Angst vor dem Religionsunterricht?

boy-1226964(Bild von Ibrahim62)

Es gibt immer ein erstes Mal.

Ein erstes Mal, in dem du auf Fundamentalismus stösst. In deinem eigenen Religionsunterricht.

Das ist mir gerade passiert. Von der neuen Klasse war mir bekannt, dass einige Kinder nicht in den Religionsunterricht gehen, weil ihre muslimischen Eltern gegen eine bekenntnisunabhängige religiöse Bildung sind. Dagegen, dass ihr Kind die notwendigen Kompetenzen erwirbt, um anderen Religionen und somit auch anderen Kulturen offen und unvoreingenommen gegenüber zu treten. (Dazu habe ich übrigens einen eigenen Blog geschrieben, „Was, nicht wie„.)

Versehentlich im bekenntnisunabhängigen Unterricht

Das Mädchen kam im Schlepptau seiner Kolleginnen und Kollegen zögernd an meine Tür. Als sie mich sah, stellte sie fest, dass sie „falsch“ war. Sie wollte rechtsumkehrt machen, die Flucht ergreifen. Ich lud sie freundlich und unvoreingenommen ein, doch einfach mal auszuprobieren.

Kaum war sie abgesessen, streckte sie auf, um mir zu sagen, sie dürfe nicht über Jesus lernen.

Ich erklärte ihr, sie solle doch einfach ganz entspannt einmal mitmachen und schauen, wie es im Religionsunterricht bei mir sei. Und natürlich sagte ich, Jesus oder Issa sei sehr wohl ein wichtiger Prophet im Islam. Es sei also durchaus wichtig, von ihm mehr zu wissen. Ich führte dies aber nicht mehr aus; ich wollte nicht ablenken vom eigentlichen Thema meines Unterrichts. Ich sagte ihr noch, wenn sie etwas schockiere und zutiefst erschüttere, solle sie mir das sagen; sie dürfe sich dann gerne zurückziehen und zurück ins Klassenzimmer gehen.

In diesem Jahr habe ich es mir zum Prinzip gemacht, die von mir erzählten Geschichten in der Ursprungsreligion zu kontextualisieren. Die in dieser Stunde erzählte Geschichte stammte aus dem Buddhismus. Mein „Ritualtisch“ war mit einem orangen Tuch bedeckt, eine orange Kerze brannte und ein Räucherstäbchen.

Die Schüler*innen sollen in meinen Stunden auch fühlen, erleben. Ich schritt mit dem Räucherstäbchen kurz durch die Klasse, damit der Duft (oder Gestank, wie einige Junge meinten) auch bei ihnen ankomme. Dabei schwenkte ich das Räucherstäbchen über ihren Köpfen, jedoch ohne besinnliche Absicht, nur zur Verstreuung und „Verkostung“ des Dufts.

Darauf sollten die Schüler*innen aus 6 verschiedenen einfachen Mandalas eines wählen, das ihrem aktuellen Gefühl entspräche. In der Stille durften die Schüler*innen darauf die Mandalas bemalen.

Das muslimische Mädchen begann zu malen, dann jedoch brach es plötzlich in Tränen aus. Sie wolle nicht mehr. Sie sei schockiert von dem Räucherstäbchen.

Im ersten Moment hätte ich fast laut hinausgelacht. Das war doch allzu komisch. Alle Schüler*innen hatten den Duft gerochen und wollten ihn nochmals riechen, waren begeistert über diese Fremdheit. (Die Schüler*innen wollten am Ende der Stunde nochmals an den Räucherstäbchen riechen, so gut hatte ihnen dieses Erlebnis gefallen.)

Angst vor dem Vater (vor der Mutter), Angst vor Strafe – Religion als Knechtschaft?

Das Mädchen beruhigte sich nicht. Ich schickte sie deshalb zurück ins Klassenzimmer. Ich war ziemlich erschüttert: Was war da gerade passiert?

Das Mädchen litt und leidet offensichtlich unter einem hohen Druck. Das hatte ich sofort gemerkt. Der Druck war in der ganzen geduckten Körpersprache zu sehen. Es blickte mir nicht direkt in die Augen. Sie sprach so leise (und so schlecht deutsch), dass ich kaum verstand, was sie sagte.

Obwohl das Mädchen offensichtlich gedankenlos seinen Kolleg*innen hinterher gelaufen und bei mir gelandet war, erschrak sie über ihre Handlung.

Ich kann nur vermuten, was die Gründe für ihre Reaktion sind. Aus Gesprächen mit Lehrpersonen lässt sich ein Bild rekonstruieren.

Die Schattenwürfe dieses Bilds schmerzen und bedrücken mich. Ein Mädchen in einer muslimischen Familie, so gehirngewaschen und klein gemacht. Das einzige?

(Ich will hier genau sein. Ich rede hier von Mädchen, aber auch Jungs werden – spiegelverkehrt und durchaus auch in säkularen und schweiz-stämmigen Familien – in Rollenbilder und Verhaltensweisen gedrängt, gedrückt und gezwungen.)

Befreiung ermöglichen und Offenheit

Ein anderes Beispiel. Nach dem Film „Jamila“ über ein Fussball spielendes holländisches muslimisches Mädchen, das zwar Kopftuch trägt, aber doch gegen die Wünsche ihres Vaters ein westliches Leben will, streckte in einer 5. Klasse ein muslimisches Mädchen auf. Sie erzählte von ihrer Familie, in der ihre Brüder ihr befehlen konnten, was sie zu tun hatte, von ihrem Vater, der sie am liebsten nicht in die Schule schicken würde. Dieses muslimische Schweizer Mädchen weigerte sich, das Kopftuch zu tragen; sie war dabei von ihrer Klassenlehrperson mehrfach unterstützt worden, wie ich erfuhr. Ich spürte, wie befreiend der Film für sie gewesen war: zu sehen, ich bin nicht allein in meinem Kampf für Offenheit und weibliche Selbstbestimmung.

„Es ist gut, wenn meine Kinder wissen, was Christen glauben“

Dieses Ereignis, dieses erste Mal, könnte ich jetzt überbewerten. Ich könnte mich in einem Vorurteil bestätigt fühlen, gegen das ich bisher vehement eingetreten bin.

