrechte).

Damit stellt sich die Frage: Ist mein Recht (auf Meinungsäusserung und Freiheitssphäre) mehr Wert als das Recht des andern?

Diese Frage trifft unsere Gesellschaft ins Mark. Denn von früh auf sind wir uns gewohnt, das eigene Wollen und Wünschen für aussergewöhnlich und wichtig zu halten. Wir berufen uns dabei u.a. auch auf den Artikel 12 der Menschenrechte, auf das Recht auf den Schutz und die Bewahrung der Freiheitssphäre jedes einzelnen.

Doch plötzlich werden wir vor eine Frage gestellt, in der unser Wollen und Wünschen andere gefährdet oder gefährden kann. In der das Recht auf freie Meinungsäusserung, das vermutlich auch das freie Handeln mit meint und einschliesst, das Recht auf Sicherheit der Person gefährdet. Mehr noch, in der dieses Recht das Recht auf eine Freiheitssphäre des einzelnen (Artikel 12 der Menschenrechte) beschneidet oder zumindest in Frage stellt.

Das Recht auf eine Freiheitssphäre endet dort, wo es das Recht eines andern Menschen verletzt oder gefährdet

Ohne ein Jurist zu sein, ist mir klar, dass alle Menschenrechte in der Balance gehalten werden müssen. Keines darf das andere beschneiden oder gefährden. Keines darf stärker als das andere gewertet werden. Und alle werden vom allerersten Recht regiert: Dem Recht auf Gleichheit, Freiheit und Würde (Artikel 1 der Menschenrechte).

Das gilt letztlich auch für das Leben eines Menschen, wenn ich es auf einer universellen Ebene betrachte. Ein Beispiel: Wenn jeder Mensch ein Recht auf ein würdevolles Leben hat, dann darf ich selbst niemals einem andern Menschen dieses Recht absprechen oder verweigern. Wenn ich diesen Grundsatz konsequent durchdenke, muss ich sagen: ich muss so gut ich kann vorurteilsfrei, gewaltfrei und gerecht handeln gegen meinen Mitmenschen.

Vor diesem Hintergrund will ich die Frage nochmals stellen: Habe ich das Recht, mit meinem Verhalten die Sicherheit und Gesundheit des andern zu verletzen oder gefährden?

Ich kann im Rahmen meiner eigenen Freiheit und Würde sicherlich entscheiden, mich nicht impfen zu lassen. Das würde auch übereinstimmen mit dem Recht auf Freiheitssphäre, die der Staat nicht beschneiden darf. (Deshalb scheut sich der Bundesrat und andere Regierungen auch, ein Impfobligatorium einzuführen.) Wenn ich mich jedoch im öffentlichen Raum (Strasse, Bahnhof, etc.) oder im halböffentlichen Raum (Restaurant, Bar, Bibliothek, Kino, etc.) bewege, setze ich dadurch, dass ich mich nicht impfen habe lassen – selbst wenn ich mich regelmässig testen lasse und alle hygienischen Verhaltensregeln einhalte – die andern Menschen der Gefahr der Ansteckung oder Übertragung aus. Dies selbst dann, wenn diese geimpft sind. Denn neue Studien haben gezeigt, dass Geimpfte u.U. den Virus weitergeben können. In einem solchen Fall könnte man von einer Kettenreaktion sprechen.

Ist das Leben anderer nicht schützenswert?

Ein weiterer Punkt, der mich an der ganzen Diskussion und Aufregung fasziniert, ist die Frage, weshalb Menschen die Freiheitssphäre so stark gewichten, dass sie dabei ihr eigenes Leben nicht schützen wollen, indem sie sich einer Ansteckung aussetzen oder diese in Kauf nehmen. Denn damit gefährden sie ein anderes Recht: Das Recht auf Gesundheit  – ein untergeordnetes Recht des Artikels 25.1 (Recht auf Wohlfahrt) – bedeutet letztlich, dass alle ein „Recht für alle auf ein erreichbares Höchstmass an körperlicher und geistiger Gesundheit“ haben und beinhaltet insbesondere „die Verfügbarkeit von quantitativ ausreichenden und qualitativ genügenden öffentlichen Gesundheitseinrichtungen sowie den diskriminierungsfreien Zugang zu den vorhandenen Gesundheitseinrichtungen“.

