Zwischenruf: Heilung ohne Vermittlung

Das mystische Denken ist auf Befreiung ausgerichtet. Auf eine Befreiung aus seelischer Knechtschaft, aus der strukturellen Sünde einerseits. Andererseits strebt mystisches Denken und Handeln eine Befreiung des Menschen aus seiner kreatürlichen Schwäche an, die in Versuchung führt. Krankheit, Unfall, körperliche und geistige Gewalt bedrohen unsere Gottfähigkeit, unsere Gottoffenheit mit dem Zweifel (der Verzweiflung), der uns in die Abkehr und in die Glaubensferne lenkt oder lenken kann. Und in der Glaubensferne sind wir hilfloser noch als zuvor: unfrei bleiben wir gekettet an unseren Körper, an unser materielles Wohlsein, pressen unser Gesicht, unsere Blicke und unsere Weltsicht in den Staub, aus dem wir kommen.

Das Bedürfnis nach einer Vermittlung

Die menschlichen Religionen und Glaubenswelten haben meistens eine Rollenverteilung unter den Menschen vorgenommen; darin spiegeln sie die gesellschaftliche Arbeitsteilung. Selbst in den animistischen, indigenen Religionen gibt es den Heiler, die Heilerin, die Schamanin, den Schamanen. Diese Personen – in unseren westeuropäischen Breitengraden sind das Imame, Rabbiner und Priester / Pfarrer – übernehmen die Vermittlung zwischen Gott und den Menschen, sprechen von Gott zu den Menschen, von den Menschen zu Gott, interpretieren und ordnen Geschehnisse ein, verorten sie vor einem wie auch immer gearteten heilsgeschichtlichen Horizont oder Denkgebäude. Im schlechtesten Fall, der meistens eintritt, monopolisieren sie Glaubensinhalte und -verkündung und erlangen eine Machtstellung, die sie zu Stellvertretern Gottes auf Erden macht. In dieser einmal erlangten Stellung werden sie jegliche Glaubens- und Willensfreiheit der Gläubigen beschränken und einzäunen, und alles daran setzen, den Glaubenden nicht nur den „direkten Draht nach oben“ zu kappen, sondern auch sich selbst als diese fast gottähnlichen Vermittler unentbehrlich zu machen. Was dem Machtmissbrauch Tür und Tor öffnen heisst.

Schaue ich auf den christlichen Glauben, so stosse ich zuerst auf den Paulus. Er hat sich zuerst in eine Vermittlerrolle aufgeschwungen; spannenderweise, ohne Jesus direkt begegnet zu sein. Gleich darauf, wenn ich weiter zurückdenke, stosse ich auf die 12 Apostel, die so häufig einen Schutzring um Jesus zu bilden bemüht waren, damit die Glaubenden ja nicht direkt mit ihm und mit seiner Botschaft in Verbindung kommen konnten; wie oft hat Jesus sie dann zurechtgewiesen („lasst die Kinder zu mir kommen!“)… Und zuletzt, am Ursprung des Problems der vermittelten Gottesnähe, finde ich die Person Jesus: nicht den ursprünglichen Menschen Jesus, den Propheten und vom Geist Gottes erfüllten Heiler und Deuter, sondern diese Blasphemie, den „Sohn Gottes“, Gott in Menschengestalt. Was für eine Last haben die Kirchenväter hiermit den Gläubigen aufgebürdet: dem einzigen sündenfreien Menschen nachfolgen zu müssen, der dazu noch „alle Sünden der Welt“ auf sich genommen hat.

Ermächtigung zum Vergeben / Heilen

Die Mystikerin nun gefährdet in ihrem mystischem Handeln und Denken diese Herrschaftsordnung, diese Gottesvermittlung. Denn das mystische Denken und Handeln umgeht jegliche Vermittlung: es weiss sich fähig, sich selbst den Weg zu Gott zu bahnen; es weiss sich gottfähig. Diese Haltung und diese Handlungsweise befreit: von Herrschaft und Strukturen, von Herkömmlichem und Tradition, von Lehrmeinung und Lehramt, es macht Veränderung und Umkehr erst recht möglich.

In meinen Augen braucht jede glaubende Person so eine Erweckung zur Freiheit, um wirklich glauben zu können; um sich aus dem herkömmlichen, überlieferten Glaubenskäfig emanzipieren zu können. Denn in dieser Emanzipationsbewegung blüht die ganze Selbstermächtigung auf, die Gott uns zutraut und schenkt.

Mystisches Erkennen befreit

Ich werde niemals mein mystisches Erkennen vergessen, das mich aus meiner Glaubensunmündigkeit befreite. Ich war auf den Spuren des Begriffs „Menschensohn“, der häufig als eine Art „Ehrentitel“ von Jesus verstanden wird. Und ich fand in der „Bibel in gerechter Sprache“ eine moderne Auslegung dieses Begriffs, der in Jesus den (angeblich notwendigen) Vermittler zerstörte und mich selbst zum Handeln ermächtigte. Denn die Stelle übersetzt „Menschensohn“ mit „Mensch.

Die Stelle war Mk 2, 10f. und heisst in der BigS:

Damit ihre erfahrt, dass Menschen die Vollmacht haben, auf der Erde unrechte Taten zu vergeben“ – so sprach Jesus zur gelähmten Person -, „so sage ich dir: Steh auf, nimm deine Schlafmatte und geh nach Hause.“

Und selbst heute ist mir jedes Mal, wenn ich diese Stelle lese und neu erkenne, als loderte hellstes drängendstes Licht in meinem glaubenden Geist auf. Es war und ist dies ein Zuspruch, der uns ermutigt, selbst Vergebungsarbeit zu leisten, diese Arbeit im Sinne von Gottes Gerechtigkeit selbst in die Hand zu nehmen – und nicht auf einen Vermittler zu warten, der stellvertretend für uns um Vergebung bittet oder diese an unserer Statt erst ermöglicht.

Vergebensarbeit und Vergebensbitte bringt Heilung

Auch wenn das Vergeben – das zuvorkommende, vorauseilende, urteilsfreie Aussprechen und Ausdrücken von Verletzungen und krankmachenden „unrechten Taten“, das Aus-Sprechen von Fehlern und Schwächen in Verbindung mit einer zuvorkommenden, urteilsfreien Anhörung und einem Aufmerken auf die aussprechende Person – eine lebenslange Herausforderung darstellt, die viel mehr Mut braucht als jeder männliche „Held“ der Geschichte (ausgenommen Jesus und andere Propheten) je aufgebracht hat, so will ich mir ihr stellen. Denn wenn ich schon die Kraft menschlicher Handlung erkannt habe, zu der Gott uns für fähig gehalten und begnadet hat, so will ich nicht davon zurückschrecken – und womöglich erneut das Vergeben delegieren… 

Und natürlich ist das keine Einbahnstrasse: ebenso gilt es um Vergebung bitten zu lernen bei jenen, die ich verletzt, im Stich gelassen habe. Das ist sogar die noch grössere Aufgabe.

Im Bitten um Vergebung geht es darum, zuerst der anderen Person aufmerksam und zugewandt entgegenzugehen, ebenso urteilsfrei und ebenso vorauseilend wie im Vergeben, um ihr ganz Gehör zu schenken, sodass sie im Aussprechen und im Ausdrücken sich selbst befreien und reinigen kann von den Verletzungen und krankmachenden „unrechten Taten“, die sie durch mich erlitten hat, und erst dann darf ich selbst mich befreien und reinigen von meinen „unrechten Taten“…

Und in beiden Handlungen brauche ich keinen Vermittler, keine vorgeschriebenen Riten. Ich selbst bin derjenige, der für Heilung, Gesundung und Erlösung oder Rettung eintreten und sorgen kann. Das ist, wie ich es heute sehe, mein Auftrag vor Gott.

Und jetzt fürchte ich mich fast ein wenig vor dieser Ermächtigung zur Vollmacht…


(Image by Avelino Calvar Martinez from Pixabay.)

Glauben ohne Konfession XI: Glauben in der Überschau

Der Begriff des Glaubens ist in meinen Augen einer der schwierigsten. Dies ist er aus vielerlei Gründen.

Der Glauben als Lebens-Einstellung und das Glauben als aktive Seelen- oder Vernunftbewegung werden in den monotheistischen Offenbarungsschriften immer wieder als ursprünglich-instinktive, als gefühlsmässig-hörende oder -gehorchende Handlung und Haltung verstanden.

So sagt Jesus zur Frau mit dem Blutfluss: „Meine Tochter, dein Glaube hat dich gerettet.“ Und zum Synagogenvorsteher: „Fürchte dich nicht! Glaube nur!“ (Mk 5,34 und 5,36 in der EÜ)

Glauben als Vertrauen und Annehmen

Trotz meines Widerstands gegen den Begriff des Gehorchens – der in meinen Ohren zu dem des Aufmerkens und Hinhörens umformuliert werden sollte -, und trotz meines aufgeklärten, mündigen Verstandes, dem Wunderheilungen – und noch dazu durch blosses Glauben an die Heilung! – im Mindesten suspekt sind, trotzdem habe ich mir immer wieder von Neuem einen Reim darauf zu machen versucht.

Zuletzt habe ich „glauben“ mit „vertrauen“ einerseits und mit „annehmen“ andererseits gedeutet. Das meint, „vertrauen auf Heiling im zeitlichen Nun und Rettung im Bezug auf Letztes“. Das heisst, „in der Annahme von Schmerzen, „Anfechtungen“ oder „Versuchungen“, von Todesängsten und Krankheiten, als im Bejahen des Bösen, das dir geschieht, erweist du dich als gottnaher, gottwürdiger Mensch“. In diesem Sinne hat „annehmen“ grosse Ähnlichkeit mit Demut und Geduld, den beiden Seiten der gleichen Medaille. (Mit Gehorchen hat es dann nichts zu tun, wohl aber mit dem erduldenden, ertragenden Leiden im Wissen auf eine endliche Lösung oder Rettung hin.)

