Eine „gescheiterte Existenz“?

„Like ships in the night“ (Danke an Greg Montani für die Fotografie!)

Heute habe ich doch tatsächlich über eine Person, die mir einmal nahe stand, gesagt, sie sei eine gescheiterte Existenz. Die Zuhörerin, die mir ebenfalls einmal sehr nahe stand und eine gesunde ironische Distanz zu mir gewonnen hat, ist daraufhin in ein fröhliches, wenn auch sarkastisches Lachen ausgebrochen, weil sie in mir, wie ich zu vermuten mich berechtigt glaube, in etwa ähnlichem Sinne eine solche „gescheiterte Existenz“ zu kennen glaubt. Ich konnte als Reaktion nicht anders als darüber und vor allem über mich selbst lachen.

Denn die Tatsache eines Lebens in Prekarität – ebensowenig wie das Bewusstsein, in vielerlei Hinsicht in meiner Lebenshaltung oder -einstellung und daher in der Art und Weise, wie ich auf Ereignisse und Erfahrnisse reagiere und diese reflektiere, weit vom Mainstream einer wohlständigen, leistungsorientierten und kapitalismusnaiven Gesellschaft entfernt zu sein, hätten mich eines Besseren belehren und anders sprechen lernen können.

Die unmerkliche Macht der Gewalt der Sprache

Ein schönes Beispiel dafür, wie unmerklich uns selbst als falsch gewusste, besser noch: als falsch verstandene und empfundene Denk- und Sprechweisen beeinflussen und in unser alltäglichstes Sprechen einfliessen, obwohl wir uns ihrer Wirkmacht längst schon entzogen glaubten. Ein Beispiel also auch für das, was ich immer wieder als „Gewalt der Sprache“ thematisieren werde.

Ich hatte den Begriff durchaus liebevoll gebraucht: als Beschreibung eines im Leben Gleichwertigen, fast einer „Gefährtin“. Natürlich kann ich nicht leugnen, dass selbst hier eine gewisse Despektierlichkeit mitschwingt: etwa wie ich eine Person „Tolpatsch“ schimpfen würde, den ich doch allem entgegen sehr mag.

Doch was weiss ich denn anderes als eine Person, die diesen Begriff der „gescheiterten Existenz“ unkritisch, im Ernst und abwertend gebraucht?

„Eine gescheiterte Existenz“, das ist eine Person, der „das Leben übel mitgespielt hat“ – wie der Volksmund sagt. Ich bin mir nicht sicher, ob es in letzter Folge einen Unterschied macht, ob du zu deinem Scheitern, deinem „Unglück“ selbst beigetragen hast, also daran „Schuld“ trägst, oder ob du „unverschuldet“, „durch eine Verkettung unglücklicher Umstände“ in diese Lage gekommen bist.

Es gibt diese schöne, schön-schreckliche amerikanische Redewendung, die ich jüngst gehört habe: „eine Erkältung von der Armut entfernt“ (one cold away from poverty). Sie bedeutet, dass die von diesem Spruch betroffene Person in Tat und Wahrheit durch eine an sich lächerliche Erkältung in ihrer Existenz bedroht sein kann: eine verschleppte Erkältung führt zu einer Lungenentzündung, zum Verlust des Arbeitsplatzes, zur Ausweisung aus der Wohnung oder dem Haus – und einem Leben auf der Strasse, und von da kann es fast nicht mehr „aufwärts“ gehen… (Natürlich sind in Amerika die sozialen „Netze“ weitaus weniger verlässlich, ein bekannter Effekt des kapitalistischen, auf individualistische Leistung ausgelegten „American Dreams“.)

Und doch bin ich immer noch derart vom hiesigen Denken infiziert, dem Denken des Kleinbürgers, des Kleinstädters, dem es so eminent wichtig ist, was die anderen über sie oder ihn denken oder sagen, dass ich dem „unverschuldeten“ Scheitern, von dem ich doch oben noch im Brustton der Überzeugung gesprochen habe, nur einen geringen Glauben entgegenbringe. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass die meisten „gescheiterten Existenzen“ ihr „Grab selbst gegraben“ haben: durch ungesunde, unweise Verhaltensmuster, die auch durchaus traumabedingt oder -gesteuert sein können, durch ein egozentrisches konsumistisches handeln, durch ein narzisstisches Beziehungsverhalten.

Ich bleibe unten

In unserer kapitalisierungsgelenkten Welt fällt es dem Individuum sehr schwer, sich aus den Konsum- und Scheinwelten auszuklinken. Daher bin ich mir auch nicht sicher, ob die Wirkung eines Scheiterns immer notwendigerweise (wie ich mir das als ungeheilter Idealist erträume) auch eine ist, die jene Kulissen einstürzen lässt, die uns glauben lassen, Wohlstand sei gleichbedeutend mit Glück.

Wenn ich auf meine eigene „Laufbahn“ zurückblicke, muss ich feststellen, dass ich schon seit meiner Gymnasialzeit um das uns umgebende Trugbild wusste bzw. zu wissen glaubte. Dass ich den Wohlstand in Form von gutem Verdienst und konformistischer, angepasster und auf Karriere ausgerichteter Lebensführung dann doch gesucht und für eine beschränkte Zeit gefunden habe, konnte mich darüber nicht hinwegtäuschen, wie gefährdet und darin ungerechtfertigt – fast möchte ich sagen: unverdient – diese Lebensphase von Anfang an bereits gewesen war.

