„Verinnerlichung“

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In meiner Arbeit als Religionslehrer, als Religionspädagoge geht es mir meist darum, in Kindern und Jugendlichen von mir so genannte Übertragungsprozesse zu motivieren und aktivieren. Ziel eines solchen Prozesses wäre es, das Kind oder die Jugendliche nicht nur in eine (objektivierende?) Reflexion hinein zu leiten, in deren Rahmen es Alltags- mit Glaubenserfahrung zu kombinieren lernt; und aus dieser Reflexionsleistung heraus auch kompetent wird, eine solche Hintersinnung in alltäglichen Situationen aus sich selbst heraus zu vollziehen.

Mit Hintersinnung meine ich ein geistiges Handeln, das sich auf das körperliche, das weltliche Handeln in der ersten Phase explizit und späterhin implizit auswirkt und ausdrückt. Dabei gehe ich nicht von mir selbst aus: auch ich handele oft einfach so, wie „man“ handelt oder glaubt, handeln zu sollen – also unsinnig und/oder unhinterfragt. Nein, ich bin kein Vorbild; aber ich habe Erfahrungen dieses impliziten Hintersinnens gemacht, kann sie erzählen und manchmal sogar vorleben…

Es gibt diesen schönen biblischen Spruch vom Gesetz, das mit der Absicht der Verwirklichung eines „gottgemässeren Menschenlebens“ auf oder in das Herz des Menschen geschrieben wird. (Ich habe hier bewusst das „gottgemässere Menschenleben“ in Anführungszeichen gesetzt. Damit will ich ausdrücken, dass es sich hier nur um eine Annäherung an das – nur von Gott? – gewünschte Verhalten des Menschen gegenüber dem andern Menschen handelt.)

Doch seien wir präzise: der oben angesprochene und im Bild des beschriebenen Herzens ausgedrückte Prozess ist kein mechanischer, etwa wie die Formatierung einer Computer-Festplatte!

Das ist er nämlich nur zu leicht: mechanisch-äffend. Weil wir Menschen uns denkend anpassen können: vor allem in Situationen des Lernens, in der Schule oder allgemein im Unterricht, sind Jugendliche und Kinder durchaus fähig, „anders“ zu denken, manchmal auch, sich „anders“ zu verhalten. Für einen mehr oder minder  langen Augenblick wird ihr „draussen“ oder „in der Umwelt“ geltendes Programm „überschrieben“. Und der Religionspädagoge erhält einen durchaus falschen, vielversprechenden Eindruck von bewirkter oder wenigstens möglicher Veränderung von Verhalten und Nachdenken.

So gelingt es Jugendlichen durchaus, sich in Dilemmageschichten von Kohlbergs „Law and Order“-Stufe auf jene Stufe zu hieven, also von der konventionellen Stufe auf die postkonventionelle Stufe zu gelangen, in der allgemeine, universale Erwägungen vor konventionellen, organisatorisch-staatlichen zu liegen kommen. Das können sogar Mittelschüler! Doch handelt es sich dabei um eine reine „Denkleistung“, die vielleicht (und sehr wahrscheinlich) auch bereits durch vorgängige Religionslehrerinnen oder auch Aussagen und Verhalten der Eltern konditioniert sind.

Darum aber darf es nicht gehen. Konditionierung ist Formatierung, und Formatierung ist das Prägen eines Menschen auf seine Funktionalität hin, legt den Schwerpunkt auf sein Funktionieren statt auf sein Sein. 

Der von mir durch die Übertragungsprozesse angestrebte Schritt der Verinnerlichung, der von mir so sehr (auch für mich!) erwünschte Schritt des „Denkens mit dem Herz“ oder besser: „Denkens aus dem Herz“, – dieser Schritt erfolgt erst, wenn das „Universale“ oder „Absolute“ wirklich verstanden worden ist, eingegangen ist in Seele und Denken. Selbst die Jünger Jesu geben ja zahlreiche Beispiele davon, wie „unverstanden“ die Lehre des Rabbi selbst von den eigenen Schülern war, die mit ihm bereits einige Jahre unterwegs waren…

Doch gebe ich durchaus zu, dass ein gewisses „Konditionieren“ erforderlich ist, um uns Menschen im Moment, da eine solche Übertragungsleistung wirklich vonnöten ist, dafür aufzuwecken, auferstehen zu lassen in dieser Handlung und Anwendung des Glaubens. Das „Konditionieren“ wäre dann eine Art imitative Einübung.

Und vielleicht sollte man Glaubenlernen nur mit Erwachsenen unternehmen, denn erst sie haben Erfahrungen gemacht, ide unseren Glauben zur Entwicklung (oder zum Ersterben) zwingen: Erfahrungen von Krisen und Nöten, von Gefährdung und Ungewissheit.

Dennoch werde ich die Verwandlung, die Auferstehung in den Schülern immer anstreben, anzustreben versuchen. Werde mich nicht zufrieden geben damit, reine Denk- oder Überlegungsleistungen zu würdigen, sondern weiterhin Glaubens-Erfahrungen anzustossen versuchen. Und glücklich sein, wenn eine meiner zehn oder fünfzehn Schülerinnen das Prinzip der „Goldenen Regel“ so verstanden hat, dass sie oder er nicht mehr anders handeln kann, weil das Herz es nicht anders mehr will.

