Es spricht nicht…

Zur Freiheit hat uns der Messias befreit, steht also aufrecht und lasst euch nicht wieder unter das Joch der Sklaverei fangen. (Gal 5,1; BigS)

Vor ungefähr einem Jahr hat mich dieses 5. Kapitel des Galater-Briefs regelrecht angesprungen, angeschrieen. Die Botschaft ist direkt und „grädi-use“: die Freiheit durch Jesus ist eine Tatsache, daran lässt sich gar nicht rütteln.

Diese Sätze beglücken sofort. Sie wirken befreiend.

Ja, aber wirken sie nach? In unser Leben hinein, in unser Handeln hinaus?

Ich habe diese Woche wieder einmal eine kleine Erweckung gehabt. In einem Vortrag an der Uni wurde die Befreiungstheologie vorgestellt. Dabei wurde folgende Anekdote vorgestellt:

Die Spanier treffen in Peru auf den (letzten) Inkakönig Atahualpa. Sie präsentieren ihm die Bibel mit den Worten: „Das ist das Wort Gottes“. Atahualpa ergreift das Buch und hält es sich ans Ohr und lauscht am Buch. Dann sagt er: „Es spricht nicht!“, und er wirft die Bibel auf die Erde in den Staub.

Es spricht nicht…!

Ich musste daran denken, wie oft der Spruch fällt, dass die Bibeltexte in ihrem historischen Umfeld verstanden werden müssten. Damit werden sie entschärft und können schlecht auf die Zustände heute angewandt werden. Oder die Kinder und Jugendlichen verstehen die Bibeltexte nicht, weil sie nicht gelernt haben, symbolische Aussagen zu verstehen und im Alltag, in der Wirklichkeit anzuwenden; weil sie im Alltag und in ihrer Wirklichkeit, so denke ich böse, keinen Anlass zum uneigentlichen Sprechen oder Denken haben.

So verklingt das Wort selbst in der Kirche während des Gottesdienstes „ungehört“. Das Wort hat nicht gesprochen, wenn man so will.

Wie sagt Jesus immer wieder?

„Die Ohren haben zu hören, sollen genau hinhören!“ (z.B. Mk 4, 9; BigS)

Wie aber klingt das Wort? Genauer: wie erklingt das Wort für uns Westler, für uns Agnostiker, Skeptiker und Zyniker? Können wir die Unmittelbarkeit der Schrift, der „guten Botschaft“ wirklich wieder fühlen und fühlbar machen?

Lauter Fragen.

Die Befreiungstheologie redet von dem Dreischritt VER-JUZGAR-ACTUAR, also (An-) Schauen, Urteilen, Handeln. Sie sieht die Schrift wirklich noch als Grundlage für unser Urteilen und Handeln.

Ich will jetzt gar nicht auf ihre anderen Botschaften eingehen, auf die strukturelle Sünde oder die Option für die Armen. Diese gehen für mich (und für uns als Menschen des Nordens) in Richtung eines ethischen Verhaltens (Fairtrade, Umweltschutz, etc.).

Nein, mir geht es direkt um die Wirkung der Schrift. Trauen wir uns, ihre Botschaft hinauszutragen, Gott in unserem Alltag zu verwurzeln und in unserem Wort? Lesen wir die Bibel auf ihre befreiende, gerechte Botschaft und vor allem: auf ihre Wirksamkeit, ihre Anwendung hin?

Danach sehne ich mich; danach strebe ich, erklang es gestern in mir. Und was hindert dich daran, fragte ich mich. Ja, was? Für einen Freak gehalten zu werden, weil man das Wort Gottes anzuwenden versucht und es aus-spricht?

