Sonntagsstelle: Eingebären

Seit etwa einem Jahr kommt die Mystik mir näher, nähere ich mich der Mystik an. Ich lerne sie als eine Form der Annäherung kennen, die mir die HEILIGE in anderen Weisen näherbringt. Ich lerne die Mystik – und vor allem das mystische Sprechen – als eine neue Form des Ausdrucks kennen, die mich in die Einfluss-Zone der WEISHEIT einführt.

(Dass ich diese Entwicklung, dieses Anpirschen nicht alleine mache, hilft mir sehr, einerseits geerdet und andererseits angespornt oder herausgefordert zu sein und bleiben. Viele der Gedanken, die ich hier zu erfassen versuche, stammen aus den Diskussionenen mit meinen Freundinnen Y.F. und C.T. Ihnen verdanke ich steten Anstoss und Anregung, die mich in Bewegung halten.)

In der heutigen Sonntagsstelle will ich nachdenken über ein komplexes Verhältnis-Gebäude, das Meister Eckhart aufgebaut hat.

Ganz so sollte der Mensch dastehen, der für die allerhöchste Wahrheit empfänglich werden und darin leben möchte ohne Vor und ohne Nach und ohne Behinderung durch alle Werke und alle jene Bilder, deren er sich je bewusst wurde, ledig und frei göttliche Gabe in diesem Nun empfangend und sie ungehindert in diesem gleichen Lichte mit dankerfülltem Lobe in unseren Herrn Jesus Christus wieder eingebärend.

Meister Eckhart, Predigt 1, Intravit Jesus in templum et coepit eicere vendentes et ementes; Hervorhebung von mir

Ich möchte hier versuchen, diese komplexe Bewegung des Menschen hin zu G_TT in meinen eigenen Worten, in meiner eigenen Sprache zu verstehen.

Werke und Bilder

Meister Eckhart befindet sich mit dem Gedanken, sich von der irdischen, der körperlichen Welt und Ebene/Zustand zu lösen, in guter neuplatonischer Gesellschaft.

Als Mensch der Moderne denke und lese ich viel stärker innerweltlich. Das heisst, G_TTes Botschaft und G_TTes Anwesenheit ist bereits in der Immanenz, in der diesseitigen Welt. Auch ihre Offenbarung meint in meinen Augen, bezieht sich in meiner Sichtweise explizit und handlungsantreibend auf die körperliche Welt, das Diesseits. HASCHEM ist keine entrückte, transzendente Gestalt, sie ist allgegenwärtig und allkenntlich. Eine figurative, eine spiritualisierende Lesart von G_TTes Wort führt leicht in eine Denken und Handeln, das mit dieser Welt, für die wir von Ihr geschaffen wurden, rein gar nichts mehr zu tun hat. Und somit uns befreit von Engagement und Zivilcourage.

Dennoch verstehe ich, was Eckhart in dieser Predigt darlegt, sehr gut. Er verbindet die Werke, die wir im Diesseits tun, mit unserer „Ich-Bindung“. (Eckart nennt dies „eigenschaft“.) Diese Werke, mit denen du vielleicht sogar für die HEILIGE zu wirken glaubst, bin dich zurück an das Geschaffene, an das Diesseitige. Das Gleiche passiert mit den Bildern, die du „empfangen“ hast durch dein Leben im Diesseits: Sie sind sehr leicht zu verabsolutieren, zu verallgemeinern.

(So das Bild von einem männlichen, einem patriarchalen Gott; das ich in diesem Text zum ersten Mal radikal verneine, indem ich vielfältige, biblisch oder koranisch gegründete Gottesnamen gebrauche, die ich in Majuskeln schreibe, genauso wie ich das Leser-Du als sowohl männlich als auch weiblich lese und anspreche.)

Beide Wirklichkeitsformen helfen dir wohl, in der Wirklichkeit zurechtzukommen, darin ein „erfolgreiches“ Leben zu führen. Doch bist du als Mensch nur dazu geschaffen?

Ledig und frei

Die Predigt Eckharts ist eine Fasten-Predigt. In der Fastenzeit versuchen die Gläubigen, ihr Leben von all dem Nötigen, das nur scheinbar nötig ist, von all dem Dringlichen, das nur scheinbar dringlich ist, von alle dem Diesseitigen, das nur zu diesseitig ist, zu befreien, um der WAHRHEIT näher zu kommen.