Dabei muss immer klar sein, dass sowohl die Haltung als auch die Bewegung namens „Glauben“ eine entwicklungsoffene, eine nie abgeschlossene ist. Der Gläubige, der seinen Glauben „gefunden“ hat und sich darin „einnistet“ (seines Glaubens und seines Gottes gewiss ist), der glaubt bereits nicht mehr – ist ein Kafir, ein Pharisäer.

Flieg auf, kleiner Vogel!

Im Gespräch über einige Predigten von Meister Eckhart nun glaube ich einen solchen Entwicklungsschritt getan zu haben – oder noch zu vollziehen. Verortete ich den Glauben / das Glauben bisher hauptsächlich in der Person der Glaubenden – also als eine Haltung und Handlung im Dienste der glaubenden Person -, so verstehe ich den Glauben und das Glauben nun als ein „Herausheben aus der Person“.

Was meine ich damit?

Wenn ich Eckhart „folge“, auf ihn „höre“, ist es mir als Geschöpf möglich, auf meinem „Seelengrund“ (in meinem „innersten Menschen“, wo ich nicht mehr Person bin) in der Leere vom Kreatürlichen zu Gott zu finden, „den Sohn einzugebären“; jedoch nur, wenn ich mich von Person und naturhaften Neigungen und Fähigkeiten „entblösst“ habe.

Laut Eckhart ist dies der Moment – eben das Nun -, in dem Gott sich zu mir Kreatur und Geschöpf herabneigt, herabkommt in mich hinein; der Moment, in dem ich mit Gott eins werde.

Und in diesem Nun nun, das über Zeit und Raum west und webt, stehe ich selbst über Raum und Zeit. Ich befinde mich in der „Fülle des Lebens“, im „Reich Gottes“, in der „Ewigkeit“ sogar.

Ich (nicht die weltliche, materielle Person) bin wie ein Falke, der sich hoch in die Lüfte schwingt und mit seinem geistigen, geistig geschärften Auge die ganze „Landschaft“ oder „Strecke“, den ganzen „Lauf“ seines Lebens, aller Leben aller Kreaturen oder Geschöpfe „über-schaut“.

Dieses aus sich selbst mit und in der Gnadenbewegung Gottes, der sich mir zuneigt, bei dem ich Wohlgefallen finde, Herausheben ist der Glaube, das Glauben.

Denn im Überflug, in der Vogelschau gelingt es mir (erst?), den ganzen Lauf und die ganze Breite meines vergangenen, vergessenen, verlorenen, gegenwärtigen und künftigen Lebens zu betrachten und verstehen: ich erkenne, wie viele Mäuse ich zu Elefanten erklärt habe, zu unüberwindlichen Bergen oder unergründlichen Schluchten.

Und in diesem absichtslosen Aufflug hinunter und gleichzeitig hinauf zu Gott glaube ich ganz und gar, und meine Leiden, Krankheiten und Versuchungen fallen wie Schuppen von mir ab, denn von dort oben und von hier unten sehe und weiss ich mich ganz und gar ungefährdet und im Guten.


(Image by Beto from Pixabay.)

Glauben ohne Konfession X: Widerstand im Glauben

Von meinem Vater habe ich die Ironie, und mit dieser auflösenden, schöpferischen Kraft auch den Instinkt des Zweifels.

Von der Familie her protestantisch, von seiner Mutter her katholisch, verwurzelt im Glauben an die pragmatische, wirtschaftliche Realität, hat sich mein Vater in seinen mittleren Jahren mit einem heftigen Bedürfnis dem Existenzialismus zugewandt. Den Begriff „Agnostiker“ erinnere ich schon ab frühester Kindheit, ebenso wie jenen des „Atheisten“.

In meinem kindlichen und jugendlichen Verständnis übersetzte ich, ein „Agnostiker“ ist eine Person, die „Entscheidungen über Letztes“ aussen vor lässt oder vertagt; eine Person auch, die abwartend am Wegrand steht, als könnte gerade an sie ein Zeichen ergehen, das natürlich und notwendigerweise auch gleichzeitig ein Beweis sein muss. (Dass nur der Suchende gefunden wird und erkennt, vermutete ich damals schon.)

Bei unseren Kirchgängen fürchteten wir beiden Buben jeweils seine Kommentare und Einwürfe, sein gegen die Riten protestierendes Verhalten („Was? Schon wieder aufstehen?“ – „Was? Schon wieder hinsitzen? Jetzt entscheidet euch doch mal für das eine oder andere, herrgottnomol“), das unsere Mutter beschämte und das Kirchenvolk zu bösen Blicken und Zischen ermunterte, ebenso sehr, wie wir es bewunderten. Ich sehe in dieser seiner Haltung auch heute noch ein Gegengift gegen den unhinterdachten Traditionalismus und die klerikale Hierarchiegläubigkeit der 80er Jahre.

Selbst während meiner Rückbesinnung auf meinen Glauben mit 40, selbst während meines Studiums der Religionspädagogik konnte ich dieses Erbe nie verleugnen, begann es im Gegenteil hoch einzuschätzen. Denn dieser widerständigen Grundhaltung zum Glauben – und vor allem zu Glaubenssätzen und zu vorgefassten, indoktrinierten Lehren – verunmöglichte jeden Kinderglauben.

So begegne ich Wahrheitsansprüchen im Glauben von Anfang an mit Misstrauen – und Unglauben. Noch nie konnte Gott in meinen Augen eine Art höher gehängter antiker Mythengott sein, mit dem Belohnung und Strafe verhandelt werden kann. Auch die widersinnigste Wahrheit muss sich letztlich der Vernunft und Logik öffnen.

In der Auseinandersetzung mit mystischen Bewegungen und Schriften habe ich erkannt und erkenne ich weiterhin, dass meine Glaubensbewegung (mein Glaubens-Weg?) eine der vorsichtigen, prüfenden Hinwendung ist, auf die umgehend eine Abstossung oder Abwendung (halb im Ekel halb in fröhlicher Hysterie) erfolgt. In dieser fast tanzenden, auf jeden Fall spielerischen Bewegung (ein Schritt vor, zwei Schritt zurück) erneuere ich meinen Glauben, erforschend und erkundend.

Dabei inspirieren mich Zwiegespräche mit anderen Gläubigen unabhängig von deren Religion. Gerade die Auseinandersetzung mit dem Islam empfinde ich als besonders fruchtbar. Und je länger ich mich hinterfragend und erwägend, nachfühlend und empfindend mit dem beschäftige, was ich glaube – wohl wissend, dass der Glauben eines Menschen eben gerade kein Fels ist, auf dem für immer fest und sorglos zu stehen wäre -, desto deutlicher und fundierter beginne ich meinen Glauben zu gestalten, mitzuteilen und im eigenen Leben zu verankern.

In den nächsten Tagen möchte ich, quasi als Fastenübung auf Karfreitag hin, folgende Glaubenspunkte für mich schreibend erkunden:

  • Glauben: mehr als vertrauen, mehr als annehmen / hinnehmen – darüber stehen ohne Überheblichkeit oder Hochmut
  • Maria: nicht Gottesmutter, aber ein ganz zu Gott hingewandter Mensch
  • Dreifaltigkeit: Hindernis zu Gott
  • Jesus: Prophet
  • Absage an Ostern als einer unnötigen Überhöhung eines wahren Menschen
  • Abkehr von der eigenen Konfession: Wohin sich wenden, wie weit gehen?

(Image by SBM from Pixabay.)

Demenz: Person und Fremdbestimmung

Seit gut drei Jahren ist mein Vater nun schon an Alzheimer erkrankt. In diesem Jahr war er bereits dreimal im Krankenhaus, wegen Stürzen und Krankheit. Beim dritten Mal wurde er nun vom Spital als „fremdaggressiv“ diagnostiziert und in eine psychiatrische Anstalt überwiesen. Dort soll er „stabilisiert“ und „richtig eingestellt“ werden. Laut den Ärzten könne das zwei bis drei Wochen dauern. Im Anschluss würde mein Vater in ein Alters- und Pflegeheim überstellt, das eine Demenz-Abteilung hat.

Seit dem Eintritt in die psychiatrische Klinik hat sich die geistige Situation meines Vaters rapide und drastisch verschlechtert, die „Fremdaggression“ ist jetzt ausgeprägter. Das heisst, er reagiert auf alles Fremde (Mensch oder Ding) mit Aggression(en). Er versteht seine Situation nicht, vermag seinen Aufenthalts-Ort auch nicht zu begreifen; er weiss nicht, warum er in der Klinik ist. Die alten Menschen mit Demenz, die auf seiner Station eingewiesen sind, unterscheiden sich von ihm selbst nur darin, inwiefern sie ihrer eigenen Person noch zeitweise habhaft werden können.

In der Woche seit seiner Einweisung fiel die Person meines Vaters zunehmend auseinander. Seine Wünsche und Bedürfnisse werden kaum noch geachtet. Sei gelten nichts mehr, gelten nicht mehr als die flüchtigen Illusionen eines halluzinierenden Gehirns; Illusionen, die keinen Stand mehr in der Wirklichkeit, in der Möglichkeit der Verwirklichung haben dürfen, wie es mir scheint. (In einem Gespräch hat er mir z.B. gesagt, er würde gerne noch einmal mit mir und seiner Frau durch den Herbstwald spazieren. Dass er von „noch einmal“ gesprochen hat, scheint mir ein Zeichen dafür zu sein, dass er sich seiner endlichen und unausweichlichen Demise bewusst ist.)