Gottseidank gibt es dagegen jene Mehrheit von muslimischen Eltern, für welche die Teilnahme am (in Basel-Stadt so genannten „ökumenischen“) Religionsunterricht eine Selbstverständlichkeit ist. Ähnlich wie jener Vater, der mir einmal mitten im Semester, als er mich auf dem Pausenhof getroffen hat, herzlich gedankt hat: „Ich bin so froh, dass mein Sohn bei Ihnen lernt, wer Jesus Christus ist.“ Oder jene Mutter, die meinte: „Es ist gut, wenn meine Kinder wissen, was Christen glauben.“

Meine Grenzen als Lehrperson in Frage gestellt

Die eingangs geschilderte Erfahrung konfrontiert mich zum ersten Mal mit meinen Grenzen als Lehrperson. Intuitiv möchte ich mich für das geistige Wohl dieses Kindes engagieren.

Für ein geistiges Wohl allerdings, könnte ich kultur-relativistisch sagen, das meinen eigenen säkularen Standards gehorcht: für eine selbstverantwortete und verantwortliche Mündigkeit jedes Menschenkinds.

Was für ein Religionslehrer bin ich?

Seit ich zu unterrichten begonnen habe – und das sind jetzt bald 7 Jahre -, stellen die Schüler*innen hin und wieder die eine und einzige zentrale Frage an mich: „Aber was hat das mit Religion zu tun?

Ich habe mich lange gewundert über diese Frage. Meine Antwort – „Alles, was den Menschen betrifft, hat mit Religion zu tun“ – hat sicher nur noch mehr verwirrt. Wie oft bei Kindern und Jugendlichen habe ich als Erwachsener, so glaube ich, die Frage falsch verstanden. (Ähnlich wie so manche Mutter oder Vater, die und der sich in pseudo-wissenschaftlichen Erklärungen über die Entstehung bzw. das Warum des Regens verstrickt und verliert.)

Die Frage war eine der Verwunderung: Weshalb hören wir nicht mehr in inbrünstigen und unzweideutigen Reden und merkwürdigen Zeichen-Handlungen von diesem Jesus, der Gott ist? Weshalb redet dieser Lehrer von den Menschen statt von Gott?

Auf die Frage einer Schüler*in hin habe ich mich auf die durchaus naive Suche begeben nach den Ursprüngen von Glauben. Zurzeit entwickle ich langsam aber kontinuierlich einen neuen Religionsunterricht, der vermutlich näher am NMG- oder Geschichts-Unterricht liegt als so mancher religiöser Institution lieb sein kann. Und ich sehe und erlebe, wie die Schüler*innen langsam zu begreifen beginnen, was Religion wirklich ist. Was Religion wirklich tun und wirken kann. Was die Menschentochter, der Menschensohn bewirken kann.

Ich bin also ein Religionslehrer, der mit einem grossen Misstrauen und einer noch grösseren Distanz zu religiösen Institutionen arbeitet. Wohl wissend, dass viele Menschen gerade diese Nähe zu „beheimatenden“ Institutionen sehr wohl brauchen. Doch mein Antrieb ist es nicht, diesen Institutionen zuzuarbeiten – ein Vorurteil, das uns Religionslehrpersonen sehr oft nicht nur von nicht-christlichen, sondern gerade von konfessionslosen, will heissen: ehemaligen christlichen Elternteilen entgegengebracht wird -, mein Antrieb ist es, sie zu mündigen und denkenden Menschen in diesen zerfallenden und fast schon sinnleeren Institutionen werden zu lassen. (Wenn sie denn überhaupt je in die Nähe einer solchen Institution gelangen werden in unserer ganz und gar sekulären Welt.)

Ja, ich möchte die Schüler*innen in religiöser Kompetenz trainieren, in philosophischer Hinterfragung von Zuständen und Dingen, wie sie sind. Den Schüler*innen eine anti-hierarchische und selbst-denkende, ethisch verantwortliche Haltung vermitteln und – so gut es geht – vorleben.

Dies jedoch durchaus in einer ur-christlichen Haltung. Um mit dem so herrlich erfrischenden Nietzsche zu sprechen (im Anti-Christ, 1888/1894):

Dieser „frohe Botschafter“ starb, wie er lebte, wie er lehrtenicht um „die Menschen zu erlösen“, sondern um zu zeigen, wie man zu leben hat.

 

Eine andere anthropologische Wende

neanderthal-4731928(Foto von sgrunden, Pixabay)

In den letzten Jahren und besonders in den letzten Monaten habe ich mich immer weiter von der katechetisch definierten und hierarchisch strukturierten katholischen Kirche und ihren Glaubenswahrheiten entfernt.

Es war dies auch ein quasi körperlicher Prozess: ich empfinde buchstäblich Übelkeit

  • angesichts unzähliger Priester und Theolog*innen, die biblische Botschaften vergeistigen statt sie in unserem Leben „verheutigen“ und vergegenwärtigen;
  • angesichts von routinemässigen und geist-leeren Eucharistien und
  • angesichts von nachgeplapperten Glaubenswahrheiten, die weder wirklichkeitsnah noch glaubwürdig sind.

Gleichzeitig zweifle ich schon lange an einigen „Wahrheiten“, die uns die Kirche über Lehramt und Katechismus schmackhaft machen will:

  • Jesus ist Gott;
  • Jesus ist auferstanden;
  • Jesus ist „für uns“ gestorben;
  • Jesus war „ohne Sünde“…;
  • und viele mehr.

Einer der wichtigsten Momente in der katholischen Kirche war die so genannte  „anthropologische Wende“, die in der „Verheutigung“ anlässlich des II. Vatikanums passieren sollte. Die Neu-Ausrichtung der Verkündigung und Exegese und Lehre auf den Menschen hin, auf die menschlichen Schicksale, auf das menschliche Dasein. Auf die Sorgen und den Alltag der Menschen. Die Abkehr vielleicht sogar von einem allzu steifen, allzu grundsätzlichen Glauben und die Hinwendung zu einer Wirklichkeitsnähe, die eine Absage an alle neuplatonischen Deutungen unseres Glaubens sein kann. (Dass diese Abkehr ganz offensichtlich nicht erfolgt ist, sah man spätestens unter Jean Paul II.)