Das ist wichtig, denn die Behörden und Gesundheitsinstitutionen machen uns seit Anfang der Pandemie darauf aufmerksam, dass das Gesundheitssystem zunehmend an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit gerät (Betten und Operationen). Will heissen, wer sich für seine Freiheit (Gewährleistung der Freiheitssphäre) anzustecken bereit ist, gefährdet gleichzeitig die Gewährleistung des Rechts auf Gesundheit. Was würdest du sagen, wenn dein von dir belegter Corona-Spitalplatz eine wichtige Operation verunmöglicht, mit der ein Bein, ein Daumen, ein Herz oder eine Niere gerettet werden könnten? Hat dieser andere Mensch denn kein Recht auf Gesundheit?

Gesellschaftliche Verantwortung

Ich komme zurück auf die im ersten Teil dieser Betrachtung festgehaltenen Maxime: Dein Recht darf das Recht eines andern Menschen nicht verletzen. Rosa Luxemburg zitierend könnte ich sagen: Dein Recht ist immer auch das Recht des andersdenkenden. Oder wie es die Philosophin Bini Adamczak in einem Beitrag von Deutschlandfunk Kultur gesagt hat:

(…) die Entwicklung eines Gemeinwesens, das nicht herrschaftlich organisiert ist, muss immer mit allen gemeinsam geschehen – und das heißt eben auch, mit denen, die eine andere Meinung haben.

Bini Adamczak, Zitat aus erwähnter Sendung

Denn letztlich dienen alle diese Menschenrechte nur einem: der Vermeidung von „Akten der Barbarei“, von der die Erklärung der Menschenrechte in der Präambel spricht. Akte der Barbarei aber haben immer eine gesellschaftliche Tragweite.

Rechte haben ihre Grenzen dort, wo sie die offene, freiheitliche Gestaltung und Entfaltung einer Gesellschaft verhindern. Das gilt auch für das Recht auf Freiheitssphäre und alle anderen Prinzipien der Menschenrechte.

Wer dieses Recht nur für sich in Anspruch nimmt, tritt damit das Recht seines Mitmenschen.

Will heissen, die von Adamczak erwähnte „andere Meinung“ kann und wird oft auch die Mehrheitsmeinung sein, die du zu respektieren hast. (Das sollte jeder Schweizer*in klar sein, denn wer wählt, kann unterliegen – und muss dann das Resultat der Abstimmung akzeptieren, weil es in Gesetz gegossen werden wird.)

Gesellschaftliche Verantwortung übernehmen heisst also, seine Rechte derart und in Freiheit auszuüben, dass dadurch keinerlei Rechte von andern Menschen gefährdet oder beschädigt werden.

Indem mich impfen lasse, tue ich genau das: ich ermögliche das freie Funktionieren der Gesellschaft ohne Restriktionen.

Fazit: Gesellschaftsvertrag in Gefahr

Der Gesellschaftsvertrag wird in unserer Gesellschaft vorausgesetzt: dass alle sich an die Regeln, Gesetze (Rechte) und Pflichten dieser Gesellschaft halten. Denn Rechte gehen einher mit Pflichten. Wenn du auf freier Meinungsäusserung bestehst, so darf deine Meinungsäusserung nicht dazu führen, dass die anderer beschnitten oder ihnen die argumentative, eigenständige Findung einer Meinung abgesprochen wird.

Anders gesagt: kein Rechtssystem besteht nur aus Ansprüchen. Das Gegenstück zu den Ansprüchen, die über Rechte einzufordern sind, sind die dadurch bewirkten, damit verbundenen Pflichten.