In den Augen der Psychiater ist mein Vater keine rechtliche Person mehr, weil er seine (eigenen) Rechte und Pflichten nicht mehr wahrnehmen kann; er ist nicht mehr urteilsfähig. Das ermächtigt sie dazu, über seine Art zu leben (und zu sterben) zu entscheiden. Durch diese Macht sind die Angehörigen, zuvörderst meine Mutter, ebenfalls in gewissem Sinne entmächtigt worden. Für meinen Vater ist die Fremdbestimmung total.

Dass sie dies (zu seinem eigenen und anderer Schutze) sein muss, liegt u.a. daran, dass mein Vater seine Person immer weiter verliert. „Die Person als unteilbare Substanz eines vernünftigen Wesens“, wie sie Boethius definierte, kommt ihm im Laufe seiner unweigerlich und unhinderbar fortschreitenden Krankheit abhanden. Zwar nimmt er sich weiterhin als ein „Ich“ wahr, kanns ich dieses Ich (mit Kant zu sprechen) vorstellen und erhebt sich damit über Steine, dennoch hat er keinen Zugriff auf die Realität mehr. (In einem Gespräch mit einem untersuchenden Arzt hatte er genau diese Frage gestellt: „Ja, was ist denn Realität?“ Es hatte die Zuhörenden alle erstaunt und sie zum Lächeln gebracht, selbst den Arzt.)

Mit Zugriff auf die Realität meine ich letztlich, dass er sich nicht mehr orientieren kann. Seine Weltsicht ist dadurch schwankend und unsicher geworden. Was er wahrnimmt, kann er vermutlich noch beurteilen, einordnen. Aber er verliert in gewisser Weise das Wissen vom Handeln, von den Folgen des Handelns. Auf das Einordnen folgt keine Handlung; das Erkennen ist nicht mehr direkt mit dem Folgern verbunden.

Noch blitzen wohl Teile seiner Person auf. So, wenn er plötzlich in Gedichtrezitation ausbricht. Oder wenn er in eine altbekannte Tirade gegen die anderen ausbricht. (In letzterer zeigt sich die Einsamkeit und bewusste Entfremdung von seinem oder gar einem gesellschaftlichen Leben, wie es z.B. mit Freunden möglich ist.) Doch sehe ich gut, wie seine Äusserungen von äusserlichen Reizen angestossen werden, – wie der herbstschöne Jura vor den Fenstern der Klinik den Gedanken an einen Herbstspaziergang im Wald hervorrufen kann. Die Reize wecken Wünsche, deren unmögliche Verwirklichung ihm nicht bewusst ist.
Dennoch frage ich mich, und es ist eine allseits schmerzliche Frage, die sich jeder Angehörigen eines dementen Menschen stellt, mit welchem Recht mein Vater in so kurzer Zeit entmündigt wurde, entmündigt werden musste (zu seinem und meiner Mutter Schutze).

Äussert er doch mit einiger Dringlichkeit zum Beispiel den Wunsch, meine Mutter zu sehen, weint, wenn sie kommt vor Freude oder Erlösung, will mit ihr nach Hause.

Allen ist klar, dass das nicht möglich ist (ausser ihm). Dennoch: ist dies nicht ein letzter Teil seiner Person, aus den 50 Jahren Eheleben mit meiner Mutter gewonnen? Ein letzter Teil seiner Person, der unbedingt respektiert und gewürdigt werden sollte?

Selbst dieser innigste, ja zutiefst menschliche Wunsch eines dementen Menschen muss ignoriert werden, als handelte es sich dabei um ein unvernünftiges Kind, das immer wieder Ausflüchte und Ausreden findet, um noch ein weniger aufbleiben zu dürfen?

Für Tausende von Menschen mit Alzheimer und Demenz gilt das Recht auf Selbstbestimmung nicht mehr, das wir in unserer Gesellschaft fast zu einem Gott erhoben haben (man denke nur an die Sterbehilfe-Organisationen). Schleichend haben sie dieses Recht ohne eigene Schuld eingebüsst, wird es ihnen allmählich entzogen. Mit ihnen verlieren es auch in gewissem Masse die Angehörigen: jetzt entscheiden Fachleute (die Ärzte) über ihr eigenes Schicksal und das ihrer Liebsten.
Und mit der Selbstbestimmung verlieren sie auch den letzten Rest an menschlicher Würde.

Ich sehe meinen Vater auf der Schwelle seines Zimmers stehen, mit einem grossen Schmerz im Gesicht, der halb aus Unverstehen stammt, leicht vornübergebeugt, als müsse er gleich losrennen, um uns einzuholen, die Hände hängen an seiner Seite hinunter, ein Abschied ist nicht möglich. Er versteht nicht, wohin wir gehen, warum wir gehen müssen. Es ist ihm nicht mitzuteilen. Die wenigen Augaufschlänge lang, da er durch uns wieder weiss, wer er ist, sind vergangen.

Ist er denn nur noch eine Art von Körpermaschine, der man keine Person zugestehen vermag, ein Insekt, das man lenkt? Sein ganzes Gesicht erzählt noch von ihm, seine Stimme, seine Bewegungen, aber seine Person ist zerfallen.

Verfügt er wirklich über keine Person mehr?

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Danke an geralt für das Foto.

Glauben ohne Konfession IX: Perfektibilität

Das jüdisch-christliche Denken beheimatet ein wundervolles, aber furchtbares Paradox. Ich möchte es hier „die Aufgabe des rechten Weges“ nennen.

Dieses Paradox hat einerseits mit der gottgeschenkten und gottgewünschten (Entscheidungs-) Freiheit des Menschen zu tun. Denn auch wenn die Heilige sich vermutlich gewünscht hätte, wir würden die Unterscheidung von Gut und Böse nicht kennen und lernen, so hat sie uns die Wahl gelassen. Der Mensch ist frei, sich für einen eigenen (womöglich auch: individuellen) Weg zu entscheiden, unabhängig von den Ge- und Verboten, die von der Heiligen ausgehen. (Diese Ge- und Verbote stammen aus der Einsicht in die Folgen des Guten, die Adonaj als einziger und erster Schöpfer besitzt.)

Die andere Medaillenseite des Paradoxes ist bereits angesprochen: Es gibt einen klaren, für jeden empfindenden, achtsamen und denkenden Menschen einsichtigen Weg des Guten. (Navajos nennen ihn den „Pollenpfad“, Lakota haben ihn „den guten, roten Weg“ genannt.) Doch das Gehen auf diesem Weg verlangt uns Menschen meistens eine Einschränkung, zumindest aber Geduld und Demut ab – im Gegensatz zu den durch die geschenkte Freiheit geforderten Instanzen von Entwicklung, Leistung und Machbarkeit.

Einschränkungen: Das Wissen um Zu- und Umstände in Welt, Natur und Gesellschaft, und die Einsicht in dieselben Um- und Zustände macht ein Handeln gegen bestehende Logiken, Paradigmen und Prozesse, die den Status quo verstärken oder verewigen, ethisch unumgänglich, ethisch unausweichlich.
Im Wissen und in der Einsicht in die Prozesse der anthropogenen (menschgemachten) Erderwärmung kann ich als Mensch nicht anders, als mich weiterer fossiler Mobilität oder dem Konsum von industriellem Fleisch zu verweigern; mich also einschränken, bescheiden, um auf dem „guten Weg“ zu bleiben, auf den die Schriften der Offenbarung und die Mythen und Traditionen der indigenen Völker weltweit nimmer müde werden hinzuweisen.

Was heisst „Perfektibilität“?

Dieses hier umrissene Paradox lässt sich gut mit dem Begriff der „Perfektibilität“ beispielhaft ausführen.
Eine gute Definition des Begriffes finde ich in meinem „Wörterbuch der philosophischen Begriffe“. Unter dem Stichwort „Perfektionismus, auch Perfektibilismus, frz. perfectibilite Vervollkommnungsfähigkeit“ heisst es dort:

… eine Richtung des aufklärerischen Geschichtsdenkens, besonders in Frankreich, die im gleichmässigen Fortschritt zu immer grösserer Vollkommenheit der Menschheit als Gattung den Sinn der Geschichte sieht…

Wörterbuch der philosophischen Begriffe

Diese Denkrichtung sieht also die Aufgabe des Menschen in seiner Vervollkommnung; dabei blickt sie durchaus positivistisch / materialistisch auf eine industriell zu deutende Entwicklung, die im Denken der Aufklärung ja auch der gesamten Menschheit zum Wohle dienen, auch im Sinne des „trickle-down“-Effekts den Armen und Ärmsten dieser Welt zugute kommen sollte.

Als von der Rousseau-Lektüre ebenso wie von der Nietzsche-Lektüre geprägter Denker kommt hier fast notwendigerweise Rousseaus visionär früher Widerstand gegen industriellen und kulturellen Fortschritt. Visionär deshalb, weil Rousseau den Urzeitmenschen, den „homme solitaire“ aufs Podest erhebt als die vollkommenste Form des Menschseins. Und die heutige Archäo-Anthropologie hat ihm inzwischen mit wissenschaftlichen Indizien und Funden recht gegeben: Die Jäger und Sammler des Paläolithikums waren Menschen, die Musse kannten und keinen Hunger oder dauernde Notlage; auch von Zoonosen ausgelöste Epidemien waren ihnen unbekannt.

Für Rousseau ist diese Perfektibilität, die im Menschen angelegt ist, der eigentliche Ursprung des Sündenfalls.