Ich selbst mache derzeit eine eigene „anthropologische Wende“ durch. Unter dem Eindruck österlicher Reflexionen und unter dem Einlesen in dogmatische Prinzipien ist mir befreiend klar geworden, dass es nicht um die Nachahmung von Glaubensgrundsätzen gehen kann (eine Binsenwahrheit, gewiss), – sondern darum, die eigenen Glaubenswahrheiten zu finden und nach diesen – in der Tradition der katholischen Kirche immerhin – zu leben.

Zu meiner eigenen „anthropologischen Wende“ haben neben den obigen Reflexionen verschiedene Bücher und Impulse beigetragen:

  • Das Tagebuch der Menschheit“ war und ist eine Lektüre, die Bibel evolutionsbiologisch und anthropologisch liest und manchem Theologen seine vergeistigten Exegese-Yoga-Übungen austreiben würden;
  • meine Beschäftigung mit den möglichen Glaubenswelten in der Steinzeit und im Altertum (von Naturreligionen bis zu den Gilgamesch-Mythen) sowie

Das Bemühen, den Religionsunterricht auch zu jenem Moment im Leben der Schüler*innen werden zu lassen, in der sie sich „einreihen“ können in Jahrtausende von Geschichten, Überlieferungen und Traditionen, in denen sie ihr eigenes Erleben gespiegelt sehen können.

Das verändert meinen Religionsunterricht. Es verstärkt seine „erlebnispädagogische“ Richtung. Und es entfernt ihn noch weiter von der herkömmlichen, sehr christlich grundierten Erzählung, die den Schüler*innen auch heute noch geboten wird. Auf einmal, so stelle ich freudig fest, geht es nicht mehr nur um eine Überlieferung von Geschichten, die „unsere westliche Kultur massgeben geprägt haben“, wie es immer so schön heisst.

Nein, hier geht es vielmehr um das Nachdenken über menschliches Leben, Erleben, Leiden, Lieben und Sterben. Der Religionsunterricht wird zu einem Fach, das in Tat und Wahrheit anregt zum Nachdenken und zur Mündigkeit. Hier wird nicht mehr nur ausschliesslich eine Religion präsentiert und mit Pseudo-Ritualen (Kerzen anzünden, Liedlein singen) angereichert.

In dieser Form lernen die Schüler*innen vielmehr, Verständnis für religiöse Handlungen und Glaubenswelten zu entwickeln. Sie lernen auf Gemeinsamkeiten achten (natürlich besonders bei den drei monotheistischen Geschwisterreligionen) und faktenbasiert erkennen.

Und es sind diese Gemeinsamkeiten, die Religionen immer wieder herunterspielen und dagegen die Unterschiede hervorkehren und für wichtig halten.

Und wenn die Schüler*innen dann mit den Grundsätzen ihrer eigenen Religion konfrontiert werden – falls sie das werden, muss ich hinzufügen -, werden sie unterscheiden können.

Sie werden das Ähnliche, das Menschliche, das Allgemeine zuerst sehen und dieses betonen. Sie werden jeglicher religiöser Gewalt und jeglicher Eingleisigkeit in Deutung oder Glauben widersprechen.

Und das, so hoffe ich immerhin, wird die Zukunft der Religionen friedlicher machen, weil den Menschen und ihrem Erleben und Leben noch immer stärker zugewandter.

 

Ein anderer Ort

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Seit ich in der staatlichen Schule das Fach „ökumenischer Religionsunterricht“ gebe, bin ich bemüht um eine genaue Umschreibung, nein: Definition dieses Fachs.

Diese scheint mir nicht vor dem Hintergrund der paar ex-christlichen Eltern, die sich auflehnen gegen die scheinbar unreflektierte Rede von Gott oder gegen einen vermeintlichen Kreationismus anlässlich der Schöpfungs-Geschichte, notwendig.

Genausowenig geht es mir um eine Selbstrechtfertigung oder gar Selbst-Legitimierung meiner Arbeit.

Nein. Ich versuche diesen Unterricht deshalb so genau wie möglich zu definieren, um seine Bedeutung in der heutigen Schule, Gesellschaft und Lebenswelt hervorzuheben. In vielerlei Hinsicht handelt es sich dabei um die „Herstellung“ eines anderen Orts: eines Raums, in dem über Zustände, Umstände, Verhältnisse und Beziehungen geredet und nachgedacht werden kann, die für jeden Menschen essentiell sind, von der Charakterbildung über die Weltsicht bis hin zu der Lebenseinstellung.

Ich möchte im Folgenden einige Punkte für die Bedeutung eines Religionsunterrichts als besonderen und besonders relevanten Ort im Schulbetrieb anführen.

Ein anderer Ort: Geschichten 

In diesem Blog habe ich schon mehrmals über die Bedeutung von Geschichten geschrieben – und werde es sicher noch mehrmals tun (müssen).

Geschichten als Lebensgestalter 

Dabei wird mir immer von Neuem klar, dass meine Lieblingsgeschichten jene Geschichten sind, die sofort „ankommen“. Jene Geschichten also, zu denen die Schüler*innen unmittelbar und unvermittelt den Zugang finden, die sie sofort verstehen. Das sind meist auch jene Geschichten, die sofort „Eingang“ in ihre Gedankenwelt finden. Und sich dort im besten mit ihren Lebensumständen und ihrer Sicht aufs Leben verbinden. Jene Geschichten, die fast natürlich zu einem Bestandteil ihres instinktiven Argumentariums werden für jene Momente, in denen sie in einer Krise, im Zweifel oder sonstwie im Lebenssinn bedroht sind.

Geschichten gegen die Geschichtenarmut 

Gleichzeitig weiss ich um die Geschichtenarmut unserer Welt. Diese Armut hat zwei Gesichter:

1. Fehlende Geschichten in der Familie: Viele meiner Schüler*innen wachsen in Familien auf, in denen das Erzählen (sei es am Bett oder am Mittags- oder Abendtisch) keine Bedeutung hat. Dass ein Erwachsener wie der Religionslehrer sog erne und enthusiastisch Geschichten erzählt, wirkt sich positiv aus: Die Schüler*innen erkennen, wie wichtig das Erzählen von Geschichten – auch aus dem eigenen Erleben – für die Selbstwerdung ist, für die Selbstwertung. Sie erkennen auch den gemeinschafts- und zusammenhaltsfördernden Wert des Geschichtenerzählens. Viele meiner Schüler*innen sind regelrecht „geschichtenhungrig“, kommen in meinen Unterricht, weil hier das Erzählen, das Imaginieren einen wirklichen (Stellen-) Wert hat.