Im Gegensatz zum Fall der eingeschränkten Freiheitsrechte im Rahmen des „Kriegs gegen den Terrorismus“ sind wir jetzt in einer Situation – der Pandemie -, wo alle unmittelbar und nicht mittelbar bedroht sind: es kann jede und jeden von uns treffen. Das Virus ist in der Mitte der Gesellschaft; das war der Terrorismus nur in den Augen einiger konservativer Hitzköpfe.

Wir erleben eine Gesellschaft, in der Interessengruppen oder Echokammern sich den Meinungen anderer verschliessen. In der diese Meinungsgruppen (so z.B. die bereits erwähnten „Freiheitstrychler“) ihre Rechte absolut zu setzen begonnen haben. Doch kein Recht kann oder darf absolut gesetzt werden: alle menschlichen Handlungen betreffen andere Menschen.

Ich wiederhole mich, aber dieser Punkt scheint mir sehr wichtig: dem Recht auf Freiheit sind dort Grenzen gesetzt, wo es das Recht auf Freiheit (auf eine offene, funktionierende Gesellschaft und Wirtschaft) einschränkt.

In der postrationalen Gesellschaft droht das gesamtheitliche Vertragswerk eines Gesellschaftsvertrags ausser Kontrolle zu geraten. Die oben erwähnten Echokammern behaupten eine Ausschliesslichkeit ihrer Meinung und Haltung, die zudem jeglicher rationaler Argumentation verschlossen ist.

Damit gefährden sie das Wohl unserer gesamten Gesellschaft, weil einige wenige (immer zahlreicher werdende) Gesellschaftsmitglieder ihr eigenes Wohl oder Dafürhalten absolut setzen.

Auslöschen und anfachen

Zum in die Gunten gumpen ermächtigen! (Danke für das Bild an Victoria_Borodinova!)

Diesen Blogeintrag will ich schon lange, schon sehr lange schreiben. Doch habe ich bisher keinen einfachen, positiven „Dreh heraus“ gefunden; bisher hätte ich einfach das „Auslöschen“ behandelt, aber nicht auch das Anfachen. Das will ich nun versuchen.

Zuerst aber zwei Beobachtungen.

Das Kind auf dem Schulweg

Jeden Morgen, wenn mein Sohn und ich an der Bushaltestelle stehen (gegen 07.30 Uhr), sehen wir diesen Jungen auf dem Schulweg. Als wir ihn zum ersten Mal gesehen haben, das war vor 2 Jahren, war er ein Erstklässler. Jetzt ist er sicher in der 3. Klasse.

Von Anfang ist uns aufgefallen, dass er sich „komisch“ benahm („komisch“ hier positiv gemeint). Er redete laut mit sich selbst – oder seinem imaginären Freund. Er stieg auf die Steinmauern an den Gärten, balancierte darauf an stacheligen Büschen vorbei, manchmal auch singend. Seine wuscheligen Haare flatterten im Wind.

Ganz offensichtlich war er nicht auf dem direkten Weg in die Schule. Um 07.30 Uhr bist du schon ein wenig früh unterwegs, ausser du willst dich noch mit deinen Freunden auf dem Pausenplatz unterhalten und Pokémons oder Panini-Bilder vergleichen und tauschen. Doch der Junge würde gerade so rechtzeitig kommen, weil er eine riesige Schlaufe von etwa anderthalb Kilometern machte, um zur Schule zu kommen. Vor allem in seinem „Tempo“.

Nicht nur, dass mich der Junge an mich als Schulkind erinnerte – auch ich redete, wenn ich nicht in Begleitung war, mit meinen imaginären Freunden und spann lange, komplizierte Geschichten aus -: selbst wenn sein bewusst länger gewählter Schulweg vielleicht damit zu tun hatte, dass die Mutter oder der Vater ihn früher hinausschickten, weil sie auf Arbeit mussten, selbst dann war mir die Bedeutung seines Verhaltens wichtig.