Dieser Prozess der Loslösung ist ein Schritt in Richtung der Transzendenz. „Ledig“ meint hier „ungebunden“ (vom Diesseitigen); „frei“ ist der Zustand, der in dieser „Ungebundenheit“ angestrebt und/oder erreicht wird.

In diesem Zustand der „Leere“, der „Entleerung„, die nicht nur die Mystikerin, sondern auch die Betende kennt, kannst du dich sowohl als Geschaffener als auch als Mehr-als Geschaffene verstehen.

Im Auge des Mystikers kannst du erfahren und begreifen, dass du in Tat und Wahrheit „gottfähig“ bist: Mehr als den Engeln ist es dir geschenkt – durch die Gnade und die Liebe der G_TTIN -, zu Gott durchzudringen, hinaufzulangen und hinaufzufahren. Mit diesem „Durchdringen“, was nicht „verstehen“ meint, verwirklichst du den anderen Teil deiner geschaffenen Existenz: den spirituellen, den seelischen Part deiner Menschheit.

(Denn als die erste Aufgabe unserer Berufung als und zum Menschen verstehe ich jene, die uns die Propheten aufgezeigt und vorgelebt haben: im Diesseits als Mensch ganz und gar für das Gute einzustehen.)

Eingebären

Die Aufgabe der Ich-Bindung und der (buddhistisch gesprochen) Anhaftung an die Werke und an die irdischen Bilder und Realität führt nun zu einem anderen Zustand: du kehrst in den Mutterbauch der HEILIGEN zurück.

(Diese Bildlichkeit ist spezifisch christlich. Sie nimmt explizit Bezug auf die junge Frau Maria / Miriam / Meriem, die Jesus empfängt und gebiert – egal, ob du jetzt Jesus als SOFIA oder als Propheten verstehst…)

Die Mystikerin erkennt sich in dieser Bewegung der Rückkehr, der Nichts-Werdung nicht nur als göttlich (oder gottebenbildlich), sondern als „eins mit Gott“.

Der Mystiker befreit sich in der Eingeburt von der Last des irdischen Menschseins. Es ist ein Zustand des „Nu(n)“: von intensiver, aber aussergewöhnlich kurzer Dauer.

Die Rückkehr, die vielleicht sogar „Einkehr“ heissen muss, ist eine Möglichkeit, die die GERECHTE für den Menschen will. Es ist an dem Menschen, diese – „ledig und frei“ – zu wollen. Es ist eine der Berufungen, für die du geschaffen bist.

Religionen sind nur Hilfestellungen

In meiner Beschäftigung mit theologischem und mystischen Gedenkengut habe ich immer wieder erfahren, wie überflüssig religiöse Institutionen, wie unerheblich religiöse Vorgaben oder Gesetze sind, wenn du dich eingehender, mystisch mit der Transzendenz, mit der ERBARMERIN beschäftigst.

Dabei ist die menschliche Bewegung in Bezug auf das Übernatürlich zweifach:

  • Verankerung im Diesseits: Deine Aufgabe, deine Berufung ist es, in der immanenten, in der ausweichlich körperlichen Welt Gutes zu tun – im Sinne des GÜTIGEN.
  • Loslösung und Einkehr im Jenseits: Das Jenseits ist ein Zustand, in dem du als Mensch mit G_TT eines Sinnes und eines Willens sein kannst, was deine geschaffene, an das Etwas gebundene Existenz jedoch auf die Dauer gefährdet, ja zerstört, auflöst, weil du als Geschaffener nichts im Nichts, im Ungeschaffenen verloren hast.

Diese beiden Bewegungen finde ich in allen Religionen. Sie sind allgemein-menschlich, universell.

Wenn du Gesetze brauchst, wenn du konkrete Erscheinungsformen des Transzendenten brauchst (wie den Namen „VATER“), dann orientiere dich an den institutionalisierten Religionen.

Doch wisse, dass die „Orte Seiner Herrschaft“ (Ps 103, 27) mannigfach und mannigfaltig sind – und immer über diese irdische, werk- und bildgebundene Gefängniswelt, in der du leben musst, erhaben.

 Ein unmögliches Wort?

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Das Wort Gott kommt mir nur schwer über die Lippen. Mit ihm verbinden sich zu viele Vorstellungen, die ich nicht teile. Kurz: Ein unmögliches Wort für eine mögliche Wirklichkeit.