Ich bin gespannt, wie die Befreiungstheologie in unsere Welt des Nordens und Überflusses, des relativen Reichtums und der Ansprüche von Leistung und Nutzen hineinzutragen ist. Bis dahin halte ich mich (schon wieder!) an meinen Paulus:

Gesät werden Menschen in eine zerstörbare Welt, wahrhaft Lebendige stehen auf. (1 Kor 15,42; BigS)

Annahme und Widerstand

Vermutlich bin ich ein Christ, der das Alte Testament für seinen Glauben und sein Gottverständnis weit nötiger hat als das Neue Testament. Das Neue Testament bietet ein relativ statisches Gottesbild. Das einzige dynamische Blitzen in diesem „Zweiten“ Testament sind die Gleichnisse und Sprüche Jesu, die schillern vor Vieldeutigkeit und Vielfalt.

Natürlich kann ich mich darin sehr täuschen, und vielleicht werde ich diese obige Aussage in zwei, drei Jahren zurücknehmen. Das Neue Testament ist ein sehr theologisches Werk; nicht zuletzt wegen der Paulus-Briefe, deren theologische Macht ich manchmal liebe und manchmal fürchte. Es ist ein Werk, in dem die Gestalt und auch die Worte des Menschensohns Jesus von Nazareth nur durch das Prisma des Ostererlebnisses gesehen werden, und durch die Scherbe der Kreuzigung.

In dieser Scherbe, diesem scharfen Splitter sammelt sich für mich (und nicht nur für mich, glaube ich) alles, was die Zeitgenossen an der Kirche nicht mehr aushalten möchten. Gerade letzthin habe ich mich wieder daran geschnitten, als ich in den Losungen einen Ausschnitt aus dem Matthäus-Evangelium las. Es liegt natürlich an der Übersetzung, die selbst schon unsere Schuldigkeit als Menschen, als „Nicht-Gerechte“ unterstreicht; zur Ergänzung setzte ich dazu auch die Übersetzung der Einheitsübersetzung in Klammern.

Als sie beieinander waren in Galiläa, sprach Jesus zu seinen Jüngern: Der Menschensohn wird überantwortet werden in die Hände der Menschen und sie werden ihn töten, und am dritten Tag wird er auferstehen. (Mat 17,22-23)

(Als sie in Galiläa zusammen waren, sagte Jesus zu ihnen: Der Menschensohn wird den Menschen ausgeliefert werden, und sie werden ihn töten; aber am dritten Tag wird er auferstehen. EÜ)

Ich werde mich in einem meiner nächsten Blogeinträge mit der Frage nach der Sündenbefreiung durch Jesu Tod befassen; einem anderen roten Tuch meines Glaubens. Hier möchte ich zuerst kurz auf die sprachliche Gestaltung eingehen.

In beiden Versionen der Aussage wird passiv formuliert. Jesus überantwortet oder liefert sich nicht selbst aus, sondern wird ausgeliefert. Dasselbe geschieht nicht in der Auferstehung, hier ist Jesus offensichtlich selbst Handelnder.

Was mich hier stösst, immer schon gestossen und gestört hat, vielleicht immer stören wird, ist die Passivität des Menschensohnes. Ja, gewiss, er nimmt sein Schicksal an; das haben uns ja alle Pfarrer und Theologen schon tausende Male gesagt. Er versteht sich ja nicht als Revolutionär, sondern als Vollender – wenn er sich überhaupt als etwas anderes als ein Gerechter verstanden, der etwas vorlebt, was von allen gelebt werden sollte, „weil es so in den Schriften steht“ (wie man bei Paulus immer liest).

Es gibt diesen starken Anruf, den ich gerade heute früh wieder in der Apostelgeschichte (auch so eine Hassliebe von mir) gelesen habe: „Ändert euch!“ Dieser Anruf, diese Aufforderung ist ja meist verbunden mit dem „Kehrt um!“. Ich glaube, dass diese Botschaft eine der wichtigsten Jesu ist; sie unterscheidet sich in der Stossrichtung nicht von jener des Johannes, aber doch in ihrer Wirklichkeitskraft. Sie verlangt von uns nicht heldische Entbehrungen oder asketische Kasteiungen (wie bei Johannes), sondern eine ehrliche und einfache Lebenshaltung – wie die japanischen Poeten sagen: streng und schlicht.