Denn dieser Junge hatte die Möglichkeit, in seiner eigenen kindlichen Welt zu leben. Er hatte gelernt, die Welt in seiner eigenen Geschwindigkeit anzugehen. Noch gehorchte ihm Zeit und Weg, noch war er nicht in die Hektik und Scheinkomplexität der Erwachsenenwelt eingebunden (oder nur teilweise). Der Wert dieser Möglichkeit, dieser Gelegenheit ist in der heutigen leistungsdirektiven Umwelt nicht zu unterschätzen.

Einen solchen Schulweg, eine solche introvertierte, fantasievolle Innenwelt wünsche ich allen meinen Schüler*innen. Von ganzem Herzen.

Das Kind in den Pfützen

Auf dem Heimweg von der Schule habe ich gestern einen etwa 11- oder 12-jährigen Jungen gesehen, der seiner Mutter auf dem Trottinett weit voraus rollte. Dabei vermied er gekonnt keine einzige der vielen Pfützen. Als ihn seine Mutter zurückrief (und in ihrer Stimme klang sehr viel Ermahnung mit), schoss er auf dem gleichen Weg zurück. Bei besonders tiefen „Gunten“ sprang er manchmal auf. Aber er war eh schon ganz und gar durchnässt bis über die Knie.

Das hat mich daran erinnert, wie ich als Hausmann mit meinem Sohn auf ein Schulfest meiner Tochter gegangen bin. Meine Tochter war in der 2. Klasse. Das Schulfest fand trotz schlimmen Regenwetters dennoch stand, im Schutz eines Eingangsdachs. Es war ein Grillfest, doch es regnete in Strömen: überall hatten sich tiefe Pfützen gebildet.

Im Wissen um die Wetterlage hatte ich meinen Sohn in eine Art „Kriegsanzug“ gesteckt: von den Gummistiefeln bis zu den Regenhosen war er „wasserdicht“ angezogen. Denn ich wusste, wie sehr Kinder es lieben, in den Pfützen zu planschen. Und als Vater und Mensch hatte ich mir als Kind schon geschworen, meinen Kindern keine Auflagen diesbezüglich zu machen; und sollten sie sich deswegen erkälten – es gibt Schlimmeres als Erkältungen, zum Beispiel verhindertes Kindsein.

Wir lebten damals bewusst in einem „reichen“ Quartier, wo die meisten Einwohner „Schweizer“ waren und vermutlich auch sind. Damals schien es uns wichtig zu sein, dass unsere Kinder in eine „Swiss only“-Schule gingen. Das war eine Haltung, die ich heute längst nicht mehr habe: die besten Schulen (mit den besten Lehrpersonen) sind jene, in der eine kulturelle Durchmischung stattfindet; die also unsere Gesellschaft wiederspiegeln.

Ich liess also meinen kleinen Frosch auf die Pfützen los, beteiligte mich zurückhaltend am langweiligen und bornierten Smalltalk der biederen Eltern. Hin und wieder lief ich in den Regen raus, um meinen Sohn aus einer (in meinen Augen, gewiss nicht in seinen) allzu tiefen Pfütze hinauszuheben und ihn wieder auf die Beine zu stellen. Ich hatte wie er einen Heidenspass an dem Wetter. Ich habe Regen immer geliebt, sein Geräusch, die Kälte und die Erfrischung, die er in unseren Breitengraden mit sich bringt.

Doch ich merkte auch, wie die Blicke der andern Eltern uns folgten, mich abschätzten. Ich verhielt mich ganz offensichtlich nicht konform mit ihren Vorstellungen von einem Vater. Ich hinderte mein Kind nicht, wie sie, am Herumstampfen und Pfützen-Ausschlürfen (denn einige Male tat mein Sohn genau das, und er hatte nachher keine Darmgrippe). Ich hatte ihn warm genug angezogen, und als ich fand, er werde langsam kalt, nahm ich ihn zu mir und steckte ihn in den Buggy, hüllte ihn gut ein und begann, mich zu verabschieden.