So formuliert es Lorenz Marti in seinem Buch „Türen auf! Spiritualität für freie Geister„. Weiter meint er, wir sollten dem Wort eine Pause geben, die Lücke und Leere des „Unbedingten“ und „Unverfügbaren“ nicht dringend benennen wollen.

Vom Islam lernen  

In meiner täglichen Auseinandersetzung im Rahmen eines leider immer noch mehrheitlich christlich gefärbten Religionsunterrichts sind jene Gespräche und Diskussionen mir die wichtigsten, die ich mit muslimischen Kindern führe. Das hat zwei Gründe:

1. Die meisten muslimischen Schüler*innen leben in Haushalten, – soweit meine Erfahrung – in denen religiöse Fundamente noch gepflegt werden. Sei es das Gebet oder schlicht die Rede von Gott. Begriffe wie „halal“ und „haram“ sind nicht (oder nur in Ansätzen) wie bei „uns Christen“ Begriffe wie „heilig“ oder „sündig“ profaniert, säkularisiert. (Im Gegensatz dazu leben die meisten christlichen Schüler*innen in agnostischem und säkularisierten Umfeld. Einem Umfeld, das alles Religiöse einerseits kritisch-empirisch beäugt und andererseits die wenigen religiösen Traditionen, die „uns Christen“ noch bleiben, säkular umdeuten.[2])

2. Die muslimischen Schüler*innen wissen sehr gut, dass Gott eine absolut unverfügbare Grösse ist. Es ist ein wiederkehrendes Phänomen im Unterricht, dass wir die Vielfalt Gottes und seine ausgesprochene Ambivalenz thematisieren (müssen).

Damit wird klar, dass die muslimischen Schüler*innen ein beträchtliches religiöses Potenzial mitbringen. Das zu fördern und befeuern mir in meinem Unterricht sicherlich ein zentrales Anliegen ist.

Gott als Frage 

An anderer Stelle habe ich schon einmal davon gesprochen, dass eine Rede von Gott immer präzise und ausführlich sein muss. Ja, zusätzlich dazu vielleicht sogar noch notwendigerweise ambivalent.

Gerade deshalb glaube ich, sollten wir Religionsfachpersonen nicht aufhören, Gott als Frage in diese vielfach geistverarmte Welt zu stellen.

Wir befinden uns in einem Prozess, wo die westliche europäische Gesellschaft fundamentale Werte wie Unverfügbarkeit und Spiritualität, aber auch Traditionen wie der Sankt-Nikolaus[3] unter Materialismus und blindem Empirismus begräbt.

Es ist Lorenz Marti hoch anzurechnen, dass er seine Scheu vor dem Wort Gott zugibt, seine Scheu überhaupt, von religiösen Dingen zu sprechen.

Und ich merke gerade, dass ich Gefahr laufe, wie ein Kreationist, ein rechtsgerichteter Abendlandfaschist zu klingen.

Doch wer nicht über Gott redet, sich nicht Fragen zu Unverfügbarkeit und Ambivalenz stellt, wird – in meinen Augen – eher zu einer Weltsicht in schwarz und weiss tendieren. Und eine solche Weltsicht verschärft in meinen Augen die Probleme und Konflikte eher, als dass sie Lösungsansätze oder nur schon Lösungsbereitschaft ermöglichen kann.

Von Gott reden 

Natürlich ist das Reden von Gott kein Allheilmittel gegen die Krankheiten der Menschheit. Doch das Reden von Gott – von dieser Pause, diesem „Namen“ (ha-schem), diesem Ewigen, dieser Leerstelle, dieser Lücke – vermittelt den Menschen die fruchtbare Erkenntnis von Ambivalenz, von Abgrund.

Und wieder möchte ich den Islam „bemühen“: Wie wundervoll sind die 99 Namen Gottes für eine solche Übung in Unverfügbarkeit, mit ihrer Spannweite vom „Verhinderer“ bis zum „König“! (So bedenklich ihre Vermenschlichung immer auch sein mag.)

Das einfachste Beispiel für so eine Übung in Unverfügbarkeit ist das Nachdenken darüber, ob Gott jetzt gütig oder mächtig sei. Jeder, der diesen beiden Gedankensträngen folgt, wird verwirrt, weil das eine das andere logisch auszuschliessen scheint.