Dieses Annehmen eines – nennen wir es einmal so, gegen alle eigenen Widerstände – Schicksals aber ist uns fremd. Wir glauben an das Prinzip des „Glücksschmieds„. Du musst nur so fest wollen, dann kommt es schon gut, denken wir, ein wenig „american dreaming“ kann nicht schaden.

Nehmen wir aber an, können wir annehmen? Würden wir uns „ausliefern“? Und wenn wir schon dabei sind, hätten wir in Auschwitz gehandelt wie Pater Maximilian Kolbe?

Ich habe da so meine Zweifel. Selbst erfahre ich wohl, was Paulus so schön ausdrückt:

Auch in grosser Not können wir uns glücklich preisen, denn wir haben die Erfahrung gemacht, dass grosse Not die Kraft zum Widerstehen stärkt. Diese Kraft stärkt uns, dass wir standhalten können; die Erfahrung standzuhalten stärkt die Hoffnung. (Röm 5, 3f.)

Ich frage mich jetzt, ob dieses Annehmen, das ich so passiv empfinde, nicht ein aktives Widerstehen ist. Nicht eine Aufgabe, eine Bankrotterklärung, sondern eine Kampfansage.

Auch an uns Weltlich-Allzuweltliche. Wir stossen uns daran, weil wir Hindernissen ausweichen, Plagen medikamentös oder pestizidisch bekämpfen, Fragen mit Gegenfragen beantworten, Qualen umwälzen auf andere, Ungerechtigkeit leben und Gerechtigkeit predigen. Die Umkehr, gerade in der Fastenzeit, in der wir uns befinden, die Änderung unseres Lebens, – diese Umkehr ist nicht eine Umkehr zur Askese, sondern eine (paradoxe) Geste des Widerstands: der Widerstand liegt darin, dass nicht widerstanden wird.

Lebensänderung geschieht, indem ich nicht etwas Neues unternehme, kaufe, entwickle, sondern indem ich das, was ich habe, und mag es auch wenig sein, als das, was ich haben kann, akzeptiere und annehme. Lebensänderung geschieht, wenn das, was ist, genügt.

Annehmen heisst dann, der vielleicht sogar eingeborenen Sucht des Menschen nach dem „Schneller, Höher, Stärker“, nach der Perfektion abzusagen in allem, was nicht die eigene Gabe betrifft und fördert. So verstehe ich das jetzt gerade.

Man könnte noch weiter gehen: die Gerechten sind jene, die dem allzumenschlichen Menschenwillen widerstehen. (Insofern wäre Jesus nur schon daher göttlich…)

Und das Stossende, ja vielleicht Abstossende an dieser Geste der Annahme, die uns Jesus vorlebt in seinem Gang zum Kreuz, in dieser Form von Aufgabe, ist, dass wir sehr wohl erkennen können, wie mächtig er darin und dadurch wird: nicht korrumpiert und nicht verführt: nicht der Starke ist der Mächtige, sondern der Schwache. Jemand, der annimmt, was ihm in Ungerechtigkeit geschieht, nimmt dem Ungerechten und Mächtigen seine Macht. Das ist wahrhaft revolutionär. Und in dieser starken Schwäche ist das Gottesreich da und jetzt.

Aber das erfordert Mut oder einfach – Glauben.

Glauben in einer Welt ohne Vertrauen

Da seufzte er innerlich auf und sagte: „Was fordern diese Mitmenschen ein Zeichen? Ja, ich sage euch: Es wird diesen Mitmenschen kein Zeichen gegeben werden.“ (Mk 8, 12)

Es ist relativ einfach (und vielleicht auch einfach – simpel), dieser Gegenwart, dieser Zeit (dem Aion, wie es im Neuen Testament so wundervoll heisst) ihren Materialismus und ihre Körperfixierung vorzuwerfen. Niemand ist davon frei.