Ich habe meinen Sohn (noch) nicht gefragt, ob er sich noch an dieses Fest erinnert; auch meine Tochter nicht. Werde es aber gewiss tun. Für mich ist auch dies ein Beispiel – und ich sage das ohne Hochmut oder Überheblichkeit, ich habe als Vater schon zu viele Fehler und Unterlassungen begangen, um einen Stolz auf mich zu empfinden oder mich gar andern Eltern überlegen zu fühlen -, ein Beispiel dafür, wie ich mir Kindheit und Kindsein denke und wünsche: befreit von sozialen Normen wie Anstand, Konventionen und dem ständigen Blick auf die anderen („was mögen die nur denken?!“, wie meine Mutter immer gesagt hat), in Freiheit, aber behütet, mit elterlichem Vertrauen in die (finale) Richtigkeit ihrer Instinkte und Entscheidungen, aber auch mit dem Vertrauen, dass sie sich zutrauen, wofür sie sich kompetent halten.

Kompetent sein / werden

Mit dieser ausschweifenden Vorrede habe ich zwei Themen angerissen: das Thema der individuellen kindlichen Kompetenzen und Erfahrungen und das Thema des Kompetenzerwerbs.

Grundsätzlich liesse sich mein Auftrag als Religionslehrperson wie folgt umschreiben:

  1. Fördern und fordern von Kompetenzen in Bezug auf religiöses und philosophisches Erleben (Deuten und Erkennen).
  2. Aktivieren und anwenden von intrinsischen und/oder erworbenen kindlichen / jugendlichen Kompetenzen in Bezug auf religiöses und philosophisches Erleben (Deuten und Erkennen).

Meistens konstruiere ich meine Unterrichtsstunden darauf hin, dass ich den 2. Punkt vordringlich behandle. Was die Kinder schon können, ist im Anfang (und meist auch im Schluss, siehe unten) wichtiger als das, was sie noch erwerben „sollten“. Dennoch dringe ich immer darauf, dass auch der 1. Punkt in die Stunde hinein wirken sollte.

Wenn ich also das bereits „Gekonnte“ mehr gewichte als das zu „Erwerbende“ oder „Erlernende“, kann es prinzipiell zwei „Ausgänge“ meiner Stunden geben: ein Scheitern und ein Gelingen.

Das Scheitern hiesse, die Schüler*innen bleiben auf ihrem bereits „Gekonnten“ sitzen und konnten es einfach aktivieren.

Das Gelingen hiesse, die Schüler*innen erwerben sich zusätzliche Kompetenzen, „können“ also mehr; sie können das „Erworbene“ erstmals anwenden.

Dabei ist immer auch zu beachten: Als Lehrperson messe ich meinen Erfolg vor allem am Erreichen des ersten Punkts: Dass die Schüler*innen am Schluss der Stunde reicher und „weiter“ sind als am Anfang.

Und natürlich sind meine „Vorlagen“ für ein „Erwerben von Kompetenzen“ regelrechte Steilvorlagen: überfordern die Schüler*innen sowohl sprachlich als auch kognitiv und affektiv. Damit muss ich – und müssen die Schüler*innen leben können.

Auslöschung

So gibt es Stunden, in denen ich heulen könnte. Nichts gelingt. Weder die Schüler*innen noch ich bewegen sich.

Es ist ein unglaublich hartes Gefühl, wenn du merkst: da bin ich auf dem Holzweg, irgendetwas habe ich in der Vorbereitung nicht bedacht, nicht „einberechnet“.

Und mit jedem Schritt in der Stunde verschärft sich dieses Gefühl der Ohnmacht, denn du merkst auch, wie verzweifelt und ratlos die Schüler*innen werden.

Du sprichst sie immer wieder an, ermutigst sie, traust ihnen zu, dass sie erkennen, „worum es geht“, aktivieren, was sie bereits können, um zu dem zu gelangen, was du ihnen zum „Erwerb“ anbietest und vorschlägst.

So kann das versuchte Schreiben eines Elfchens in der 3. Klasse („Thema“: der brennende Dornbusch) zu einer Katastrophe werden. Das Erwerben der an und für sich einfachen Form des Gedichts „Elfchen“ ist das Hindernis, das vor dem Erwerb der religiösen Kompetenz „übernatürliches, geistiges Geschehen in der Welt ausdrücken“ steht und ihn verhindert.