In meiner Lesart ist die Perfektibilität dabei mit der gottgeschenkten Freiheit identisch, die uns die eigenen Fähigkeiten und damit Möglichkeiten der Entwicklung nicht nur erkennen, sondern auch verwirklichen wollen lässt. Diese in dem Menschen inhärente Dimension von aktualisierbarer Potenz führt zum modernen Denken der Machbarkeit: Was denkbar ist, kann auch gemacht werden, und weil es gemacht werden kann (möglich ist), muss es auch gemacht (realisiert) werden.

Zusammenfassend liesse sich sagen, die Perfektibilität ist jener Bereich der menschlichen Freiheitswürde, der den Menschen am stärksten in den Abgrund der Hybris, des Hochmuts, der ersehnten Gottähnlichkeit führt.

„Alles entartet unter den Händen des Menschen“

Der erste Satz in Rousseaus Erziehungsbibel „Emile oder Von der Erziehung“ drückt bereits diesen tief sitzenden Zweifel an der Moderne aus:

Alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers hervorgeht, alles entartet unter den Händen des Menschen.

Jean-Jacques Rousseau, Emile oder Von der Erziehung, 1762.

Diese skeptische Haltung hat erstaunliche positive Bewegungen hervorgebracht, ob in der Erziehung / Erziehungswissenschaft oder in der Philosophie. Das Rousseausche Denken sieht den Menschen als Ganzes, als Gesamtheit, vielleicht sogar als „von Natur aus vollkommen“ an. Rousseau will den Menschen nicht einschränken, sondern ihn auf diese gute, von der Gütigen vorgesehene und gewünschte Bahn lenken. So ist die handwerkliche Fähigkeit eine wesentliche Eigenschaft, die den Menschen zu einer Schöpfung führt, solange diese im Einklang mit der Natur steht. (Und gerade die handwerklichen Fähigkeiten und Berufe verkümmern immer mehr in unserer modernen Gesellschaft!)

Für Rousseau ist der Weg der Natur oder der Natürlichkeit jener Pfad, den der aufgeklärte Mensch aus der Einsicht in seine Gattungsart zu gehen hätte. Denn natürlicherweise würde der Mensch das Gute suchen, folgte er nur seinem ersten Impuls. Die Gesellschaft und die Kultur aber fälschen den Menschen, lassen ihn „degenerieren“.

Obwohl dieser Begriff der „Entartung“ vor allem durch die Ideologie der Nazis beschmutzt und fast unbenutzbar gemacht worden ist (Stichwort „entartete Kunst“), zeigt er gut auf, was Rousseau im tiefen Wortsinn meint: der Mensch folgt nicht mehr den ursprünglichen Impulsen (Instinkten?) seiner Gattung (seines Genus, seiner Art), sondern will sich und die Welt mit sich umgestalten, entwickeln.

Das technokratische Paradigma laut Papst Franziskus

Diese Reflexion wurde gestern von dem Schreiben „Laudate Deum“ von Papst Franziskus angestossen, reaktiviert. Schon in seiner Enzyklika „Laudato si“ hatte er das Thema des Klimawandels explizit und ausführlich thematisiert. Darin hatte er bereits das technokratische Paradigma unserer Zeit angesprochen und angeprangert:

Nie hatte die Menschheit so viel Macht über sich selbst, und nichts kann garantieren, dass sie diese gut gebrauchen wird, vor allem wenn man bedenkt, in welcher Weise sie sich gerade ihrer bedient.

LS, 109

Franziskus leugnet keineswegs die vielen Vorzüge, die Technik und Forschung für die Menschheit bewirkt haben. Doch er betont wiederholt, dass die Abschätzung der Folgen von technischen Neuerungen und Forschungserfolgen in Hinblick auf eine ganzheitliche Sicht auf Mensch und Umwelt meist ausbleiben oder ignoriert werden. In seiner Lesart verstärkt sich das technokratische Paradigma wie eine selbsterfüllende Prophezeihung. So weit, dass jetzt auch nur nach technischen bzw. technologischen Mitteln für die Bekämpfung der Erderwärmung gesucht und geworben wird – statt sich auf die Lehren von indigenen Völkern zu besinnen; doch dazu später.

Franziskus schreibt in Laudate Deum:

Während der vergangenen Jahre haben wir diese Diagnose bestätigen können und zugleich ein weiteres Fortschreiten dieses Paradigmas erlebt. Die künstliche Intelligenz und die jüngsten technologischen Neuerungen gehen von der Vorstellung eines menschen ohne jegliche Grenzen aus, dessen Fähigkeiten und Möglichkeiten dank der Technologie bis ins Unendliche erweitert werden können. So nährt sich das technokratische Paradigma in ungeheurer Weise von sich selbst.

Laudate Deum, 21.

Und er hält klar fest:

… das grösste Problem ist die Ideologie, der eine Besessenheit zugrunde liegt: Die menschliche Macht über alles Vorstellbare hinaus zu steigern, für die nicht-menschliche Wirklichkeit nur eine Ressource zu ihren Diensten ist. Alles, was existiert, hört auf, ein Geschenk zu sein, das man würdigt, schätzt und pflegt, und wird zu einem Sklaven, zum Opfer einer beliebigen Laune des menschlichen Geistes und seiner Fähigkeiten.

Laudate Deum, 22.

In meinen Augen steht der Begriff des „technokratischen Paradigmas“ genau für die Auswirkungen der dem Menschen geschenkten Perfektibilität.

Wechsel-Beziehungen und Verbundenheit vs. Kannibalismus

Als Argentinier kennt der Papst die bedrohte Lebensweise seiner Mitmenschen, der indigenen Völker. Diese können immer weniger nach ihren eigenen Wegen und Haltungen leben und schöpfen, weil sie vom technokratischen Paradigma entrechtet, entwürdigt und entmachtet weren.

Indigene Völker von Papua Neuguinea über die Mongolei, von Kanadas Inuit über die Native People Nordamerikas bis zu den Ur-Peruanern, Ur-Mexikanern, etc: alle diese Völker versuchen immer noch verzweifelt, in diesem Einklang mit der Natur zu leben und schaffen, den ich als die Haltung der „Wechsel-Beziehungen“ oder „Verbundenheit“ bezeichnen möchte.

Diese Haltung der Zwischen-Verbundenheit steht laut Jack D. Forbes im Gegensatz zum „Kannibalismus“ der westlichen Moderne. Forbes hat den Begriff des Kannibalismus verwendet, um mit brutaler Deutlichkeit die nicht-nachhaltige, ausbeuterische-konsumistische Natur des Kapitalismus-Imperialismus-Kolonialismus zu veranschaulichen.

Ein Kannibale / eine Kannibalin ist demnach eine Person, die das Wahnsinn verfallen ist: Eine Person, die Ressourcen und Lebewesen einzig zu ihren eigenen Gunsten ausnützt, ohne an die Folgen dieser Versklavung und Ausbeutung, dieses Vampirismus zu denken:

Kannibalismus, wie ich es definiere, ist das Verzehren eines anderen Lebens für den eigenen Zweck und Gewinn.

Jack D. Forbes, Columbus and other Cannibals, 1992 / 2008.

Gegen dieses herrschende und versklavende, opfernde Paradigma hält Forbes die Haltung der Zwischen-Verbundenheit, der Zwischen-Beziehungen:

Der Pollenpfad und der rote Weg führen zu einem in einer heiligen Weise gelebten Leben, das sich dauernd der Wechsel-Beziehungen aller Lebensformen achtsam bewusst ist.

Jack D. Forbes, Columbus and other Cannibals, 1992 / 2008. Hier gebraucht Forbes den Begriff „inter-relationship“, den ich mit „Wechselbeziehungen“ übersetze.

Demut statt Hochmut

Je länger ich mich mit diesem Themenkomplex befasse, desto klarer wird mir, wie unentwirrbar und unentrinnbar ich selbst als privilegierter weisser Mann mit dieser Pefektibilität und diesem technokratischen Paradigma verstrickt bin – und davon profitiert habe und profitiere.
Vor diesem hier skizzierten Hintergrund verspüre ich eine grosse Sehnsucht nach Geduld und Demut, verstehe den heiligen Grund und die heiligende Wirkung dieser beiden Tugend-Mächte.

Ich möchte zum Schluss sowohl Forbes als auch Franziskus das Thema der Perfektibilität nochmals verdeutlichen lassen. Denn die Verfolgung der Verbesserungsmöglichkeit des Menschen hat uns nicht nur aus dem Paradies (und dem Paläolithikum) gewiesen – und ist unsere eigentliche Ursünde -, sondern hat uns eine Welt schaffen lassen, die uns selbst zerstört.

Diese Demut des Native American ist eine Demut, die auf dem Bewusstsein und Wissen von der eigenen Schwäche gründet, aber auch auf dem Bewusstsein, nur ein einzelnes Mitglied einer riesigen universalen Familie zu sein. Mit dieser Art von Demut kommt auch die Achtung vor dem Leben und den Träumen der anderen Geschöpfe.

Jack D. Forbes, Columbus and other Cannibals, 1992 / 2008.

Und während Forbes von der Krankheit namens „wetiko“ spricht, schreibt Franziskus ganz ähnlich:

Der Mensch ist nicht völlig autonom. Seine Freiheit wird krank, wenn sie sich den blinden Kräften des Unbewussten, der unmittelbaren Bedürfnisse, des Egoismus und der Gewalt überlässt. In diesem Sinne ist er seiner eigenen Macht, die weiter wächst, ungeschützt ausgesetzt, ohne die Mittel zu haben, sie zu kontrollieren. Er mag über oberflächliche Mechanismen verfügen, doch wir können feststellen, dass er heute keine solide Ethik, keine Kultur und Spiritualität besitzt, die ihm wirklich Grenzen setzen und ihn in einer klaren Selbstbeschränkung zügeln.

Laudato si, 105.

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Mit Dank an _Marion für das schöne Bild.