Dem ist aber nicht so: Gott umfasst mehr als nur diese beiden logisch-rationalen Gedankenstränge.

Genauso wie Gott kein „alter Mann im Himmel“ ist: Wer nicht über Gott redet, wird immer im kindlichen Glauben stehen bleiben, sein Konzept von Unverfügbarkeit wird immer kindlich bleiben. Sie oder er werden immer mit dem Unverfügbaren handeln wollen. Doch mit Unverfügbarem handelt man nicht.

Je mehr ich mich also darum bemühe, von Gott zu reden, umso mehr kann ich dazu beitragen, dass die Wahrnehmung von Gott komplexer wird und bleibt, und dass die Gedankenwelt meiner Gesprächspartner*innen mehr aushalten muss als nur ein weltliches „Entweder-Oder“.

Anders gesagt: Gerade das Reden von und über Gott ermöglicht das Training der „religiösen Muskeln“, die wiederum Komplexität und Ambiguität und Ambivalenz unserer gesellschaftlichen Realität ertragen helfen.  Lasst uns also gerade und „jetzt erst recht“ von Gott reden, das Wort über unsere Lippen zu bringen wagen.

 


[1]

Ein gutes Beispiel dafür sind die beiden Weihnachtssingen, die ich letzten Monat erlebt habe: keines der gesungenen Lieder hatte noch einen christlichen Hintergrund, aber sehr viel „Lichterschmalz“ und „Ethik-Kitsch“. Aber dazu vielleicht nächste Weihnachten einmal ein eigener Blog…

[2]

Ein gutes Beispiel dafür sind die beiden Weihnachtssingen, die ich letzten Monat erlebt habe: keines der gesungenen Lieder hatte noch einen christlichen Hintergrund, aber sehr viel „Lichterschmalz“ und „Ethik-Kitsch“. Aber dazu vielleicht nächste Weihnachten einmal ein eigener Blog…

[3]

Der Sankt-Nikolaus ist eben nicht der Weihnachtsmann, sondern ein Bischof mit seinen Insignien – und stammt zudem noch aus der Türkei!

Plan oder nicht?

Chinesischer Abakus
Chinesischer Abakus

 

Wenige Grundsätze treiben mein Handeln an. Einer der wichtigsten davon: nicht planen, sondern handeln.

Fast könnte ich so weit gehen und sagen: alles Geplante ist mir verhasst. Es entbehrt aller Spontaneität und bringt die Freiheit, das Gefühl von Befreiung im Handeln, zum Erstarren.

Wer plant, so liesse sich dieser Grundsatz weiter ausführen, ist berechenbar.

Mal abgesehen davon, dass ich nicht rechnen kann: Wer rechnen kann, ist verletzlich.

Wer plant, sein Vorsorgekonto befüllt, eine Lebensversicherung betreibt, ein Haus baut, wenn möglich gar mit den für die geplante Familie nötigen und bereits fertig eingerichteten Kinderzimmern, ist wie eine wandelnde Wunde, die nur darauf wartet, geschlagen zu werden.

Natürlich lebe ich nicht so planlos ins Leben hinaus, wie das jetzt den Anschein machen könnte. Und doch will ich nicht der Meister meines Geschicks sein, mein Glück beherrschen, steuern. Ich bin nicht jemand, der sein Leben in seiner eigenen Hand glaubt oder (noch vermessener) weiss. Der einzige Ruf, den ich mir durchaus immer wieder zutraue ist: „I am the Captain of my Soul“.

Aber damit hat es sich auch schon. Denn das meint ja letztlich: ich gebe mich nichts oder niemand in die Hände, dass es oder er/sie mich steuerte; ausser Gott.

Was aber fange ich nur an mit diesen im Neuen Testament immer wieder eingestreuten Hinweisen auf einen „Gottesplan“?

Gewiss gebe ich zu, dass Gott alle Fäden in den Händen haben sollte, vielleicht gar muss, auch in meinem Leben, aber weiss er schon alles im Voraus? Hat er es letztlich sogar schon bis ins Detail ausgedacht und vorausbestimmt und -geplant?

Wenn ich lese:

nach Vorwissen Gottes (1 Petr 1,2; Münchener Neues Testament)

oder

von der Verwaltung der Gnade Gottes (Eph 3,2; Münchener Neues Testament)

und in der Übersetzung an den gleichen Stellen vom

Plan (Eph 3,2 und 1 Petr 1,2; NGÜ)

höre, schaudert es mich schon.