2. Eigenes Erleben ist keiner Geschichte wert: In anderen Kulturen mag das Erzählen zur DNA eines erfüllten menschlichen Lebens gehören. Nicht so in einem mitteleuropäischen, zur Nüchternheit und Selbstentwertung neigenden Land wie der Schweiz: Das eigene Leben, die eigene Lebenserfahrung wird hier nicht als „erzählenswert“ verstanden. Und wer seine Erfahrung nicht erzählenswert findet, wird nicht erzählen lernen. Doch nur über das Erzählen – so meine Einsicht – wird Verarbeitung, Vertiefung und Verständigung möglich. (Als Beispiel kann folgende Überlegung dienen: Da wir keine Erzählungen von Flüchtlingen hören, fällt es uns schwer, ihre Lebenserfahrung integrativ in unsere eigene Weltsicht einzubinden.)

Manchmal wünschte ich mir fast, wir würden uns weg von einer visuellen hin zu einer oralen Gesellschaft entwickeln. Wünschte ich mir, Erzählen würde ein anerkanntes Schulfach.

Ein anderer Ort: Imaginieren 

Auch das Imaginieren und die Wertschätzung für die Einbildungs- und Vorstellungskraft hat in unserer Gesellschaft kaum eine Bedeutung. Dabei ist es gerade für die Selbstwerdung und Selbstwertung unumgänglich, sich mit der Imagination (der eigenen und der anderer) auseinanderzusetzen.

Im Religionsunterricht findet sich immer wieder der Platz, die Vorstellungskraft der Schüler*innen einzusetzen. Selbst dann, wenn ihre Vorstellungskraft bereits von kapitalistisch-hollywoodianischen Vorbildern besetzt ist, kann es gelingen, dass die Schüler*innen eine „andere Weltsicht“, eine „andere Lebenshaltung“ imaginieren.

Denn wer nicht gelernt hat, sich ein „anderes Leben“, eine „andere Welt“ vorzustellen, wird sein Leben in einem Gefängnis von unreflektierten, nachgesprochenen oder unverdauten Ansichten fristen.

Ein anderer Ort: Werte und Urteile prüfen 

Betrachtet man die Auswirkungen von Geschichten und die imaginative Ermächtigung auf Schüler*innen genauer, wird man feststellen, dass sie dazu befähigt werden, Werte und Urteile zu hinterfragen und überprüfen.

Wer dies gelernt hat – die Kompetenz, hinter Werte und Urteile zu blicken -, wird im Leben unvoreingenommener und empathischer mit anderen Menschen in Beziehung treten.

Ein anderer Ort: Erfahrungen machen 

Ein Grossteil des schulischen Unterrichts dreht sich um den Erwerb von Kompetenzen, die mit Wissen und Wissensgewinnung zu tun haben: mathematische Lösungen oder Lösungswege finden, thematisches Wissen erarbeiten, Texte verstehen lernen, etc.

Dabei bleibt oft auf der Strecke, dass dabei nur die „Oberfläche“ gestreift wird. So sind Informationen oder Wissen über religiöse Feste, Bräuche oder Glaubensgrundsätze gut und recht. Doch das Verstehen ihrer Wurzeln, Gründe und Formen kann dieser sachorientierte Ansatz nicht vermitteln.

Erst die Erfahrung von Lebensumständen oder Lebensgeschichten jedoch wird jenes Wissen vermitteln, das unser Schüler*innen zu reiferen, nachdenklicheren Menschen formen kann. Was meine ich mit Erfahrung(en)?

Im Rahmen des übergreifenden Themas der „Gerechtigkeit“ habe ich die Schüler*innen zum Beispiel in ein Planspiel geschickt, in dessen Rahmen sie die Rolle verschiedener gesellschaftlicher Positionen (arm, reich, arbeitslos, angestellt, etc.) erleben: in einer kontrollierten, kurzfristigen und spielerischen Installation in der Religionsstunde. Dabei haben die Schüler*innen spielerisch, aber am eigenen Körper und Empfinden erfahren, was es heisst, in einer anderen gesellschaftlichen oder persönlichen Lage zu sein.

Diese Erfahrung hat manche Schüler*in sehr nachdenklich und weitaus empathischer gemacht für das Schicksal anderer Menschen.

Ziel: eine andere Welt ermöglichen 

Natürlich könnte ich noch viele andere Merkmale aufzählen, die den Religionsunterricht, wie ich ihn verstehe, kennzeichnen und als „anderen Ort“ charakterisieren.

Letztlich aber messe ich mein Unterrichten daran, ob und inwiefern es dazu führen kann, den werdenden Menschen andere Wege, andere Welten aufzuzeigen. Dies natürlich immer vor dem Hintergrund der Erzählungen von Menschen in Beziehung zueinander und zu Gott – dem grossen Fragezeichen und dem grossen Anderen.

 

 

 

Direkt ins Herz. Teil 1

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(Esau verkauft sein Erstgeburtsrecht; Giovanni Assereto, ca. 1645)

Im Beitrag „Wirkliche Geschichten“ habe ich über den Zusammenhang von biblischen oder koranischen Geschichten und den Lebenswelten, besser: den Lebenswirklichkeiten der Menschen, insbesondere der Kinder, spekuliert.

Damals ging es mir darum, die abwehrende Haltung vieler Menschen gegenüber Glaubens- und Lebensgeschichten aus Bibel und Koran zu hinterfragen. Darum, dass es „eben nicht nur eine Geschichte“ ist, sondern tief an unsere Erfahrungen rührt und in unsere Weltanschauung leuchtet.

Ich möchte hier nun zwei Geschichten kurz vorstellen, die sowohl mich als die Kinder meistens direkt in das Herz treffen. Und natürlich anführen, weshalb sie das tun. Und warum das wichtig ist.

 Jakob und Esau – Brüder und Rivalen 

Die Geschichte aus Gen 25, 19-26 erzählt von zwei ungleichen Zwillingen. Esau ist der Sohn seines Vaters Isaak, ein Mann ohne Wenn und Aber. Jakob ist der Sohn seiner Mutter Rebekka, ein Muttersöhnchen. (Ich übertreibe, aber nur wenig.)