Gut essen und gut leiden: Agonie und Narkose

So sehe ich nun das für gut an, dass es fein sei, wenn man gut isst und trinkt und gutes Mutes ist in aller Arbeit, die einer tut unter der Sonne sein Leben lang, das Gott ihm gibt; denn das ist sein Teil.

Prediger 5, 17; Lutherbibel

Diese fast schon widerständige Behauptung von Lebensfreude im Angesicht von Leid und Unglück, die dem Prediger eigen ist, sie ist für mich eine Art Glaubenssatz geworden für ein gutes Leben.

Darum lobte ich die Freude, dass der Mensch nichts Besseres hat unter der Sonne denn essen und trinken und fröhlich sein; und solches werde ihm von der Arbeit sein Leben lang, das ihm Gott gibt unter der Sonne.

Prediger 8, 15; Lutherbibel

Dieser ermutigende Gesang ist eine Bejahung von Lebensfreude im Wissen darum, dass „dem Gerechten wie dem Gottlosen, dem Guten und Reinen wie dem Unreinen“ dasselbe begegnet und geschieht. Denn „dass es einem geschieht wie dem andern“, „das ist ein böses Ding unter allem“, – „daher auch das Herz des Menschen voll Arges wird“.

Darum merkte ich, dass nichts Besseres darin ist denn fröhlich sein und sich gütlich tun in seinem Leben. / Denn ein jeglicher Mensch, der da ist und trinkt und hat guten Mut in aller seiner Arbeit, das ist eine Gabe Gottes.

Prediger 3, 12f.; Lutherbibel

Die Weisheit des Predigers liegt also darin, erkannt zu haben, welche Haltung einem gelingenden Leben zugrunde liegt. Eingesehen zu haben, dass Harm und Schuld angesichts der Ungerechtigkeit in Gesellschaft und Geschichte wie auch im eigenen Leben keine tragenden Gefühle sind, ja: sein dürfen. Dass Ohnmacht und Zorn keine Antworten sein dürfen. Dass Mitleiden am Leiden in und an der Welt nichts ändern wird.
Dieses Gegeneinanderhalten, das kein Gegeneinander-Aufwägen, sondern ein Annehmen ist, eben: ein Einsehen, ein Belehrtsein, ist für den Prediger Anlass für eine Rückkehr und eine Konzentration auf das Einzige, was du mehr oder minder wirklich bestimmen kannst: auf dein eigenes Wohlbefinden und Wohlergehen, auf deine eigene Lebenshaltung.
Um es mit anderen Worten zu sagen, wie sie sich Dorothee Sölle in „Mystik und Widerstand“ von Reinhold Schneider borgt und wiederverwendet: Unser Leben pendelt zwischen Agonie – dem Mitleiden und Daran-Leiden und der Ohmacht oder Wehrlosigkeit – und der Narkose – dem Wegschauen, dem Für-sich-Schauen und -Sorgen, der konsumistischen selbstbefriedigender Gleichgültigkeit.
Die Haltung des Predigers gründet in meinen Augen jedoch nicht auf Gleichgültigkeit, sondern auf Gleichmut. Um diese Haltung mit den Worten des Grimmschen Wörterbuchs zu fassen:

fast ausschliesslich als bezeichnung einer gleich bleibenden seelischen verfassung, eine gleichmäszig festen haltung im sinne der gelassenheit…, als bezeichnung angemessener, maszvoller, gleichbleibender haltung oder gesinnung, die frei ist von überheblichkeit…

Grimm 1984 VII, 8174 ff.

Diese ideale „verfassung“ ist kein Desinteresse, kein fehlendes Engagement; sie ist eine „gesinnung“, die das Gute wie das Böse, Wohlergehen und Leid zusammendenkt, sich gleichzeitig auch nie an die Extreme kettet, sondern das „falsche Denken“ des Dualismus als Trugschluss liest: zwischen Gut und Böse, Leiden und Wohlergehen all die millionen Abstufungen und Facetten sieht oder weiss, und aus diesem Wissen vom Werten absieht, und aus diesem Wissen heraus betrachtet, mitfühlt und gegebenenfalls handelt.


Exkurs: Mitleiden oder Mitfühlen?

Wenn sie andere leiden sieht, so leidet sie mit„: ein schöner Beispielsatz aus dem Duden-Wörterbuch, der mir einen schönen Einstieg in diesen für mich schon längst notwendig gewordenen Exkurs erlaubt.
Denn ein Merkmal des Leidens ist die Ohnmacht, das Versiegen der Hoffnung: Leiden entfremdet, entmenschlicht, schwächt und stumpft ab.
Wenn ich ein Lebewesen leiden sehe und mitleide, so laufe ich Gefahr, selbst vom Leiden entmündigt und entmächtigt zu werden.
Wer mitleidet, ist unfähig zu Trost und Hilfe.
Wer jedoch mitfühlt – „am fühlen jemandes teilnehmen“ (Grimm 1984 XII, 2343), – nimmt zwar Anteil an diesem Gefühl, an diesem Zustand, wird aber nicht in dessen Sog hineingezogen, bleibt also handlungsfähig, trost- und hilfsbereit.

Für dich mag das jetzt ein wenig linguistische Akrobatik sein, du denkst: „also ich brauche die beiden Begriffe gleichberechtigt“ oder „also ich sehe den Unterschied zwischen den beiden Begriffen nicht“.

Lass dir also den Unterschied erzählen: Ich war immer wieder in Situationen präsent, da jemand litt (seelisch oder physisch), jedes Mal fühlte ich mich ohnmächtig und hilflos, weil das mitgelittene Leiden mein ganzes Handeln blockierte. Ich stand mit hängenden Händen und hängendem Kopf machtlos neben der leidenen Person. Ich schwankte zwischen Hysterie und Kreislaufzusammenbruch. Ich war keinerlei Hilfe; oft musste mir (auch noch) geholfen werden.
Vor einigen Jahren dann begriff ich zum ersten Mal angesichts meines eigenen, persönlichen Leidens, dass Mitleiden keinen Trost und keine Hilfe bietet: wie verkrüppelt, trostlos und ratlos sassen meine liebsten Menschen an meinem Spitalbett und vergrösserten nur meine Schwäche, liessen mich (ohne böse Absicht!) inmeinem Erstaunen und meiner Furcht allein. (Allerdings nicht die Kinder…)
Seither weiss ich: Mitfühlen lässt dir die Kraft zum Trost und zur Hilfe, Mitleiden lässt dich selbst in die Ohnmacht sinken.
Eine mitfühlende Person sieht das Leben in der Gesamtsicht, eine mitleidende Person sieht nur den Ausschnitt des Lebens, in dem Leid(en) geschieht – und verlängert dessen Dauer, verstetigt dessen Präsenz im Leben.
Und natürlich denke ich nicht zuletzt an die Überlegungen von Prousts Ich-Erzähler, wenn er über die Metaphorik der Caritas Giottos nachdenkt:

Wenn ich später im Laufe meines Lebens beispielsweise in einem Kloster Gelegenheit bekam, wahrhaft heiligen Verkörperungen der tätigen Barmherzigkeit zu begegnen, hatten sie im allgemeinen den rüstigen, nüchternen, unbeteiligten und kurzangebundenen Ausdruck eines überbeanspruchten Chirurgen, jenes Gesicht, in dem nichts von Mitgefühl zu lesen ist, keinerlei Ergriffenheit angesichts menschlichen Leidens, keine Furcht, daran zu rühren, und ebendas ist das Gesicht ohne Sanftmut, das unsympathische und erhabene Gesicht der wahren Güte.

Proust Reclam 2020, 119

Doch die Grossartigkeit und Vielfalt der Bibel bietet genau diesen ständigen Perspektivenwechsel, der den Dualismus überwindet. So wie keine Offenbarung endgültig ist, so ist auch keine Einsicht abschliessend.
Wie gross war mein Erstaunen, als ich im 2. Kapitel des Buchs der Weisheit auf eine ironische Spiegelung der Haltung des Predigers stiess. Dort legen die „Gottlosen“ ihre Überzeugung mit grosser Sprachkraft, ja fast mit der Verve des Psalmisten oder des Predigers dar. Es ist eine Freude, diesen Text entdeckt und gelesen zu haben. Denn auf einmal kommt hier das „häwäl“ des Predigers, das „Haschen nach Wind“, das Einsehen der Vergeblichkeit menschlichen Strebens und Webens, aus dem Mund seiner „Gegner“. Was vorher so glaubwürdig und einsichtig geklungen hat, ist nun trügerische, törichte Rede.
So sagen die Gottlosen:

Kommt also! Lasst uns geniessen, was es Gutes gibt! Lasst uns die Schöpfung in vollen Zügen auskosten, wie in der Jugendzeit; kostbaren Wein in Hülle und Fülle – und keine Frühlingsblume soll uns entgehen! Bekränzen wir uns mit Rosen, ehe sie verblühen! Keine Wiese soll von unserem Treiben unbehelligt bleiben, überall wollen wir Zeichen der Fröhlichkeit hinterlassen; denn das ist unser Anteil und unser Los.

Weis 2, 6-9; BigS

Obwohl in diesem Text, der durchaus als Verspottung zu lesen ist, sogar die Formulierungen des Predigers gespiegelt werden („denn das ist unser Anteil“), wird der Lesenden bald deutlich, dass es hier um ein ausgelassenes Prassen, nicht um ein geniessend-genügsames Essen und Trinken geht. Ich sehe hier vor meinem inneren Auge die Bilder von den Wiesen, auf denen die Gäste eines Open-Air-Festivals gefeiert haben und nach der Feier ohne Aufzuräumen abgezogen sind… Hier handelt es sich um ein gänzlich anderes Fröhlichsein, um ein gänzlich anderes Geniessen des Lebens, und das wird gleich im darauffolgenden Absatz klar:

Lasst uns die Aufrechten unterdrücken, Witwen nicht schonen und die grauen Haare alter Männer nicht scheuen! Unsere Kraft bestimme, was Gerechtigkeit sei! Denn alles Schwache erweist sich als unbrauchbar.