Denn mit dem Materialismus, dem Konsumismus und der „geplanten Obsoleszenz“ ist nicht alles gesagt. Dieses Phänomen baut in meinen Augen auf dem Rationalismus, dem Empirismus auf, wonach alles, was ist, empirisch oder rational erklär- und erforschbar sein muss. Was nicht empirisch beweisbar ist, ist nicht, sagt diese Denkrichtung. (Ich spitze bewusst zu.)

Gleichzeitig ist es nur zu menschlich, für mitmenschliche Zuneigung, für Freundschaft und Elternschaft ständig Beweise oder Zeichen einzufordern. Wer kennt nicht das ständige Fragen zwischen Liebenden: „Liebst du mich? Wie liebst mich? Warum liebst du mich? Wofür liebst du mich? Liebst du mich wirklich, wirklich? Wirst du mich auch noch lieben, wenn…“

Doch ist Zuneigung und Vertrauen nicht letztschlüssig beweisbar. Wir können davon Zeichen geben, von Blumen über Küsse bis zu Kettchen und Ringlein. Doch sind es nur Zeichen, keine Beweise. Der andere, die andere muss sich darauf verlassen.

Dabei denke ich unmittelbar an diesen Ausruf des Schriftgelehrten, der bei Markus 9, 14-29 seinen Sohn zu Jesus bringt, damit er ihn vom bösen Geist heile. Der Vater ruft zu Jesus:

„Ich vertraue, hilf meinem Mangel an Vertrauen!“ (BigS)

oder

„Ich glaube; hilf meinem Unglauben!“ (EÜ)

In der Sprache unserer Zeit heisst dies, dass wir immer einen Vorschuss, einen Kredit an Vertrauen leisten müssen, um auf Vertrauen zählen zu können. Und letztlich ist alles eine Sache des Verhandelns. Das sehe ich in meiner täglichen Arbeit mit meinen Schülern. Sie sind es sich gewohnt, dass alles verhandelbar, aushandelbar ist. Und das Ausgehandelte, der Deal sozusagen, ist auch nicht fest und in Stein gemeisselt, er kann jederzeit in Frage gestellt und neu auf den Verhandlungstisch gelegt werden.

Als der Kulturpessimist, der ich bin, schreibe ich dieses Verhaltensmuster einerseits der „modernen“ Erziehung zu, wonach die Erwachsenen mit den Kindern zunehmend als gleichberechtigt und gleichwertig Handelnde umgehen. Es ist dies m.E. etwas anderes als die Mentalität des Mittelalters, welche die Kinder früh schon als „kleine Erwachsene“ behandelte, denn damals mussten die Kinder auch schon die Rolle der Erwachsenen einnehmen, als Erwachsene handeln, für ihre Handlungen gerade stehen wie die Erwachsenen. (Und ich nehme mich hier als Vater zweier Kinder auch gar nicht aus; auch ich behandle meine Kinder manchmal so. Auch ich handle mit meinen Kindern gewisse Bedingungen aus, schliesse sogenannte „Deals“ mit ihnen.)

Heute aber sind die Kinder – Kinder, wenn man von ihnen auch ständig Leistungen und Beweise des Fortschritts abverlangt. (Sie sind es so lange, dass gewisse Erwachsene noch Reflexe und Handlungsweisen von Kindern aufweisen können.) Sie sind insofern Kinder, als sie noch keine Verantwortung übernehmen müssen.

Was aber hat das mit Vertrauen, was hat das denn mit dem Glauben zu tun?!

Auch in unserem Glauben sind wir auf Beweise aus, auf Zeichen, wie es in der Bibel heisst. Wenn wir beten, bitten wir. Und die Bibel selbst ist voller Zeugnisse davon, wie der Mensch unentwegt mit Gott „rechtet“, mit ihm in einer steten Verhandlung begriffen ist. Nach Jack Miles ist dies eine der grössten Errungenschaften des jüdischen Glaubens (ich zitiere sehr frei): dass der Mensch an Gott gelangt, um mit ihm zu streiten über die Situation in der Welt, über die eigene Situation und/oder Position der Welt.