In der Bibel werden ihre Konflikte als Kinder angedeutet (Gen 25, 37-43), sie brechen erst recht aus, als es um das Erbe ihres Vaters geht (Gen 27, 1-45).

In meinem Unterricht benutze ich die Geschichte nach Laubi[2], besonders den dort geschilderte Konflikt vor dem berühmten „Linsengericht“.

Diese Rivalität zwischen fast gleichaltrigen Geschwistern (ob Mädchen oder Jungen) trifft die meisten Kinder enorm. Sie können sowohl die Rivalität zwischen den beiden Brüdern als auch die ungerechte bzw. ungleiche Behandlung vonseiten der Eltern sofort nachvollziehen.

Manchmal sitzt auch ein Zwilling oder ein Zwillingspaar im Kreis. Ihre eigene Erfahrung, sofern sie diese zu teilen bereit sind, kann die Geschichte von Jakob und Esau noch lebhafter, noch lebensnaher machen. So sorgt oft nur schon die Erwähnung, dass der eine oder die eine der beiden 2 Minuten vor dem andern geboren worden ist, für eine zusätzliche Glaubwürdigkeit der erzählten Geschichte.

Die Erzählung rund um das Linsengericht, die zwar für die Ungerechtigkeit der Behandlung von Esau essentiell ist, wird angesichts heutiger Lebenswelten meist nicht verstanden. Natürlich lässt sie sich erklären und darlegen, aber sie wirkt niemals so unmittelbar wie die Schilderung der Beziehung zwischen den beiden.

Das Brüderpaar Esau und Jakob kann also sehr schön versinnbildlichen, wie eng und nah die Bibel auch heute noch an den Lebenswelten von Kindern oder eben Menschen erzählt.

Dagegen fällt der rechtliche, gesellschaftlich-regelnde Teil des Betrugs um das Erstgeburtsrecht weitaus schwerer zu vermitteln. Hier erscheint es zudem als unwahrscheinlich, dass ein Vater seine beiden eigenen Söhne nicht auseinanderzuhalten vermag, obwohl er alt und blind ist.

Während also die eigentliche Thematik geschwisterlicher Rivalität um die Elternliebe oder um den Vorrang auch heutige Lebensbefindlichkeiten trifft und anspricht, kann die Handlung rund um den väterlichen Segen keine ähnliche Glaubwürdigkeit beanspruchen.

Dass diese Geschichte eines Betrugs aber dennoch erzählt zu werden hat, steht ausser Frage.

Esau aufwerten!  Ein persönliche Auslegung

Wie mit vielen Geschichten in der Bibel, insbesondere im alten Testament, fühle ich mich zu den Bösen, den vermeintlich Schlechten und auch den Frevlern hingezogen. Nicht umsonst ist mein Lieblingskönig im Alten Testament nicht Salomo, sondern Saul.

Ich sehe es auch christlicherweise als meine Aufgabe, die „Liebe zum Feind“ immer wieder fühlbar zu machen: dass jemand „Böses“ durchaus auch eine Vorgeschichte und damit vielleicht gar „Gründe“ für sein So-Böse-Sein haben könnte, dass ihr oder ihm das Leben einfach zur Hölle geworden sein kann.

Vor diesem Hintergrund geht es mir in dieser Geschichte darum, Esau als positive, ja geradezu kindlich-unschuldige Person darzustellen. Auch Kinder denken selten über den Moment hinaus. Genau wie Esau, als er sich um das „Erstgeburtsrecht“ foutiert – solange er nur was Warmes zu essen kriegt.[3] (Ein ähnliches Phänomen ist das selbst bei vielen meiner 4. Klässlern noch nicht erloschene „magische Denken“.)

Gleichzeitig kann Esau durchaus noch einen weiteren Unschuldsfaktor zulegen, wenn daran gedacht wird, dass die Jäger und Sammler der Steinzeit – wie jüngst zum Beispiel bei Hariri zu lesen (Eine kurze Geschichte der Menschheit) – durchaus glücklich und satt waren. Und darüber hinaus ein stressfreieres, gesünderes und vermutlich damit erfüllteres Leben führten.

Im Gegensatz dazu lässt sich Jakob zwar weiterhin als der Überlegenere, der Schlauere, Vorbedachtere darstellen. Zudem – Achtung, machistische Vorurteile oder Deutungsmuster einer patriarchalen Gesellschaft? – ist ja wiederum eine Frau für die Hinterlist eines Mannes verantwortlich! Und mythologisch steht Jakob dann auch für den Übergang von der eher nomadischen Jägerkultur in die eher sesshafte Kultur der Jungsteinzeit.

Eine treffende Geschichte 

Zusammenfassend liesse sich etwa Folgendes sagen über diese Geschichte:

  • Sie findet in der Lebenswelt der Kinder nicht nur Entsprechungen, die Lebenswelt der Kinder spiegelt sich in der Geschichte von geschwisterlicher Rivalität und Zusammenleben.

  • Die Geschichte eröffnet zudem den Dialog über Persönlichkeit (wer bin ich?),  Vorurteile und Prägung (was macht mich aus?); eine Diskussion, die in unserer Zeit der Frühleistung und der Abklärung und Bestimmung von Verhaltensmustern bzw. Verhaltensauffälligkeiten wichtig bleiben wird.

  • Und wie häufig mit Bibelgeschichten ist sie eine Einladung an die Kinder und mich, darüber nachzudenken, was anders geschehen könnte, was zu ändern wäre – im Verhalten der Protagonisten und – übertragen auf unsere Situationen – in unserem eigenen Verhalten (gegenüber unseren Mitmenschen, unseren Nächsten).

Und die Religion in all dem? 

Und wie immer stellt sich die logische Frage: Was hat das (noch) mit Religion zu tun?

Für mich als Religionslehrer sind die biblischen und koranischen Geschichten ein Bild von Menschenwelten, ein Abbild von Menschenerfahrung. Ein unglaublicher Schatz an Erfahrung sogar: von Leid und tief reichendem Schmerz über Freud, von Niederlagen bis zu grossen Erfolgen. Sie zeigen auf, wie Menschen handeln (können).

Es wäre in meinen Augen sträflich, dieses Potenzial an Situationen und menschlicher Erfahrung nicht zu nutzen als Erzähl- und Reflexions-Stoff.