Weis 2, 10f.; BigS


Und schon befinden wir uns wieder mitten im Zentrum der Anfrage, die ich mir in diesem Text zu erwägen vorgenommen habe: Wie verhalte ich mich als Glaubender nicht nur im eigenen Leid, sondern auch im Falle fremden, weitaus schlimmeren Leids, das zu lindern fast unmöglich scheint und meine Kräfte übersteigt? Und wie verbinde ich meinen Wunsch nach einem guten, gelingend-geniessenden Leben damit?
Es ist mir unmöglich, das Leider einer jungen beschnittenen Frau auch nur in Ansätzen zu verstehen oder nachzuvollziehen; genauso wie ich mich unfähig fühle, das Leiden der vergewaltigten Frauen in der Ukraine, in der Region Tigrai in Äthiopien oder in Syrien zu lindern.

Gewiss, ich kann immer noch Zuflucht zur Narkose nehmen, mich betäuben im Wohlleben und Wohlstand der Schweiz, mich in der Völlerei suhlen, im schlimmsten Fall gar in die beelendende Haltung der Alkhol- oder Drogensucht verfallen, um nicht leiden oder fühlen zu müssen, was mich doch betreffen muss. Ich kann bewusst wegschauen, die Konfrontation mit dem Leiden des „Gottesknechts“ (Jesaja) verdrängen, doch wird es sich dabei immer nur um eine Herauszögerung handeln, um eine unmögliche Abwehr.

Gleichzeitig bin ich überzeugt, dass die entgegengesetzte Haltung, die Agonie, eine ebenso ausweglose ist. Ausweglos, weil ich mich in ein Mitleiden begebe, das mich genauso lähmt wie die Leidenden. Ausweglos, weil im Mitleiden noch nicht geholfen ist. Die Handlungslähmung, welche die Agonie in meinen Augen ist, führt mich nicht in den Widerstand, sondern in die Wehrlosigkeit. (Immerhin lässt sich aber das Wort Agonie verbinden mit dem hellenistischen Streitgespräch, Agon, das auch ein musischer oder sportlicher Wettkampf sein konnte.)

Letztlich musst du selbst eine Gewissenslösung finden angesichts der Entfremdung und Entmenschlichung der Welt.

Ich persönlich nehme das Schwanken zischen den beiden Polen an, stehe zu diesem Schwanken, dieser Unentschlossenheit. Ich verstehe den Menschen nicht als ein Lebewesen, das die Extreme lange aushält, sondern als eines, das sich im Zwischendrin, im Beinahe, im Geradeso, im Schattenreich des Unentschieden-Schwankenden heimisch fühlt. Um jedoch immer wieder ins grelle Licht oder in die blendende Dunkelheit zu treten, um seine Ohnmacht und Schwäche mit einer zeichenmächtigen Tat aufzuheben und zu versinnbildlichen.


(Das Bild der Caritas aus der Cappella degli Scrovegni, entstanden um etwa 1306, ist gemeinfrei; ich habe es der Wikipedia-Seite entnommen.)

(Der „Exkurs Mitleiden oder Mitfühlen“ zehrt hauptsächlich von einem Gespräch mit J.M. Sie hat mich zum ersten Mal auf diese Spur geführt. Ich danke hier für den anregenden, philosophischen Austausch!)

Mit einem Kind spielen

Gestern habe ich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder einmal mit einem Kind gespielt. Mit dem dreijährigen Sohn meines besten Freundes. Mit zwei identischen Feuerwehrautos aus HOlz, zwei Pastikfischchen, in denen Reste von Sojasosse waren, mit meinem Gedichtheft, seiner Trinkflasche, mit meinem Hut und zuletzt auch mit meinem gelben, geliebten Kugelschreiber. Dazu haben wir noch eine Restaurant-Quittung und ein angeklettes, aber ablösbares Schildchen bentutzt, auf dem die Gäste des Lokals auf die Selbstbedienung aufmerksam gemacht wurden; die beiden Dinge waren unsere Parkplätze.
Wir hatten uns in einem dieser Konsumtempel in der Züricher Europaallee, diesem Sinnbild für Gentrifizierung, niedergelassen. Es war kein Laden, obwohl überall reich bestückte Regale mit veganen biologischen Produkten standen; und es war kein Restaurant, denn es gab mehrere „Essensstände“, an denen du dir was dein Herz begehrt und deine Börse erlaubt bestellen und an einem der um eine Art Atriumtreppe gruppierten Tische verspeisen konntest. Wir hatten uns in der Nähe eines Spielbereichs für Kinder hingesetzt, in dem auch Frauen und Männer mit ihren Säuglingen und Kleinkindern sassen udn miteinander redeten; das Hand in Griffnähe für allfällige Schnappschüsse ihres Liebsten.
Ich fühlte mich zuerst unwohl, bedroht, obwohl wir ja zu viert unterwegs waren, wie ich mich immer fühle, wenn ich in der Umgebung von reichen und schönen Menschen bin. Ich fürchte sie sehr, denn ich weiss um ihre Selbstgewissheit, um ihr untrügliches Sicherheitsgefühl. Manche von ihnen haben tatsächlich vergessen, dass sie nichts besitzen, dass sie meilenweit über dem Abgrund des wirklichen Lebens seiltanzen. Ich halte mich lieber unten auf, schwinge mcih zur erschreckenden Erheiterung aber hin und wieder zu ihnen hinauf und tue, als sei ich einer von ihnen.
Mein Freund hatte sich kurz entfernt, um sich einen Kaffee zu holen. Ich hatte mir mein Gedichtheft gekrallt, um an einem im Zug begonnen Gedicht weiterzuschreiben. Ich schaffte drei Verse, dann wurde ich vom Sohn meines Freundes ins Spiel hineingeholt.
Ich könnte nicht sagen, wie lange das Spiel gedauert hat, zwei Stunden oder 15 Minuten. Ich erlebe so einen Zustand manchmal beim Schreiben, ein totales Konzentrieren auf einen kleinen Aus- oder Querschnitt der Welt. Herkömmlicherweise nennst du das vermutlich, „ich war auf einem anderen Planeten“, „ich bin voll abgedriftet“ oder „ich war vollkommen absorbiert“. Nur am Rand registrierten meine Ohren andere Geräusche von Kindern und Eltern, das zugewandte Gespräch meines Freundes mit meinem Sohn über dessen Ruderleidenschaft, ein Vater, der mit seinem anderthalbjährigen Kind zwischen den Regalen Verstecken spielte. Doch mein ganzes Wesen, meine ganze Aufmerksamkeit war auf diese beiden leicht klebrigen Tischplatten gerichtet, auf denen sich unser Spiel entwickelte.
Solche Spielverläufe sind schwierig nachzuerzählen, doch will ich es hier kurz versuchen: Am Anfang waren wir beide damit beschäftigt, mit den Feuerwehrautos die immer wieder auf der Trinkflasche ausbrechenden Brände zu löschen. Mit der Zeit kamen die beiden Sojafischchen hinzu; sie waren anfangs simple Feuerwehrmänner oder -Chauffeure, wurden dann aber in abwechselnden Rollen zu Ärzten, Doktoren; einer von ihnen verletzte sich (meistens der von mir geführte) und musste vom anderen geheilt werden. Später kam ein Krebs als Verletzungsursache hinzu (Daumen und Zeigefinger des Kleinen), ein aus meinem Heft herausgefallenes Blatt, das ich zu einem kleinen Papierflieger gefaltet hatte, wurde zu einer Taube. Es war ein angeregtes Verletzen, Jagen und Heilen. Bald wurde mein Hut zum Haus für eines der Feuerwehrautos, halb Feuerwehrposten und halt Spital oder Arztpraxis. Jetzt mussten die Verletzten klingeln und auf den Doktor warten. Der war einmal da und einmal nicht da, ganz wie ihm beliebte. Ganz am Ende kam noch der Kugelschreiber hinzu als Oberdoktor, der den Auftrag seines Jobs noch willkürlicher interpretierte. Inzwischen war auch mein Gedichtheft als Brücke oder Adler im Einsatz. Langsam begann das Spiel Endzeit-Dimensionen anzunehmen, selbst das Handeln der ansonsten stoischen Brücke, die von einem Tisch zum andern führte, wurde unvorhersehbar. Der Hut musste einiges erleiden, auch der Oberdoktor. Die Trinkflasche mutierte zum Löschinstrument. Jetzt war richtiges Wasser im Einsatz.
Das schliesslich war eine gute Zeit, um das Spiel zu beenden und aufzubrechen, und das Unwetter hatte sich auch gelegt. Die Feuerwehrautos wurden von meinem Spielgefährten ordentlich zurückgebracht, das kleine Publikum aus Kindern, die uns umstanden, löste sich auf, und wir verliessen den Konsumtempel.