Traue ich denn Gott nicht zu, bzw. will ich ihm denn nicht zutrauen, dass er die Geschicke, mit dem Auf und Ab der Waage, wie sie in der Ilias so schön in der Hand des Zeus liegt, um das Schicksal der kämpfenden Trojaner und Griechen zu entscheiden, lenkt und bestimmt?

Nein, das traue ich ihm durchaus zu. Dieses Zutrauen habe ich.

Aber ich glaube nicht an einen Rechnenden Gott, genauso wenig wie ich an einen Rechtenden Gott oder noch schlimmer an einen Rächenden Gott glaube (und von ihm weiss). Oder umgekehrt an einen (ganz und gar) barmherzigen Gott, so gern ich das möchte. (Aber das steht auf einem andern Blatt, in einem andern Blog.)

In diesen Stellen sehe ich mehr ein Hinweis darauf, dass Gott in gewisser Weise nachdenkt, vorausdenkt, vermutet.

Philologisch handelt es sich dabei ja um einen Ratschluss – daher kommt dieser Gedanke des Plans, wenn wir auf den WiBiLex-Artikel von Wolfgang Werner zurückgreifen:

JHWH, der Gott Israels, ist zugleich der Herr der Welt und ihrer Geschichte. Diese in vielen biblischen Textbereichen begegnende Grundüberzeugung findet ihre Ausgestaltung unter anderem in der Vorstellung eines göttlichen Ratschlusses, der bei Gott konzipiert worden ist und sich in der Geschichte der Welt und der in ihr lebenden Menschen erfüllt. Er leitet und bestimmt das Leben des Einzelnen und der Menschengemeinschaft. In vielen prophetischen Belegen gilt der Ratschluss Gottes als ein Instrument göttlicher Weltpolitik, das die Absichten Gottes in der Völkerwelt durchsetzen will.

Als Mensch kann ich ja verstehen, dass Gott eine Art Übersicht oder Draufsicht auf alles hat oder haben kann / könnte.

Und als jemand, der Armut aus persönlicher und wiederholter Erfahrung kennt, verstehe ich auch, dass der Arme, Verlassene, Versklavte sich so einen Gott denken muss; nicht anders kann, als sich so einen Gott zu erdenken: der in langen Zeiten denkt, nicht in der kurzen überschaubaren eines Menschenlebens oder einer Menschen-Generation, dem die Taten und Untaten des Menschen (von Herrschern und Beherrschten) auf eine gewisse Weise lächerlich und doch vorhergesehen sind, weil er das Ende, dem sie entgegenstreben, ob sie wollen oder nicht, absehen und einordnen kann.

Einen Gott kurzum, der zwar nicht aktiv und jetzt  ins Zeitgeschehen eingreift, sehr wohl aber einen fernen Horizont erblicken kann von da aus, wo er schwebt, da „wir“ (und mit uns auch „er“) frei sein werden von „alledem“…

Ein aussergewöhnlich geduldiger Befreiergott.

Ein Gott der Wartesäle und der Lager.

… Oh, das ist er sicher. Aber nicht nur. (Und – dogmatisch gesprochen – er ist es nur in Analogie…)

Und so sehr ich letztlich das Gefühl habe, ein solcher Teilgott könnte möglich sein, in einem weitaus grösseren, umfassenderen Gott (und Gottesbild), so sehr fühle ich auch, dass das Planen damit nichts mehr zu tun hat. Und vielleicht nicht mal das Ratschliessen oder Nachsinnen.

Ein solcher Gott, übernimmt man diese Denkstruktur, wie sie Wolfgang Werner sicherlich exegetisch korrekt formuliert, ein solcher Gott schätzte unser Tun und Handeln vielleicht sogar mit der ihm eigenen Liebe, aber er wäre doch all dem (und mir) fremd.

Es ist daran sicher tröstlich, dass er insofern nicht plant, als er nicht eingreift, sondern auf eine (göttliche?) Art „geschehen“ lässt.

Trotz allem also handelte sich dabei um eine Art Versicherergott; um einen Gott für Versicherer und Versicherungsbedürftige.

Er hält in der einen Hand die Police, und mit der anderen Hand streichelt er sein Schosshündchen – um das es letztlich geht.