Der grosse Unterschied jedoch, so scheint mir, zum empirisch-materialistischen Handeln: Das einfordern eines Zeichens, eines Beweises, gründet auf Vertrauen, auf ein bedingungsloses Geben. Es ist kein „wenn ich dir das gebe, dann gibst du mir das“. Nein, es ist ein Wissen darum, dass es so sein wird. Es ist daher kein Fordern, kein Einfordern, kein Verhandeln. Diese Zwiesprache, dieser Austausch zwischen Gott und Mensch (oder zwischen Mensch und Mensch) nimmt das Schweigen an (nicht hin!), das Verweigern und das Zögern. Diesem Gestus des Glaubenden ist das Vertrauen wichtiger als das Resultat.

Der Glaubende handelt, um es in der Terminologie der Spieltheorie des homo oeconomicus zu sagen, so, als ginge es um ein Nullsummenspiel, obwohl er weiss, dass es sich wahrscheinlich um ein Plus- oder Minussummenspiel handelt. Er vertraut, um es nochmals anders auszudrücken, auf eine Win-Win-Situation, ohne dieser jedoch ganz sicher zu sein.

Letztlich heisst das aber, wer vertraut, würfelt nicht; wer vertraut, (ver-)handelt nicht.

Und es geht uns selbst wie dem Schriftgelehrten: wir müssen um Hilfe für das Vertrauen bitten. Aber in dieser Geste des Um-Hilfe-Bittens tun wir schon das Wesentliche: wir gehen auf Gott, auf den anderen Mitmenschen zu. Wir gestehen unsere Schwäche ein. Das ist so etwas anderes als das stete Betonen der eigenen Leistung, der eigenen Vorleistung!

Und hier möchte ich den Kreis schliessen und wieder auf den Empirismus und Materialismus zurückkommen.

Was diesem nicht beweisbar ist, habe ich gesagt, ist nicht. Alles Metaphysische (und ich als Lyriker sage: alles Poetische) ist diesem – fast hätte ich geschrieben: Glauben! -, dieser Denkform fremd. Was der Empiriker glaubt, ist normativ und nominativ, lässt sich anfassen und ordnet/regelt.

Wie sehr wir Menschen doch manichäisch denken (müssen?). Es fällt uns schwer, Gleichzeitigkeit oder Parallelität zu ertragen. Der Glauben aber fordert gerade das ein. Er will uns als Empiriker und als Metaphysiker. Er will uns die Quadratur des Kreises, das Perpetuum Mobile als möglich hinhalten.

Wie sagt es mein gehasst-geliebter Paulus so köstlich in seinem Römerbrief?

Schwimmt nicht mit dem Strom, sondern macht euch von den Strukturen dieser Zeit frei, indem ihr euer Denken erneuert. (BigS, Röm 12, 2)

Denn Gott, sagt er ebenfalls, hat „alle in ihrem Starrsinn eingeschlossen“ in seine Barmherzigkeit. Auch das ist für uns, wenn wir nur auf Zeichen und Beweise aus sind, unverständlich und nicht nachvollziehbar: wie kann man ein Ethos einfordern und doch diejenigen mit einbeziehen, die es übertreten und verletzen?

Mit Vertrauen in die dem Menschen eingeborene Gerechtigkeit?

Ja, Vertrauen beruht auf Gegenseitigkeit. (Der langen Rede kurzer Sinn…) Vertrauen wir Gott, vertraut er uns. Aber wir handeln nicht mit ihm darum, denn er vertraut uns vor uns. Wir wissen darum; unbeweisbar wissen wir darum. Und erst dann vertrauen wir so, dass Gott uns vertraut.

Ein dunkler Gott?

In grosser Wut durchschreitest du die Erde,

im Zorn zertrittst du die Völker. (Hab 3, 12)

Ich liebe dieses Klage- und Zornlied des Propheten Habakuk! Diese poetische Verve, die hier anklingt; die Bilder-Kraft und die Macht dieses Gottes! Da ist ein Schöpfergott sehr wütend…

Das ist der Gott des Alten Testaments, würden viele sagen oder denken. Ein boshaft-eifersüchtiger Gott, ein Gott der Vergeltung, der Übertretungen der Tora, der göttlichen Weisungen, streng und sofort bestraft. Und doch ein Gott des Erbarmens sein kann. Gleichzeitig.