Und ich kann oder muss mir eingestehen, dass mich der „Glaubens-Inhalt“, das „von Gott angeleitet oder gelenkt sein“, das „auf Gott verwiesen sein“ in all diesen Geschichten nicht annähernd so stark interessiert wie dieser menschliche Erfahrungsreichtum.

Und ich erkenne, dass ich in vielen Dingen ein ebenso säkularisierter Mensch bin wie alle um mich her:

  • Religion ist eine der möglichen Wurzeln für ethisches Handeln,

  • Glauben hilft gewiss beim guten Handeln (vorausgesetzt, du glaubst an die Notwendigkeit des Guten in der Welt),

  • aber in den Geschichten aus den Religionen finden wir Hinweise darauf, was im Leben gelingt und was missglückt (gelingen oder missglücken kann), mit und auch ohne den Glauben an Gott oder Allah.

 

 


[1]

Laubi, Werner: Geschichten zur Bibel. Abraham, Jakob, Josef, Zürich/Einsiedeln/Köln 1985 (1), S. 50-54.

[2]

Laubi, Werner: Geschichten zur Bibel. Abraham, Jakob, Josef, Zürich/Einsiedeln/Köln 1985 (1), S. 50-54.

[3]

So leben die Schüler*innen häufig so stark im Moment, dass sie die herrschende gesellschaftliche oder schulische Ordnung vergessen oder verlassen. Ihr Erstaunen ist oft gross, wenn sie trotz mehrfacher Vorwarnung mit einer „logischen Folge“ leben müssen…

Wirkliche Geschichten – wirkliche Sorgen

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Jonatan und David verabschieden sich voneinander: eine Geschichte, wie auch zwei Männer Gefühle ausdrücken und aneinander hängen können. (Bild von FreeBibleimages.)

„Sprechen wir aber über die wirklichen Sorgen, wenn wir sittsame Konversation über vermeintlich altbekannte Bibeltexte führen? Wie oft habe ich mich schon in die „blutflüssige Frau“ eingefühlt? Sieben Mal oder sieben Mal siebzig Mal? Bringt uns das weiter? Soll ich wohlgeordnete Gespräche zum Diabolog machen, eine queere Frage stellen, die alles durcheinander wirft?“ (Ina Praetorius in Fama 2019/4)

In meinem persönlichen Alltag wie auch in meinem Arbeitsalltag als Religionspädagoge spielen Geschichten eine dominierende Rolle. Sie sind das Schmieröl für die Übersetzungsketten, sie sind die elastischen, vielfach belastbaren Transmissionsriemen, die die Arbeit am Verständnis meiner und unserer Umwelt am Leben halten und vielleicht gar antreiben.

Manchmal berührt eine solche Geschichte etwas Zentrales in mir oder in den Kindern. Wenn der Bericht von Moses Tod auf die Erfahrung vom Sterben des geliebten Grossvaters trifft etwa. Dann wird wachgerufen, was nicht ausgesprochen wird; aufgeweckt, was eingelullt wurde.

Auch ich bin in solchen Situationen schon erschrocken und wollte die Wahrheit hinter der Geschichte bemänteln oder ins Sinnbildliche verschieben. Und es ist nicht erstaunlich, denn ich schreibe „Wahrheit hinter der Geschichte“: handelt es sich denn nicht eher um die „Wahrheit der Geschichte“?

Es ist eben nicht nur eine Geschichte 

In solchen Fällen beruhigt das Wort: „Es ist nur eine Geschichte“. Ähnlich wie wir nach einem Albtraum sagen: „Es war nur ein Traum“.

So habe ich es schon erlebt, dass Schüler*innen nach der Karfreitagserzählung Trost erfahren wollten darin, dass ich ihnen bestätigte, das sei eine Geschichte. Das konnte ich natürlich nicht: Gewisse Geschichten sind eben mehr als nur Geschichten, gewisse Geschichten sind eben mehr als nur Sinnbilder oder Exempel. Sie betreffen uns hart und gar zu nah.

Ebenso habe ich es schon erlebt, dass ich eine Geschichte mit zusätzlichen „Kissen“ bzw. „Haken“ versehen habe, einfach um ihre Härte und gewiss auch Brutalität abzuschwächen. So versucht ein Engel den Absalom davon abzuhalten, gegen seinen Vater in die Schlacht beim Wald Efraim zu ziehen (2 Sam 15-18), oder Sauls Argumente gegen die Grausamkeit Gottes (gegenüber den Amalekitern) werden deutlicher und „heutiger“ ausgearbeitet (1 Sam 15, 5-9).

Aber ist es legitim, den Streit zwischen Abel und Kain (Gen 4) auf den simplen Streit in der Familie „herunterzubrechen“?

Die Ferne in den Geschichten 

Denn allen diesen Geschichten jedoch ist eine Ferne eingeschrieben. Monarchische Verfehlungen, Stammesfehden, Bauernkalender-Weisheiten oder Gotteskadavergehorsam… Nur sehr wenige Geschichten sind für die Schüler*innen und die Mitmenschen aus ihrer eigenen Lebenswelt heraus verständlich. Daher erschliesst sich ihre Sinnbildlichkeit und/oder ihre „Botschaft“ nur sehr schwer. (Gewiss lässt sich einwenden, dass die Erschliessung der Geschichte selbst eine Fähigkeit / Kompetenz sein oder werden kann.)

Aber ich rede hier ja nicht über Erzähltechnik(en). Ich rede über Lebenswelten. Und natürlich würde ich nicht so weit gehen, die Bibel (oder den Koran) grundsätzlich in unsere Lebenswelt zu übersetzen. (Obwohl ich das durchaus spannend finde, siehe zum Beispiel die Übersetzung der Bibel in Emoji-Sprache!)

Das ferne Religiöse  – der ferne Gott

Abgesehen von der aussterbenden Nische des konfessionellen Religionsunterrichts, der verzweifelt in klassischer Weise an die „Geheimnisse der Kirche“ zu erinnern und daran festzuhalten versucht, leben wir in einer Welt, die von Religiosität und Gottbezug nichts mehr wissen will. Und erleben die religiösen Impulse des Islam – so der einfache Zusammenhang von Tun und Ergehen – als Gefahr für unsere eigene, christliche oder moderne Lebenswelt.