Denn das eigentliche Ziel, das ich mir meist nicht eingestehe, aber doch mitfühle, ist ja die Besserung der Welt, in der wir leben, mit und durch unsere Kinder und Jugendlichen. Und so grosskotzig und naiv dies klingt, so energisch stehe ich dafür ein.

Arbeit – Lohn und Leben (Teil 1)

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Eine „Unberührbare“ oder (wie Gandhi es nannte) ein „Gotteskind“ beim Strassenfegen; die „Unberührbaren“ nennen sich selbst – „dalit“, die „Unterdrückten“…


Mein Vater hat 45 Jahre in der gleichen Firma gearbeitet, bis er mit 65 in Pension gegangen ist. Er hat sein ganzes Leben, obwohl in einer für Schweizer Verhältnisse grossen Stadt aufgewachsen, in einem Städtchen auf dem Land verbracht.
Seine Arbeitsweise hat mich als Kind mit Bewunderung und Erstaunen erfüllt – einerseits sicherlich, weil ich mir nicht vorstellen konnte, was er über 8 Stunden am Tag „auf der Arbeit“ wohl oder übel „anstellen“ konnte, aber auch, weil es ihm nicht wichtig schien und scheint, von sich und seiner Tätigkeit viel Aufhebens zu machen; und mir daher andererseits der Mangel an Begeisterung auffiel, mit der er sich auf den Weg zur Arbeit machte – ich mochte nicht immer einfache Tage in der Schule haben (Prüfungen und Konflikte), aber doch war die Schule mein Leben, mehr noch (wie ich später bei meinen eigenen Kindern erkennen konnte) – mein Privatleben.
Die Arbeit meines Vaters war Pflichterfüllung und Selbstdisziplinierung. Seine Arbeit war Mittel zum Zweck: sein Lohn hielt uns am Leben und ermöglichte uns und ihm Ausflüge und Ferien, während derer man „aufleben“ konnte.
Ich bewundere und bestaune diesen Pragmatismus auch heute noch. Und meine und seine Geschichte, das weiss ich, ist keine Seltenheit – ist die durchaus mitteleuropäische Vater-Sohn-Geschichte: viele meiner Bekannten und Freunde würden Ähnliches erzählen, manche leben sogar fast ein gleiches Arbeits-„Leben“…

Dies ist der erste Teil einer mehrteiligen Serie, in der ich mir (ausgehend von einer Diskussion in der Familie und mit Freunden, angestossen u.a. von einem Artikel in dem Schwestermagazin des Economist, 1843) theologische und ethische Gedanken stellen werde – alle zum Thema der Arbeit: in unserem Leben, als Teil und als Fremdkörper in unserem Leben, aber auch – über ihren Lohn und ihre Entlöhnung. 

Die Toten und die Toten

Ich wage mich hier einmal auf Glatteis.

Als Lyriker kenne ich das Gefühl, dass etwas im Unterbewusstsein wächst und grösser wird – und plötzlich ausgewachsen vor einem steht: als Gedicht oder halt nur als Gedanke.

Und manchmal, das habe ich bei André Breton gelernt, handelt die Wirklichkeit an einem, und nicht umgekehrt. Das ist dann, wenn „zwei mal zwei“ plötzlich fünf gibt. Das ist dann, wenn Dinge auf einen zukommen, die ansprechen, womit man sich gerade beschäftigt. Und es hat nichts mit der so genannten selektiven Wahrnehmung zu tun…

Schon bevor ich die Stelle in Dostojewskis „Verbrechen und Strafe“ gelesen hatte, wollte ich einen Blogeintrag über die Toten machen. Und die von meinem Blogeintrag „Gottesnärin Sofia“ ausgehende Thematik der Auferstehung hat dies noch verstärkt. Hier also meine Gedanken.

Die Stelle, um die es mir geht, steht genau vor meiner (immer noch) Lieblingsstelle im Evangelium, die ich sicher auch einmal noch thematisieren werde, der Austreibung der Legion Dämonen in dem Besessenen von Gadara (oder, bei Markus, Gerasa).

Es geht hier um die Nachfolge Jesu. Einer der Jünger möchte, bevor er Jesus definitiv nachfolgt, doch noch seinen Vater begraben. Jesu Antwort ist schockierend:

Folge mir nach, und lass die Toten ihre Toten begraben. (Mt 8,22; BigS)

Seit ich sie kenne, fasziniert mich diese Stelle. Aber ich sah nur immer das Eigentliche: die wirklichen Toten. Genau wie die Judäer in Joh 6,52 auf Jesu Aussage, das Brot, das von ihm komme, sei sein Fleisch, erstaunt antworten:

Wie kann er uns dieser seinen Köper zu essen geben?