Ja, gleichzeitig:

Ich aber will mich über Gott freuen –

ich will jubeln über die Gottheit, die mich rettet. (Hab 3, 18)

Vergeltung und Erbarmen, Strafe und Verzeihen – das sind die beiden Extreme, zwischen denen dieser gerechte Gott hin und her pendelt. Dass das Erbarmen dabei nur jenen zugemessen ist, die selbst gerecht sind (die Tora beherzigen), mindert in keiner Weise seine Kraft und seine Wut, es macht sie für den Christen, der so gerne an einen überaus milden, linden, „lieben“ Gott glauben möchte, nur noch schwerer verständlich.

Wie kann ein Gott denn strafen und verzeihen, ein Gott, der doch nur durch Vertrauen schon „gerecht spricht“, wie das Paulus in seiner gewundenen Theologie in den westlichen Glauben eingebrannt hat (Röm 1, 17)?

Doch kehren wir nochmals zu meiner Freude über dieses Strafgedicht zurück. Die Macht dieses Gottes hat daran einen wesentlichen Anteil. Ein mächtiger Gott ist eine stärkere Stütze als ein gütiger Gott, könnte man meinen. Ich würde dem entgegenhalten: nur ein gütiger Gott, der auch mächtig ist, kann eine wirkliche Hilfe für den Glaubenden darstellen. Darstellen – ja, darstellen.

Wir mögen uns unterschiedliche Bilder von Gott machen, ihn uns und den andern verschieden darstellen – und dabei immer wieder nur eine Ecke seiner Person (oder Persönlichkeit?), einen Bitzen seines Schleiers zu charakterisieren vermögen.

Gott aber ganzheitlich zu sehen, meint m. E. gerade etwas anderes: seine Vielfalt, seine Libellenaugengestalt, seine unsichtbaren Fremdheiten in den eigenen Glauben hineinzunehmen versuchen. Eine Bibellektüre zu üben, die alle Spielarten dieses vielgestaltigen Gottes möglich macht.

Meine Freude über Gottes Vergeltung, über den „bösen“ Gott hängt sicher einerseits damit zusammen, dass das Böse immer spannender ist als das linde und gutmenschige Gute. Die Freude kommt auch daher, dass unser Leben keineswegs der Spaziergang übers Feld ist, den uns die Kirche und ihre Lehrmeinung immer wieder gehen lassen möchten: sei brav, sündige nicht usw. usf., dann wird Gott dich anschauen… Diese Weltsicht hat keinen Platz für unsere Verfehlungen, ohne die wir nicht jene sind, die wir sind: Menschen. Diese katholische Weltsicht hat auch mich geprägt: gut sein, dann wird schon alles gut.

Die dunkle Seite an Gott zu erkennen und bestmöglich anzunehmen versuchen, heisst auch, nicht ständig an der Theodizee zweifeln zu müssen, daran, dass es Schlechtes gibt auf der Welt, viel zu viel Schlechtes. Ein Gott, der dunkel sein kann und zugleich auch hell, entspricht weit mehr dem alltäglichen Erfahrungshorizont, der alltäglichen Wirklichkeit der Welt.

Und wie sehr brauchen wir Menschen dann auch gleichzeitig das Gefühl, doch zu den guten, den gerechten, ja zu den auserwählten zu gehören! (Ob jetzt theologisch, politisch, sozial oder ökonomisch gesprochen – ist ja alles eins.)

In diesem Lied des Habakuk wird genau dies ausgedrückt, so scheint mir, und in vielen Psalmen auch: die andern sind schlecht, auch ich bin schlecht, aber schau an, Gott, ich mühe mich ja, schau mich an und erlöse mich aus diesen andern, die nicht besser sind als ich!

Lass mich, sagt dieses Lied, zuerst das Schlechte malen und darstellen, und mich dann herauszuheben – gestützt auf das Vertrauen in dich, Gott.