In dieser modernen Lebenswelt werden simple Rituale zu tiefsinniger Bedeutung hochstilisiert, gemeinsames Singen oder Kochen wird zum Gemeinschaftserlebnis, einfachste menschliche Verhaltensweisen werden ethisch analysiert und überhöht.

Das Fragen nach einer Person namens Gott oder Jahwe oder Allah aber, das in den meisten Geschichten aus Bibel und Koran dominiert (siehe die Beispiele oben), betrifft uns nicht mehr. Menschen, die an einen direkten Zusammenhang ihres Tuns und ihres Ergehens glauben und diesen Zusammenhang in Gottes Macht stellen, sind selten. Kurz: der Impuls zum ethischen verantwortungsvollen Handeln gründet heute nicht mehr in dem Glauben an einen Gott und seine Weisungen oder Befehle. 

Wirkliche Sorgen hinter den Geschichten – Geschichten von wirklichen Sorgen 

Natürlich lassen sich Gleichnisse und Geschichten „übertragen“, in unsere heutige Lebenswelt hinübertransportieren. Sie dienen dann gewiss ähnlich wie in ihrer ursprünglichen Lebenswelt als Exempel und Lehrstücke, die sich zur Umsetzung im eigenen Leben anbieten. Und die Erzählenden laufen wieder und wieder Gefahr, im Sinnbildlichen stecken zu bleiben.

Wie oft habe ich es in kirchlichen Kreisen erlebt, dass ein Gleichnis auf die übertragene, ethische Bedeutung „verkleinert“ wurde! (So erinnere ich mich an eine wundervolle Auseinandersetzung zum Gebot der Feindesliebe, Mt 5,43-48, in deren Rahmen das Gebot der Feindesliebe als „schlicht zu hoch für den normalen Menschen“ bezeichnet wurde.)

Anders gesagt: Geschichten sind auch Hindernisse auf dem Weg zu den „wirklichen Sorgen“. Sie sind Zufluchts- und daher Ablenkungsorte von unserer Gegenwart, von unserer eigenen Geschichte.

Lebensschule: eigene Geschichten  

Aus dieser „Erkenntnis“ müsste dann doch einiges zu gewinnen sein.

Einerseits werden wir nicht ohne Geschichten auskommen, vor allem nicht ohne unsere eigenen, die wir uns öfter erzählen könnten als unsere Scham es erlaubt.

Andererseits aber ist es notwendig, die wirklichen Geschichten ernster zu nehmen und in unsere Nacherzählungen von Gleichnissen und überlieferten Geschichten einzubinden.

Und in letzter Konsequenz ist das obige zu Ende zu denken: Weshalb Kirche ihre Relevanz verloren hat und weiter verliert – auch in meinem Herz und Verstand -, hängt mit der Anämie der erzählten Geschichten zusammen. Damit Geschichten leben, damit sie Lebensschule sein können, braucht es Details und Gegenwartsbezug. Braucht es letztlich keine Verweise auf Diesseitigkeit und Gutmenschentum, sondern Durchblutung und Vergegenwärtigung („Aggiornamento“ wie es Papst Johannes XXII genannt hätte).

Will auch heissen: nehmen wir unsere eigenen Geschichten als Exempel, als Lehrstücke. Tun wir das, werden wir handeln müssen: zeigen sie doch klar und deutlich, wo und wie die Probleme, Sorgen und Motivationen sind, die wir (gemeinsam oder allein) überwinden müssen.

Wenn wir unsere eigenen Geschichten als Lebensschule behandeln (als Lehrpersonen oder als Schüler*innen, als Christ*innen oder Muslim*innen), kommen wir einem Zustand nahe, den ich ganz gerne als „Reich Gottes“ bezeichnen würde.

Kommen einer Handlungsbereitschaft näher, die uns gegen die wirklichen Sorgen vorgehen lassen wird.

Aber das ist natürlich auch nur ein Traum.

Was, nicht wie

Bekenntnis-unabhängiger Religionsunterricht – oft auch “ökumenischer Religionsunterricht” genannt: eine Möglichkeit, Kinder für Glaubenssachen zu begeistern ohne sie zu indoktrinieren. Eine innovative Form des modernen Religionsunterrichts, der nicht das “Wie” einer Religion lernen will, sondern das “Was”. Keine Vermittlung von Glaubenspraxis, sondern von Fakten, Informationen und – religiösen Kompetenzen.

Rund 5 Jahre habe ich als “Katechet” gearbeitet. Das heisst, ich habe mich mit der konfessionellen Seite von Religiosität – in meinem Fall der katholischen Seite – befasst. Ich habe dabei versucht, Kindern unterschiedlicher Altersstufen Glaubensinhalte der katholischen Kirche zu vermitteln. Von der Sakramentenlehre (Taufe und Erstkommunion) bis zu dogmatisierten Glaubensinhalten (Dreifaltigkeit). Weshalb ich das nicht mehr tun will / werde, lesen Sie in dem Blogeintrag “Abschied von einer Institution”.

Ängste und Befürchtungen gegen Neugier und Interesse

Seit bald einem Jahr nun unterrichte ich an einer Primarschule in Basel-Stadt. Diese Schule hat eine vielfältige, im besten Sinne diverse Schülerschaft. Die Kinder kommen nicht nur aus verschiedenen Kulturen, sondern bringen auch ganz unterschiedliche Religionen in den Religionsunterricht mit.

Dies tun auch die Eltern. Befürchtungen und Ängste sind viele zu hören. Die Angst vor der christlichen Indoktrination bei muslimischen Eltern auf der einen Seite; die Furcht vor dem Verlust der christlichen Werte und Geschichte bei christlichen Eltern auf der andern Seite. Wieder andere Eltern wollen ihre Kinder ganz und gar laizistisch erzogen wissen: aber auch sie glauben daran, im Religionsunterricht würden ihre Kinder mit Glaubensinhalten gefüttert und mit falschen theologischen Lehren, die auf keinerlei wissenschaftlichen Fakten basieren.

Ich aber erlebe die Schüler*innen als grundsätzlich neugierig, wissensbegierig. Sie wollen hinter die Maske der Religionen schauen können, unbefangen Fragen stellen dürfen. Und sie wollen Geschichten hören – von der Wüstenwanderung Moses über die Auferstehung Jesu bis zur Himmelfahrt Mohammeds.