Verhärte ich mich in so einem Moment, also beharre ich zum Beispiel auf der Klarheit und Deutlichkeit meiner Arbeitsanweisungen, erweise ich mir und den Schüler*innen meist einen Bärendienst.

Anders gesagt: sollen die Schüler*innen ein Gedicht namens „Elfchen“ zu einem Bild vom brennenden Dornbusch schreiben, muss ich u.U. zwei Lektionen einplanen, um zuerst die Kompetenz „Elfchen schreiben“ zu erwerben. Erst in einem weiteren Schritt können die Schüler*innen sich dann ausdrücken.

Als ausgesprochener Sprachmensch komme ich oft an meine Grenzen im Unterricht, weil die sprachlichen Kompetenzen der heutigen Schüler*innen – und besonders vielleicht in meiner Schule – sehr begrenzt oder beschränkt sind. Das hat mit ihrem Umfeld (viele Kinder mit Migrationshintergrund) und/oder mit ihrem Freizeitverhalten zu tun (viele Kinder mit elektronischer Fixierung auf Spielen und Tablet / Handy statt auf Bücher und kreative Tätigkeiten oder Draussen-Erleben). Dennoch kann und will ich nicht auf die Bedeutung der Sprache für das religiöse und philosophische Erleben (Deuten und Erkennen) verzichten!

Anfachung

Die gleiche Stunde kann natürlich auch absolute Höhepunkte beinhalten. Meist sind sie unscheinbar und „klein“. Doch wenn ich merke, wie ein Junge statt „schön“ das Adjektiv „fabelhaft“ wählt, dann fühle ich den Erfolg buchstäblich in Reichweite.

Ein Gelingen, eben das „Entfachen“ oder „Anfachen“ der Schüler*innen, ist meist dann garantiert, wenn ich mich ganz auf die Geschwindigkeit und die Stimmung der Schüler*innen einlasse. Nichts erreichen, nichts erzwingen will.

Hören und Warten nenne ich das. Geduld haben. Aufmerksam und achtsam sein.

Meist löst nur schon die Tatsache, dass ein Erwachsener ihnen seine Aufmerksamkeit und ihren Ein- und Ausdrücken Gehör und Be-Achtung schenkt, kann in den Schüler*innen wahre Stürme von Kompetenzen und Kompetenzerwerb auslösen.

Als ehemaliger Hausmann würde ich sagen: Dein Tag / deine Stunde gelingt dann,

  • wenn du dich ganz auf die Kinder / Schüler*innen einstellst, ihrem Erleben und ihrem Dasein Würde und Achtung verschaffst.
  • wenn du nicht deine erwachsenen Ziele und Zeitvorstellungen ihnen überzustülpen bemüht bist.
  • wenn du sie so sein lässt wie sie sind: ihre intrinsischen Kompetenzen „erweckst“ und mit Geduld und ohne Voreingenommenheit und Zielvorstellung „hervorkitzelst“.

Fazit: Sehe von dir, dem Erwachsenen ab, und schau nur auf die Welt der Kinder

Natürlich gibt es beim besten Willen (und wird es immer geben) trotz obiger Grundsätze Stunden, die einfach scheitern. Wo du nahe an der Auslöschung stehst, nicht mehr weiter weisst, auch deine ganze Berufung zum Religionspädagogen in Frage stellst. Das braucht es im Leben: Niederlagen, Scheitern. Ohne geht es nicht; das Scheitern ist Teil (muss Teil sein) des (späteren und nie garantierten) Erfolgs.

Doch meist kannst du mitten in der Stunde mit einer Haltungsänderung Enormes bewirken, für dich und vor allem für die Schüler*innen, die Kinder. Denn ihre Kompetenzen sind ihr Reichtum, ihr Schatz, und wenn du sie ignorierst, ignorierst du sie als Lebewesen mit Würde und als menschwerdende Menschen.