Und sieht man in den „Toten“ die wirklichen Toten, unsere Verstorbenen, ist die Aussage Jesu auch wirklich unmöglich – oder, wie die Jünger als Antwort auf Jesu Brotrede in Joh 6,60 sagen:

Was er sagt, ist unerträglich. Wer kann das anhören? (EÜ)

Doch selbst, wenn man den Spruch ins Uneigentliche wendet, erscheint er unverständlich, unlogisch.

Welche Toten meint Jesus denn? Sollen die vielleicht schon verstorbenen Brüder oder Onkel des Vaters diesen begraben? Eine Art Geister-Bestattung?

Ich glaube heute, dass wir dieses Wort in Zusammenhang mit der oben zitierten Stelle aus dem Johannes-Evangelium verstehen können. Und noch eine Stelle hilft uns dabei – paradoxerweise, aber wesentlich:

Gott aber ist nicht Gott von Toten, sondern von Lebenden: für ihn sind alle lebendig. (Lk 20,38; BigS)

Halt, Halt!

Will ich mir hier weis machen, dass der Spruch von Mk 8,22 mit der Auferstehung der Toten zu tun hat?!

Will ich hier etwa zu glauben beginnen, dass Jesu Auferstehung uns alle zu Auferstehenden (Auferstehensfähigen) macht?

Ja, es sieht danach aus. Denn schauen wir nochmals auf die Stelle im Johannes-Evangelium zurück:

Amen, amen, ich sage euch: Wer glaubt, hat das ewige Leben. Ich bin das Brot des Lebens. Eure Väter haben in der Wüste das Manna gegessen und sind gestorben. So aber ist es mit dem Brot, das vom Himmel herabkommt: Wenn jemand davon isst, wird er nicht sterben. Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel herabgekommen ist. Wer von diesem Brot isst, wird in Ewigkeit leben. Das Brot, das ich geben werde, ist mein Fleisch, (ich gebe es hin) für das Leben der Welt. (Joh 6,47-51; EÜ; Kursiv von mir)

Und für die „Verstockten“ präzisiert er mehrmals, damit es auch ja klar ist, worum es hier geht. Auf das oben erwähnte Erstaunen antwortet der Rabbi noch einmal, jetzt sehr deutlich:

Der Geist ist es, der lebendig macht; das Fleisch nützt nichts. (Joh 6,63; EÜ)

Das ist, mit Verlaub, schon fast paulinisch! Hören wir Paulus selbst:

Sie (die Unrecht handelnden Menschen) kennen die gerechte Ordnung Gottes genau, nach der diejenigen, die so handeln, der Macht des Todes ausgeliefert sind. (Röm 1,23; BigS)

Will heissen: Wer vertraut in Gott, tut das, was Gott in der Tora, in den Weisungen festgelegt und geheissen hat – von sich aus, ohne die Tora näher zu konsultieren. Und wer dies tut, steht nicht in der „Macht des Todes„. Er hat das ewige Leben im Glauben, wenn man so will.

Was für ein weites Feld! Mir dreht sich der Kopf. Ich bin ein wenig wie ein Hund, der seinen Schwanz jagt.

Lassen wir nochmals Paul ran und versuchen einen Abschluss…

Oder wisst ihr nicht, dass alle, die wir in den Messias Jesus hinein getaucht wurden, in seinen Tod hineingetaucht wurden? Durch das Untertauchen sind wir mit ihm zusammen in den Bereich des Todes begraben. Jetzt können auch wir in erneuertem Leben unseren Weg gehen, genauso wie der Messias von den Toten aufgeweckt wurde durch die Gegenwart Gottes. (Röm 6,3f.; BigS; Kursiv von mir)

Das Leben ist ein Traum. Das wussten die Barock-Dichter und -Künstler alle. In Fülle malten sie es aus und wussten um seine Unwirklichkeit. Je unwirklicher, umso heller musste die Gegenwelt des Messias strahlen. Je detailverliebter und wirklichkeitsverliebter die „reale Welt“, in der gestorben wird, umso deutlicher wurde die Gegenwelt. Nicht wahr?

Die Toten aber, die ihre Toten begraben sollen? Das sind wir.

Wir, denen der Glaube nicht leicht fällt, die um Gerechtigkeit wissen, sie aber nicht umsetzen.

Die Toten, das sind diejenigen, die nicht in die Auferstehung des Messias vertrauen.

Die Toten, das sind jene, die an die Wirklichkeit des Fleisches glauben, an die Wirklichkeit(en) der Wirklichkeit, an die Realität(en) dieser Welt.

Die Toten, das sind jene, die schlafen, wenn sie leben.

Das Leben aber haben jene, die nicht an die Gesetze dieser Welt glauben, weil sie an die Gesetze Gottes glauben.

Und darin – befreit sind.

Oh ja, sollen doch die Toten ihre Toten begraben!

(Und als kleines Augenzwinkern: hatte ich nicht im letzten Blogeintrag genau diese Stelle erwähnt im Johannes-Evangelium – Joh 6,27 -, und in einem ganz anderen Zusammenhang? Ja, das ist kein Zufall, das ist schon fast Zeichen. André Breton sei gegrüsst.)