Und letztlich ist es ja doch so, wie mein anderer Liebling, Kohelet, sagt:

All das widerfährt allen gleichermassen: Ein und dasselbe Schicksal ereilt die Gerechten ebenso wie diejenigen, die das Recht brechen… (Koh 9, 2)

Das hat nichts Häretisches oder Willkürlich-Bösartiges – als wäre Gott ein willkürlicher, halb abwesender, halb aufbrausender, unentschlossener und wankelmütiger Herrscher… Es ist Eingeständnis, dass jeder das Verhältnis zu ihm selbst finden muss, selbst erkennen kann, was „gut“, was „gerecht“ ist in den Augen dieses mächtig-gleichgültigen und gleichzeitig gütigen Gottes. (Ein Wortspiel: Gott ist gleichgütig.)

Natürlich bleibt die Frage im Raum, ob ein solcher gegensätzlicher Gott eine Person sein kann, ob es sich da um eine Schizophrenie handelt. Ob ein solcher Gott sich überhaupt einmischt. Ob ein solcher Gott Tsunamis schickt oder doch nicht; ob ein solcher Gott zulässt statt zu gestalten.

Habakuk hätte vermutlich dem alten Deutungsmuster zugeneigt, wonach Gott straft: alle Unbill, alles Unglück ist Ausdruck seines Missfallens. Wir modernen Menschen haben uns emanzipiert von diesem Gottesbild, bleiben aber, wie ich, von ihm fasziniert.

Ein solches schizophren-vielfältiges, schizophren-vielstimmiges Gottesbild hilft mir (uns) dabei, einen Dialog mit Gott zu führen. Ein einseitiger Gott, ein festgelegter Gott kann nicht dialogisch verstanden werden. Nur ein Gott, der wie wir Menschen selbst eine Persönlichkeit hat, die Schatten und Licht kennt, kann ein Gesprächspartner sein. Nur ein Gott, der anklagbar, angreifbar und (letztlich) umstimmbar ist, kann ein lebender Gott sein.

Und nochmals sagte er: Mein Herr zürne nicht, wenn ich nur noch einmal das Wort ergreife. Vielleicht finden sich dort {in Sodom} nur zehn {Gerechte}. (Gen 18, 32)

Gottvertrauen und Glauben

„Gottvertrauen aber ist: Grundlage dessen, was Menschen hoffen, und Beweis von Dingen, die Menschen nicht sehen.“ (Hebr 11, 1)

Gottvertrauen. Das ist ein Begriff, der als erstes einfach Widerstand auslöst; nicht nur bei mir vermutlich, sondern beim „modernen Menschen“ schlechthin. Denn wie kann man Gott vertrauen in Kenntnis all des Schlechten, was wir täglich hören, sehen, erleiden?

Im Hebräer-Brief wird der Leser regelrecht mit Beispielen für Gottvertrauen bombardiert; eine wahre Salve von Menschen, die auf Gott vertrauten, von Abraham bis Samuel und darüber hinaus.

Und dann noch dieses ewige Mantra der Hoffnung! Immer soll man hoffen, warten, sich gedulden. Nur diejenigen, die sich gedulden und bescheiden, werden den Lohn erhalten, den wir suchen (s. Heb 11, 6).

Gott vertrauen also. Auf ihn zählen. Auf ihn horchen. Ihm ge-horchen, mit offenen Ohren.

„Gerecht ist, wer Vertrauen lebt.“ (Röm 1, 17)

Für den Vertrauensvollen ist alles, was sichtbar ist, ein Zeichen seiner Anwesenheit, ein (weiterer) Grund für sein Vertrauen in ihn. (Röm 1, 19) Es handelt sich hier um ein ethisch korrektes Verhalten: einer, der vertraut, verhält sich ohne grosse Vernünftelei und ohne stetes Philosophieren und Abwägen richtig – im Sinne der Prinzipien der Tora, die von allen erkannt werden können, die an die schöpferische, begleitende, geleitende Kraft Gottes denken und sich darum bemühen, sie zu erkennen.