Und um sein Mund bilden sich tiefe Falten der Langeweile.

(Bildquelle: Anita Eller (http://bilder.tibs.at/node/26290), Lizenz: CC BY-NC-SA 3.0 AT))

Von Gott reden

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Ausschnitt aus Holbeins „Der Leichnahm Christi im Grab“ (1521/22)


Vor ein, zwei Jahren habe ich einmal, in meiner Frühphase des Unterrichtens, Schülern den Auftrag erteilt, Gott bildlich darzustellen; so in etwa mit dem Impuls: „Wie stellt ihr euch Gott vor? Malt mal…“

Die Schüler waren verwirrt, und einige haben dann gefragt:

„Also sollen wir Gott zeichne? Also Sie meinen den alten Mann mit Bart?“

Ich war perplex und habe geantwortet:

„Wenn Gott für euch das ist; wenn Gott für euch ein alter Mann mit Bart ist?“

Einige Schüler haben sich dann ans Malen gemacht. Dabei kamen viele himmlischen Gestalten heraus, aber einige Kinder haben auch einfach sich selbst mit einem besonders grossen Herz gemalt. Ein Mädchen zeichnete einfach ein einziges riesiges Herz; ein anderes entwarf einen Turm bis in die Wolken…

Vergangenen Dienstag hat mich eine Lehrperson (wie das so schön heisst) angesprochen auf meine Art, von Gott zu erzählen. Sie meinte, wir Religionslehrer redeten ständig von Gott als einer Art „festen Wert“, ohne ihn aber genauer zu definieren. Wir vermittelten damit zwar Wissen über und vielleicht sogar Erfahrungen von und mit Gott, konkretisierten aber nicht die dahinter stehende Person; und noch weniger das dahinter stehende Menschenbild, implizierte sie. Spräche ich davon, dass Gott in meinem Leben eingreife, mein Leben präge, etc., dann müsste ich doch eigentlich auch davon sprechen, was denn das genau für ein Gott sei, der da mit mir dahergehe oder eben: -komme.

Ich „liess kommen“, wie das der Chirurg Cottard so schön tut in „In Swanns Welt“: lächelnd und fast komplizenhaft annehmen, was mir mein Gegenüber mitteilt, damit aber noch nicht deutlich machen, dass ich einverstanden sei. In mir entstanden Fragen.

(Ist Gott denn eine Person? Ist Gott denn nicht einfach immer Beziehung?)

Wie so häufig, weiss ich nicht mehr, was genau ich geantwortet habe, weil meine Antwort (wie so häufig) relativ konfus und vielleicht dann auch noch gleich zu hochgegriffen gewesen sein muss.

Wenn ich es mir jetzt schriftlich überlege, wird mir klar, dass diese „Rede von Gott“ oder eben „Gottesrede“ eine fast schon pathologisch vorsichtige, nicht zwingende sein will – ob sie es sein sollte, steht auf einem andern Blatt. Als Religionslehrer oder ganz einfach als moderner Gläubiger scheue ich mich, einen allzu prägenden Einfluss auf das Gottesbild meiner Schüler zu haben – im Wissen auch, dass dieses sich sowieso kaum oder gar nicht beeinflussen lässt…

Gewiss mache ich anfangs immer ganz deutlich klar, dass es mir nicht darum geht, vom „lieben“ Gott zu sprechen oder davon, dass Gott einfach „Liebe“ ist. Ich thematisiere auch relativ oft die dunkle Seite Gottes, ohne sie aber zu überzeichnen.

Die meisten Menschen, meinte einmal eine gute Freundin in einem Glaubensgespräch, kämen kaum über den „lieben Gott“ hinaus, verharrten entweder in einem Kinderglauben halb im magischen Realismus verwurzelt oder aber lösten sich ganz radikal in einen Hedonismus, Gegenwartismus oder sonst einen Atheismus, um der Beschäftigung mit dieser „Person“ auszuweichen.

Denn abgesehen davon, dass Gott Beziehung, Liebe und anderes auch sein will und kann, ist er ein unerklärlich helles und dunkles Phänomen der Zwielichtigkeit und der Paradoxie. Und Dämmerung und Unentschiedenheit ist schwer auszuhalten für den menschlichen Geist und vermutlich noch schwerer für die menschliche Seele.