Als ich nun in die Phase des Scheiterns geraten war, ging es darum, diese kognitiv erfasste, verstandene Wahrheit in meine Empfindung, in meine tatsächliche geistige und affektive Verfassung zu integrieren bzw. sie damit „abzugleichen“. Zu erfahren, wie ein „Gescheiterter“, eine „Gescheiterte“ sich innendrin anfühlt – all die Wut über die eigene Lage, unabhängig von der damit verbundenen „Schuldfrage“, eine Wut als Vorbereitung auf Demut, für die Demütigung eine Art „Durchlauferhitzer“ darstellt, in eine neue Lebenshaltung einzugeben, sie darin heimisch werden zu lassen, kurz: ganz und gar der andere zu werden, als der ich mich schon immer gewusst, gedacht oder geglaubt hatte.

Und ich bleibe unten, und von unten aus spucke ich auf euch,

„Moskau-Petuschki“, Wenedikt Erofeev

so beschreibt es der Held Venia in Erofeevs „Moskau-Petuschki“, einem meiner Herzenstexte: Wenn du dein Gescheitertsein annimmst, in deine Lebenshaltung einfindest und einwebst, entwickelst du – trotz aller „Anfechtungen“, weiterer Fehler und Fehlleistungen deinerseits und einem schwelenden Groll, den du niemals leugnen solltest, eine Weltsicht und Perspektive, die alle Lügen vom Aufstieg und alles Gefüge kapitalistischer und hollywoodianischer Natur sofort sprengen. (Nicht dass ich Hollywood-Filme nicht liebte, im Gegenteil!) Durch die gesprengte, klaffende Landschaft schreitend, kann es dir vorkommen, als schrittest du durch das Paradies, denn du hast hinter die Kulissen geschaut und in die Abgründe – schaust vielleicht immer noch aus den Klüften „herauf“ oder „hervor“.

Auf Messers Schneide

Doch was hast du hinter den Klüften denn gesehen, was für eine Einsicht gewinnst du in den Abgründen oder Talwellen?

Du siehst eine dunkle, grau schillernde Schönheit: die Bedrohtheit deines und aller Leben, und der Glanz kommt vom berühmten „auf Messers Schneide“. Du erfährst, wie dankbar du nur schon dafür sein kannst, dass du am Leben bist; wie kostbar es ist zu atmen, forschend auf die Welt und die Lebewesen und ja, auch auf die Menschen zu schauen; wie wertvoll und stärkend deine Zuneigung zu anderen Menschen, deinen Liebsten auch für sie ist; wie alles zusammenhängt, deine Gesundheit, deine Gedanken, deine Ängste und Stressfaktoren, deine Ansichten und Meinungen, der Zustand der Welt; wie du erst in der Haltung des Loslassens eine anfänglich minime und dann sich steigernde Freiheit verspürst, weil du erkannt hast, dass Leben nicht Kontrolle oder Beherrschung, nicht „Vorwärtskommen“ oder „Besserwerden“ ist: es ist eine schöne Erfahrung zwischen Nichts und Nichts, zwischen Tod und Tod, was auch immer Nichts und Tod waren oder sein werden. Auf dieser „Messers Schneide“ erkennst du selbst auch, wie unwichtig du bist, und wie wichtig das ist, dass du unwichtig bist, damit du dir selbst wieder wichtig wirst. Und wenn ich hier von Freiheit spreche, meine ich eine Freiheit, die dich fast gleichgültig werden lässt gegen „Anfechtungen“, gegen Gefährdung: du bist jetzt da, verwirklichst nur deinen Atem, deinen Herzschlag. Die Zwänge und Pflichten, die deinem Leben sonst den bitteren Beigeschmack geben, sind jetzt ganz weit weg. Du siehst darauf hinunter (oder hinauf, denn alles ist plötzlich anders, verfügt über eine erschreckende befreiende Geometrie) und kannst fast wie ein Gott darüber lächeln, über das Wuselnde, Beinelnde und Händeverwerfende deines Lebens. Du siehst, dass alles Behändigen, alles Einmischen, alles Erzwingen und Erringen dir nicht helfen wird. Das nenne ich Freiheit: um die Aufgehobenheit, um die Sicherheit in der Gefährdung zu wissen, und dabei und dafür muss ich nicht einmal notwendigerweise einen Gott bemühen.

Der viel zu früh verstorbene Endo Anaconda, der sicher auch einige Grenzerfahrungen erlebt hat, hat das sehr schön im Refrain seines berühmten „Znüni näh“ besungen:

U när löht ders la loufe
Eifach la fahre
La loufe
He, nüt dranne mache
U när Znüni näh
Znüni näh

Znüni näh, 2002, Stiller Has

Das Scheitern ist somit zwar eine „Lebensprüfung“, aber auch ein Chance, noch mehr Mensch zu werden: deine Mangelhaftigkeit annehmen lernen, ohne notwendigerweise etwas daraus oder davon zu lernen, ohne dich „besser machen“ zu wollen oder müssen, denn du bist ja schon „gut“ (wie das Valser Wasser). Das Scheitern ist somit eine Prüfung oder Überprüfung deines Menschseins, und in der Verarbeitung des Schocks auch eine deiner Menschlichkeit: kannst du danach noch Güte und Zuneigung zeigen, hast du bewiesen, wie sehr Mensch du geworden bist.

Natürlich hindert dich das nicht daran, wie Venia in „Moskau-Petuschki“ mit einem gewissen Stolz und Hochmut zu jenen zu sprechen, die noch an die Versprechungen eines heilen wohlständigen, wohlanständigen Lebens glauben – in Sprache und Handeln und Denken auf dich hinunterglotzen, ohne zu verstehen, dass du auf sie herunterblickst aus deinem Kellerloch und spuckst, soweit du kannst.