Gottvertrauen heisst also, sich an die Schöpfung, an den Glaubensweg zurückzubinden? Und darin das rechte (gerechte?) Handeln zu lernen oder erfahren?

Ist es ein anderes Wort für „Glauben“?

Denn die da glauben, sie halten ja nicht einfach „etwas für wahr“, sie glauben nicht im alltäglichen Sinn, wie jemand sagt, „ich glaube, das ist so geschehen“ oder „ich glaube, dass du das kannst“. Sie glauben an die Sichtbarkeit und Klarheit der Regeln, die jedem Menschen einleuchten können, wonach zu handeln wäre. Sie glauben an die Sichtbarkeit von etwas, das aus dem Unsichtbaren stammt, dort wurzelt, daraus wächst.

Das Unsichtbare, Unbeweisbare — glauben. Nein, nicht nur für „wahr halten“. Einen Schritt darüber hinaus tun, auch er unsichtbar: wie kann jemand mehr tun als „etwas für wahr halten“?

„… denn alle, die zu Gott kommen, müssen darauf vertrauen, dass Gott existiert…“ (Hebr 11, 6)

Vertrauen wir einem Menschen, stellen wir ihn nicht in Frage.

Was wir bei einer Aussage wie „ich glaube, dass die Frankenschwäche der Schweizer Wirtschaft nicht grundlegend schaden wird“ durchaus tun können: woher nimmt der so etwas Glaubende seine Überzeugung? Wir erwarten dann eine logische, vernünftige Begründung für so einen „Glaubenssatz“. Und stellen fest, dass er vielleicht auch auf einem gewissen Vertrauen basiert (in die erfinderische Kraft der Wirtschaftsbosse, doch eine Lösung für die Nöte von Absatz und Beschäftigung zu finden, in eine zyklische Erholung der Märkte), das aber durchaus „weltlich“, berechenbar ist — und doch einen Schimmer von Irrationalität, Unbegründbarkeit behält.

Doch das Vertrauen in einen Menschen ist etwas anderes, behaupte ich. Wie auch das Vertrauen in Gott, der Glaube an ihn. (Und hier erkenne ich meine eigene Motivation und Fragestellung: wie kommt es, dass ich jemand vertraue oder eben: nicht vertraue?)

Die Antwort darauf ist auch „unsichtbar“, „unerklärbar“. Versuchten wir zu begründen, weshalb wir einem Freund, einer Freundin trauen, was könnten wir denn da aufzählen?

Dass sie oder er eine „gute Person“ ist, schön und nett, anständig und wohlerzogen; dass er oder sie uns annimmt, wie wir sind; dass sie oder er auf uns zählt wie wir auf sie oder ihn; dass auf diesen Menschen „Verlass“ ist; dass er oder sie uns anhört?

Woher wissen wir denn das? Vielleicht hört diese Person uns nur scheinbar an, tut nur so, als hörte sie uns liebevoll oder freundschaftlich zu? Vielleicht nimmt er uns nur an, weil wir ihn annehmen, und sobald wir nachlassen in unserem Bemühen, ihn zu akzeptieren, wendet er sich gleich von uns ab?

Die Unsicherheit ist grenzenlos. Wir Menschen sind uns selbst unsichtbar. Nur in wenigen Augenblicken, in kurzem Aufblitzen, erkennen wir uns. Oder glauben, uns zu erkennen.

Und hier kommt die Hoffnung ins Spiel. Wir müssen hoffen, dass es so ist, wie wir es spüren und erfahren. Genauso wie wir auf Gott nicht nur vertrauen, sondern auch hoffen, dass dem, was wir glauben, auch so ist, genauso hoffen wir auf den Nächsten, auf seine ähnliche, vermutliche Reaktion.

Ein Dreigestirn, ein Dreisatz also: Vertrauen – Glauben – Hoffen.

Und das führt uns schon weiter: kann denn Vertrauen schon Liebe sein?