Ein anderer Freund, um ein weiteres Beispiel zu machen, gab ganz unumwunden zu, er brauche ein System, das alles erkläre. Dieses System, führte er aus, müsse alles nicht nur quasi selbsterklärend oder gar selbstredend sein, sondern auch noch den Vorteil haben, das Dunkle mit dem Hellen in Deckung zu bringen – und umgekehrt.

Ein solches System ist aber keine Person. Ein solches System und Lebensverständnis dreht sich allein darum, die dunkeln Seiten ins Licht zu wenden – und nicht darum, diese dunkeln Seiten auch auszuhalten und vielleicht sogar anzunehmen.

Womit die Lehrerfreundin aber recht hatte: Dass es sich bei der „Rede von Gott“ um einen wesentlichen Teil unserer Verkündigung handeln muss.

Anders gesagt: obwohl wir die Botschaft von dieser Person einerseits konkret (eben nicht eine höhere Kraft oder eine wie auch immer geartete göttliche Wesenheit) zu halten haben (in all den Verkörperungen, wie Gott in der Bibel auf- und erscheint) und im gleichen Atemzug auch Denkraum bieten sollen für eigene Leistungen der Erkenntnis und Definition durch die Schüler und Kinder, muss es vermehrt unsere Aufgabe als Religionslehrer sein, zu unserem Gottesbild deutlich und resolut zu stehen. Die Antwort „Ja, ich glaube an Gott“ genügt nicht, kann nicht genügen. Wir müssen antworten: „ich glaube an den Gott Hiobs“ oder „ich glaube an einen Gott, der uns in Freiheit liebt“ – aber auch das ist noch nicht genug. Und ebenso ausdrücklich erwähnen, dass damit ein gewisses Menschenbild einher geht und was dessen Eigenschaften sind.

Was die Lehrerin am vergangenen Dienstag meinte, aber nicht auszusprechen vermocht hat, so glaube ich, war daher folgendes:

  • Gottesrede muss, um authentisch sein zu können, immer konkret sein.
  • Gottesrede muss, um andere zu erreichen, immer (vor-) gelebt sein.
  • Gottesrede muss, um der Verkündigung zu dienen, nicht zurückscheuen vor schwierigen Themen und der Dunkelheit oder dem Schleier des Mysteriums.
  • Gottesrede muss, um zum Glauben anleiten zu können, auch dazu stehen, dass Gott eine abwesende Anwesenheit ist, sich jeder Definition entzieht und doch präsent bleibt.
  • Gottesrede muss, um eine Einübung im religiösen Erfahren zu sein, eine Provokation, ein Skandalon sein.

Oder um mit meinem „buddy“ Paul zu sprechen:

Denn Christus hat mich nicht ausgesandt zu taufen, sondern das Evangelium zu verkündigen: nicht in Redeweisheit, damit nicht das Kreuz Christi zunichte gemacht werde. (Elberfelder, meine Hervorhebung)

Und als letzten Impuls dieses ein wenig hoffnungslosen, hoffnungslos offenen Blogeintrags:

In einem meiner Lieblingsfilme, „Der liebe Gott im Schrank“, findet ein etwa 6-jähriges Mädchen Gott in einem Penner. Was in pure Sozialromantik oder Sozialkitsch abrutschen könnte, bleibt sehr ernst und humorvoll. In einer für mich (und für das Thema dieses Blogs) prägenden Szene sagt das Mädchen zum Penner (der übrigens einen weissen ungepflegten Bart trägt…), immer im Glauben, er sei Gott, ihr Vater glaube aber nicht an ihn. Und Gott oder der Penner antwortet: Ja, weisst du, wenn jemand ein Haus oder eine Wohnung, eine Arbeit und genügend zum Leben hat, dann kann er gut und gern vergessen, dass es so einen wie mich gibt. – Das schmerzt! und stimmt!

Also hinaus und die Gottesrede aktualisieren…

Und statt an Ostern Osterbräuche zu thematisieren: wirklich von dem, was wir unter Auferstehung verstehen, von dem, was wir den Auferstandenen nennen, von dem, was wir nicht verstehen, reden!


(Bild-Quelle: Von Hans Holbein der Jüngere (1497/1498–1543) – The Yorck Project: 10.000 Meisterwerke der Malerei. DVD-ROM, 2002. ISBN 3936122202. Distributed by DIRECTMEDIA Publishing GmbH., Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=152914)