Kompetenzen erwerben

Der zeitgemässe Religionsunterricht ist kompetenzorientiert. Genauso wie der Lehrplan 21. Grundsätzlichen handelt es sich dabei um religiöse und gesellschaftliche Kompetenzen oder Fähigkeiten. Die Schüler*innen erwerben diese im Religionsunterricht. Folgendes ist dabei besonders hervorzuheben:

  • Diese Kompetenzen oder Fähigkeiten ermöglichen ihnen in ihrem jetzigen und zukünftigen Umfeld, kompetent mit der modernen weltanschaulichen Pluralität umzugehen.
  • Sie erkennen die Bedeutung von Toleranz und Differenz und können sich selbst begründete Urteile über andere Perspektiven oder Positionen bilden.
  • Dies tun sie in einer friedlichen, friedfertigen Haltung.
  • Die christlichen Werte und Geschichten werden als Aussagen über die menschliche Existenz und Identität gelesen und gedeutet.
  • Die Schüler*innen können ihre eigene Religiosität finden und ausdrücken.

Gleichzeitig geht es in meinem eigenen Unterricht um drei Arbeitsfelder:

  1. Religiöse Ausdrucksformen (er) kennen und achten. So lernen wir nicht nur christliche, sondern auch jüdische und muslimische Rituale kennen. Dabei erkennen die Schüler*innen nicht nur die Parallelen zwischen den drei grossen Religionen, sondern die Gründe für Unterschiede und Gemeinsamkeiten. Sie verstehen die Bedeutung von Ritualen und religiösen Ausdrucksformen als menschliches Bedürfnis, das allen Menschen gemeinsam ist.
  2. Glaubenswelten erforschen. Spielerisch, mit Anschauungsmaterial und Anwendungsbeispielen werden andere Religionen erforscht. Schüler*innen erfahren und erleben Glaubensgrundsätze anderer Religionen und lernen sie in ihre eigene Lebenswelt einzuordnen.
  3. Fragen stellen, argumentieren und urteilen. Dies ist für mich fast die wichtigste Facette meines Unterrichts. Schon Erstklässler haben wichtige Fragen: “Wo ist Gott zuhause?”, “Wo gehen die Toten hin?” oder “Weshalb darf man Gott nicht darstellen?”. In gemeinsamer Debatte und Diskussion erörtern wir mögliche Antworten. Dass es manchmal keine abschliessende Antwort auf eine Frage gibt, sondern nur Haltungen und/oder persönliche Einsichten, ist ein zusätzlicher Gewinn solcher Augenblicke. (Denn in einer Welt voller eindeutiger Angebote und abgründiger Versuchungen gibt es nichts, was so wertvoll wäre wie das Wissen darum, dass nicht alles abschliessend zu erklären und begründen ist. Ja, dass manchmal sogar die eindeutigen Antworten schlichtweg Lügen sein können.)

 

Fragen nach dem Was

Religionen haben schon immer verführt. Sie bieten mehr oder minder feste Glaubens-Systeme an. Abweichler oder Andersdenkende werden verteufelt oder vertrieben oder gedemütigt.

Die Schüler*innen bringen viel Wissen aus ihrem Lebensalltag mit. Das meiste aber haben sie unreflektiert (von Jugendlichen oder Erwachsenen) übernommen oder gehört. Als Religionspädagoge bin ich für sie eine Fachperson, die ihnen kompetente Antworten oder Hinweise geben kann. 

Darüber zum Beispiel, weshalb es vollkommen falsch ist, eine Mitschülerin als „haram“ zu bezeichnen. Darüber, dass der Glauben deines Vaters oder der Atheismus deines Vaters nichts mit deinem eigenen Atheismus oder Glauben zu tun haben muss; dass du dir selbst einen eigenen Zugang zu der überlieferten Religion eröffnen sollst.

Umso wichtiger ist es vor diesem Hintergrund für die Schüler*innen, die Hintergründe von Religion zu erfahren, das “Was”. Ich bringe den Schüler*innen nicht bei, wie sie glauben sollen, sondern was die Menschen der verschiedenen Religionen glauben. Oder an was.

Denn das “Wie” des Glaubens ist eine Sache, die sie entweder bei sich in Familie und Gemeinde erfahren oder für sich selbst entdecken (sollen) – auf dem Weg zu einer selbstständigen, mündigen Religiosität. Aber nicht mit mir in der Schule.

Das Beispiel “Gebet”

Wenn ich mit Schüler*innen also z.B. über das Beten spreche, werden wir nie gemeinsam beten. Sogar Erstklässler wissen heute schon, wie gross der Unterschied zwischen christlichem und muslimischem Beten ist.

Nein, wir werden

  1. Herkunft und Ablauf eines Gebetsrituals erkunden und
  2. unseren eigenen Ausdruck für Gefühle, Hoffnungen und Wünsche formulieren lernen.

Bereits im ersten Punkt wird deutlich, dass die Schüler*innen am Ende eines solchen Lernprozesses vergleichen und urteilen können. Vorurteile werden verhindert oder abgebaut.

Im zweiten Punkt dann können die Schüler*innen Ausdrucksformen für ihre eigenen Sorgen, Wünsche und Gefühle finden. Dies ist in meinen Augen ein wesentliches Ziel religiöser Bildung: Nicht nur die Suche nach einem “Du” in Not und Bedrängnis, Freude und Glück, sondern auch das Finden einer Sprache für ein Gespräch mit diesem “Du”.

Und vor allem – das Gemeinsame finden und sich selbst kennen lernen

In dieser Form von Religionsunterricht liegt letztlich die Chance darin, dass Schüler*innen lernen, wie viel mehr Gemeinsames als Trennendes die verschiedenen Religionen haben. Immer wieder stosse ich auf Erstaunen, wenn ich Jugendlichen und Erwachsenen erzähle, dass für Muslime Jesus ebenso ein Prophet ist wie Moses. Oder in einem anderen Beispiel: Wie spannend ist es doch, das “letzte Abendmahl” vor dem Hintergrund des Seder-Abends zu betrachten?

Sie merken, ich bin ein vehementer Vertreter von Interreligiosität. Wenn wir über Gründe und Hintergründe unserer Existenz nachdenken, über Schöpfungsmythen und Erzväter-Erzählungen, begegnen wir uns immer wieder uns selbst. Und was anderes ist in der heutigen komplexen und unübersichtlichen Welt wichtiger als das Wissen von uns und über uns selbst?