Als Vater von zwei Kindern (21 und 14) weiss ich, wie wichtig es ist, sich ganz auf den Menschen, der das Kind ist, – es ist bereits ein ganzer Mensch, dem Achtung, WErtschätzung und Würde gebührt, – sich ganz auf diese Person einzulassen: ihr Zeitgefühl zu respektieren, ihre Bedürfnisse wahrzunehmen und achten ohne sie jedoch immer zu befriedigen, etc.
Ich weiss, dass du als Vater oder Mutter im Dienst dieses Menschen stehst. Deine Verantwortung für diesen Menschen heisst aber nicht, dass du diesen Menschen besitzt. Du hast kein Anrecht auf diesen Menschen. Diese Person hat Anrecht auf deine ganze Anteilnahme.
Eltern (gute Eltern?) wissen darum, wie du dich auf einen Menschen einlässt, ihn oder sie ganz und gar ernst nimmst, sodass sie oder er sich entwickeln und werden kann, was er oder sie ist.
Nur sehe ich das in den Erwachsenenwelt viel zu selten gespiegelt. Die wenigsten von uns – und nehme dich bitte nicht aus! – gehen ohne Vorbehalt, Forderungen, Erwartungen und Ansprüche aufeinander zu. Die wenigsten von uns sehen den anderen als ebenbürtig und würdig an, die wenigsten sind bereit, sich auf jemand ganz und gar einzulassen, diese Person anzunehmen, ganz wie sie ist, ohne jeglichen Besitzanspruch; sie anzuschauen mit Anerkennung, sie anzuhören mit Zuneigung, ihr zu antworten in Freundlichkeit.
(Bei Katherine May las ich diesen wundervollen Satz über den Wald als Ort der Verzauberung: „Bring questions into this space, and you will receive a reply, though not an answer.“ – Das hat mich sehr ergriffen: Ja, du sollst nicht antworten, sondern erwidern in deinen Beziehungen.)
Denn das heisst ein Kind erziehen, werdenlassen; es ist das Gleiche wie einem Menschen begegnen: un versuche nicht, aus diesem kleinen Wesen etwas zu machen: führe es nicht in die Leistungsgesellschaft ein, lass es seine Kompetenzen selbstbestimmt und selbswirksam entwickeln, dein Kind muss kein multitalentiertes Genie sein. (Nebenbemerkung: Als ich geboren wurde, soll mein Vater in Lausanne einen Ratgeber gekauft haben, der den Titel trug: „Comment faire de votre enfant un genie“…) Dein Kind muss nur ein Dasein haben können, da sein dürfen. Das genügt vollauf.
Und was für ein Wunder, wie aus deinem Kind, dem du seine Kompetenzen zugetraut hast, eine Person wird, die sich entfaltet: ohne dein Dazutun fast, von alleine, weil du es angenommen, gewürdigt hast als vollständigen Menschen und ihm oder ihr immer zugeneigt bleibst. (Und manchmal scheint es schief zu gehen, doch dafür kannst du in meinen Augen meist nur sehr wenig.)

Ich sage all das vor einem schrecklichen Hintergrund, den ich nicht verleugnen und mir immer gegenwärtig halten möchte: der Praxis der weiblichen Geschlechtsverstümmelung (Female Genital Mutilation, FGM) in weiten Teilen des globalen Südens. Millionen von Mädchen werden verstümmelt und traumatisiert von diesem Eingriff. Ich fühle mich hilf- und machtlos vor diesem Fakt. Ich verstehe die Väter nicht und auch nicht (noch weniger?) die Mütter dieser Kinder.
Vor diesem Faktum will es mir die Sprache verschlagen, will ich kapitulieren. Denn was für eine vollkommen unverdiente Gnade ist es denn, im globalen Norden aufgewachsen zu sein und zu leben?

Doch schmälert dies das zuvor gesagte keineswegs: es gilt für alle Menschen auf dieser Welt, für alle Kinder.
Kinderrechte sind Menschenrechte. Kinder sind Menschen.
Lasst sie spielen und Kind sein. Seid selbst Kind.
Was wäre das für eine herrliche Welt, in der wir alle Kinder wären.
Ich sehne sie herbei, als wäre sie Gottes Reich.


(Mit herzlichen Dank an 12257183 für das herzige Bild.)

Glauben als Körper – Glauben mit dem Körper

Geprägt von einer christlichen, europäischen Glaubenstradition, die den Körper als Ursprungsort, als Sitz des Bösen oder der Sünde versteht, einer Tradition und Denkweise, die im Körper das Gefängnis der Seele sieht, die daher „nach dem Geist“ leben und streben will, finde ich mich am Ende einer längeren Zeit der Beschäftigung mit dem Alten Testament und dessen jüdischen Glaubensformen und Glaubenskonzepten an einem neuen Ort in meinem Glauben.

Ich möchte den Körper nicht länger mehr ausschliessen aus meinem Glauben, aus meiner Gotteserfahrung, denn der Körper ist meine „Brücke“ zur Welt. (Und selbst hier verstehe ich mich immer noch als ein geistiges Wesen, wenn ich den Körper als „Brücke“ bezeichne; denn ist der Körper nicht gerade dadurch gekennzeichnet, dass er IN der Welt ist?)

Zu einer Welt zudem, die aufgrund unserer systemisch erhaltenen Sünde zunehmend zerfällt – und auch unsere Existenz, unseren Fortbestand selbst als Lebewesen bedroht.

Zu einer Welt, die von den alten animistischen Glauben der Ureinwohner nicht nur als Schöpfung geachtet und geschätzt wurde, sondern die im Wesentlichen als ein Ganzes, ein Zusammen-Existieren, fast als nur „im-Zusammen-und-Gemeinsam-Leben“ fortbestehendes Lebewesen anzuerkennen ist.

Kurz: Jener Mensch, der den Geist und seine Kraft betont, gefährdet nicht nur das Überleben und Fortbestehen zahlloser Lebewesen, die eine von ihm unabhängige, mehr noch: eine ihn ermöglichende Lebensberechtigung haben, sondern in letzter Konsequenz auch seine eigene, nicht anders als körperlich zu denkende und empfindende Existenz und Lebensberechtigung.

***

Dein Körper ist so eine wichtige Form deines Lebens. Und während im Silicon Valley und anderswo im Glauben an die Machbarkeit und Funktionalisierung aller Dinge und Wesen an Konzepten von Unsterblichkeit oder zumindest der Lebensverlängerung herumgeforscht und herumgedacht wird, soll dich dein Körper immer wieder an deine Verletzlichkeit und an deine Sterblichkeit erinnern.

Er ist das Instrument der Schwerkraft, des Staubs für deinen Geist. Seine Bedürfnisse, Wünsche, Schwächen und Fehler verankern dich immer wieder von Neuem in der Kreatürlichkeit: du bist ein Geschöpf, kein Schöpfer.

***

Dein Körper hilft dir die Welt erfahren, erkennen, ja: einsehen. Eine kleine Beeinträchtigung seiner Funktionen zeigt dir auf, wie wichtig sein Ganz-Sein, sein Heil-Sein, sein Gesamt-, vielleicht sogar Gesammelt-Sein ist.

Vor kurzem hatte ich ein verstopftes rechtes Ohr; nichts Schlimmes, einfach einen Pfropf im Ohr. Ich habe die Beeinträchtigung eine Woche lang ertragen, bis sie zu stark wurde; ich musste allem Laut oder Geräusch mein linkes Ohr zuwenden – mein linkes Ohr begann darauf zu schmerzen. So habe ich mir bei meiner Ärztin mein rechtes Ohr ausspülen lassen. Was für ein wundervolles Gefühl war es, endlich wieder klar zu hören, fast schmerzhaft war diese Deutlichkeit der Laute und des Lärms.

Seit mein Gehör-Sinn wieder im Gleichgewicht ist, habe ich begonnen, auf Klang-Spaziergänge zu gehen…

***

Doch was könnte es heissen, Gott mit deinem Körper zu erfahren und loben? Und mit „deinem Körper“ meine ich ja letztlich „mit deinen Sinnen“, denn ein Körper ist ein Sinnesempfänger…

In einem Film namens „Foudre“ erlebt eine junge Frau, die aus dem Kloster zurück in ihr abgelegenes Bergdorf kommt, ein Aufblühen ihres Körpers im sinnlichen und Liebesspiel. Sie beginnt, ähnlich wie die mittelalterlichen Mystikerinnen, das körperliche Spiel mit den Sinnen und dem Geschlechtsempfinden immer mehr mit ihrem Glauben an Gott zu verknüpfen. Was dem engstirnigen Bergpastor und seiner teufelsfürchtigen und -süchtigen „Herde“ als Dämonen- oder Teufelswerk einer Versucherin erscheint, bekämpft und „ausgetrieben“ werden soll, wird von der jungen Frau, die ein erstes Mal körperliche Liebe erlebt und in einer leibfeindlichen Welt aufgewachsen ist, welche paradoxerweise in ihren Arbeitsweisen und Arbeitsformen sehr körperorientiert ist (Beispiel: das Heuen an einem Steilhang am Berg), – dieses Abwehren und Verteufeln wird von der jungen Frau als Befreiung und Widerstand empfunden: In der bewusst auch körperlich gedachten Beziehung zu einem anderen Menschen erfährt sie Gott. Denn Gott zeigt sich im Körper der Kreatur, sie wohnt ihrer Schöpfung und ihren Geschöpfen ständig auch ein.

***

Körperliches, sinnliches Erleben hat (entgegen aller leibfeindlichen Tradition) nicht nur ein mystisches, widerständiges Element, sondern vielmehr auch eine transzendierende, ein über deine eigene unmittelbare körperliche Existenz hinausweisende Wirkmacht.

Das kann nur schon jene oder jener verstehen, der einmal nach einem heissen, drückenden Sommertag das erste kühlende Lüftchen der Dämmerung empfunden hat, den Ruf der Turteltauben in der noch grauen Morgendämmerung oder das ansteckende Lachen eines spielenden Kindes, das Leuchten des Spiegels eines fliehenden Rehs im lichten Wald.

***

Im Alten Testament, der jüdischen Tora, wird der Mensch als Körperwesen, als ganzheitliche Kreatur verstanden und gelesen. Einzelne Körperteile oder Organe stehen für Lebensfunktionen. So ist die Kehle (näfäsch) jenes Organ, mit der ein Mensch ihre Bedürfnisse und sein Begehren kund tut.

Schroer und Staubli haben diese Körpersymbolik oder -Metaphorik erstmals herausgearbeitet. So schreiben sie über die Kehle als Symbol: „Die näfäsch steht so also für das Leben schlechthin. Wo keine näfäsch ist, da ist auch kein Leben.“

Dieses kreatur- und körper-basierte Glauben, Sagen und Handeln kann in meinen Augen dazu führen, dass wir in Glaubenswörtern oder in der schriftlichen Offenbarung nicht mehr einen figurativen, übertragenen Sinn suchen, sondern den buchstäblichen, körperlich gedachten Sinn. Diese Sagen, Handeln und Glauben kann gleichfalls dazu führen, dass wir unseren Körper vermehrt als Glaubensinstrument und Glaubensort wahrnehmen und benutzen, sei das im Wald draussen, um den Duft des Waldbodens zu geniessen und schätzen (und Gott dafür zu loben), auf einem Kiesweg in den Bergen, auf dem wir barfuss schreiten, in einer Umarmung für den eigenen Sohn, der wir eine Wärme und Zurückhaltung gleichzeitig vermitteln, um zu sagen: „Ich bin für dich da, wenn du mich brauchst, ich bin dir zugewandt allezeit“, in einem Kuss, in dem wir die oder den gänzlich Andere(n), der uns in sihrem Körepr von Gottes Schöpfungskraft erzählt, erforschen und „erkennen“…

Und vielleicht sollten wir wieder Gottesdienste machen, in denen das Essen eines Festmahls zentral ist, in dem mehr als ein symbolisches Verspeisen eines geschmacklosen „Brotes“ und das symbolische Trinken eines Tröpfchens schlechten Rotweins geschieht: ein Fest der Sinne, in der es keine Worte und Zeichenhandlungen mehr braucht, sondern der Akt des Schmeckens, Riechens, Kauens, Schluckens, Verdauens selbst genug ist und geschieht „Gloria in excelsis Deo“, zur Ehre und Verherrlichung der Göttin, die unsere Schöpferin war, ist und sein wird.


Anmerkungen:

  • Schroer, Silvia / Staubli, Thomas: Die Körpersymbolik der Bibel, Darmstadt (2) 2005.
  • Der Film „Foudre“ wurde von der Westschweizer Regisseurin Carmen Jacquier geschrieben und gedreht.
  • Für das schöne Foto am Anfang dieses Beitrags bedanke ich mich bei Shoolnau.

Aufgehoben in der Schwäche

(Bild mit Dank an Karabo_Spain.)

Einige Erlebnisse prägen unserer Haltung zum Leben und zum Glauben dauerhaft grundlegend und dauerhaft verändernd. Noch viel später entfalten sie ihre Wirkung; selbst wenn du denkst, ihre Strahlkraft und Wirkmacht müsse längst versiegt sein. Mehr noch: diese Kraft verändert im Laufe der Zeit ihre Gestalt, ihren Ton und ihre „Botschaft“.

Ein solches Erlebnis stellt für mich ein Hirnschlag dar, den ich vor 11 Jahren erlitten habe. Aufgrund einer gerissenen Karotiden-Arterie gelangte ein Blutgerinnsel in mein Hirn. Ich verlor die Beherrschung über meinen Körper. Ich war etwa anderthalb Monate in der Rehabilitation. Ich hatte dabei ein unglaubliches Glück: im Gegensatz zu vielen meiner Reha-Kolleg*innen gewann ich alle meine Fähigkeiten schnell wieder zurück; sie waren nicht stark beeinträchtigt worden.

Ein Moment der Anrufung: Anstoss zu andauernder Veränderung

Im Spital erlebte ich eine Anrufung. In einem Gottesdienst, zu dem ich im Rollstuhl gebracht wurde, predigte der Pfarrer über die Aussendung der Freund*innen Jesu (Lk 10,2):

Er sagte zu ihnen: Das Erntefeld ist gross, die Menge der Arbeiterinnen und Arbeiter aber gering. Bittet nun den Herrn der Ernte, dass er Arbeitskräfte für sein Erntefeld spriessen lasse.

Lk 10,2 (BigS)

Ich weiss nicht mehr genau, wie die Predigt auf mich gewirkt hat. In meiner Erinnerung ist alles vermischt: Meine Erschöpfung darüber, so lange aufmerksam und aufrecht sein zu müssen; meine Entkräftung, die sich in Übelkeit, Schwindel und Kopfschmerzen äusserte; das Jesus-Wort, das auf mich leise einzuwirken begann; di ein mir spriessende Freude über die Gemeinschaft im Gottesdienst mit allen anderen Patient*innen – ich glaube, im Moment musste ich mich nur noch ausruhen, nur noch neu Kraft schöpfen.

Erst mit der Zeit wurde dieses Erlebnis zu einem Gründungsmoment für den Rest meines Lebens (bis zum nächsten Gründungsmoment): die Anrufung durch eine andere, sinnhaftere Aufgabe, die ich damals „Berufung“ nannte; die Getragenheit in diesem Zustand der Schwäche, der auch einer der Ausgeliefertheit war.

Diese „Berufung“ ist inzwischen schwächer, persönlicher und säkularer geworden: ergänzt durch das Bewusstsein eines pädagogischen Auftrags, der nichts (mehr) mit der Vermittlung eines Glaubens, aber alles mit der ethischen Bemühung um das Mündigwerden der unterrichteten Kinder und Jugendlichen zu tun hat. Der Glaubensaspekt ist in den Hintergrund getreten: ich bin heute viel stärker damit befasst, mir Glaubens-Wissen und Glaubens-Erfahrungen zu erschliessen, die in den Heiligen Schriften und in der eigenen Erfahrung in der Wirklichkeit wurzeln.

Vertrauen aus der Schwäche und in der Schwäche

Dauerhaft und unverändert ist jedoch dieses Gefühl von Vertrauen aus und in der eigenen, menschlichen Schwäche. In der gefährdeten Lage weiss ich mich geborgen und gehalten, und je ratloser und schwächer ich bin, je auswegloser die Situation scheint, desto mächtiger wirkt in mir diese aufrichtende, diese auferstehende Kraft des Vertrauens.

Vertrauen worauf?

Es ist dies ein Vertrauen, dass du selbst im Bösen, im Schlechten, in Gefahr und schlimmer Krankheit von einer universellen Grundkraft aufgehoben und getragen werden kannst, wenn du dich ihr überlässt – unverdient und bedingungslos. Es ist dies ein Gefühl, das ich damals zum ersten Mal verspürt und später benennen gelernt habe: zum Beispiel, als mich meine damals 10- oder 11-jährige Tochter zu ihrem Chorkonzert geschoben hat, später bei jedem erfolgreichen Treppenlauf, nach jeder heftigen Migräne.

Ja, im Moment der Gefährdung und der Schwäche treibt mich mein menschlicher Sinn dazu, mit dem Unglück – ob Krankheit oder Unfall, Verletzung oder Depression – zu hadern und „mein Schicksal zu verfluchen“, wie du sagen könntest. Wie du bin ich (noch) nicht bereit, mein Geschick anzunehmen.

Doch zuletzt erfahre ich immer wieder dieses Geduld lehrende Gefühl eines Vertrauens darin, „dass es schon gut kommt“ – sogar, wenn dieses Gute der Tod oder eine bleibende Beeinträchtigung deiner Lebensqualität sein kann.

Ich denke sogar manchmal, dass du nur in solchen Fällen körperlicher oder geistiger Anfechtung und Gefährdung der HEILIGEN wirklich deine menschlich-göttlichen Qualitäten beweisen kannst: ein Zutrauen, das in der Geduld gründet und im Wissen um deine wirkliche Schwäche, den Hochmut, der dich als Herrn (oder Schmied) deines Schicksals, wenn nicht gar der Welt, verstehen und bestimmen will; eine Neigung, das Kommende bewusst wehrlos und ohne Kampf entgegenzunehmen.

Ich denke manchmal, dass du nur in der Schwäche zu deinem wahren Menschentum, wie HASCHEM es für dich gewünscht hat, finden kannst. Einem Menschentum, das in der Schwäche die Werkzeuge für ein „Leben in Fülle“ findet: die Geduld und die Demut.

Ein universalistischer, säkularer Blick auf deine Schwäche

Diese Gedanken kannst du auch weniger persönlich formulieren.

Wenn du ganz ehrlich zu dir über deine Kräfte, Ressourcen und dein Potenzial bist, musst du eingestehen, dass du nichts vermagst ohne dieses Vertrauen; nichts lässt sich wirklich erzwingen, alles ist letztlich ein Geschenk – sicher hilft dabei dein Einsatz, deine Mühe in der Arbeit und im Hoffen.

Doch alleine kannst du nichts. Du kannst zwar den Reproduktionsprozess anstossen mit einem Ei und einer Spermatozoe, aber dieser Prozess, einmal ins Laufen gekommen, kannst du nicht machen; er läuft – wie das Wachsen des Samenkorns in der Erde, über die der Bauer wachsam gebeugt wartet – ohne dein Dazutun ab. Du verdankst das entstehende Kind Prozessen und Mechanismen, die du nicht in der Hand hast. Du kannst diesem Prozess helfen, indem du dich gesund ernährst, deine Gesundheit nicht gefährdest, etc., aber diese von dir angestossene Entwicklung in dir hat nichts mehr mit dir zu tun – und doch alles; und doch sagen diese Prozesse alles über dich aus.

Wenn du deinen Blick, dein Denken und Verstehen auf die globale Ebene richtest: welche Aber-Milliarden kleiner und kleinster Prozesse laufen da ab, dass dein eigenes Leben weiterhin gewährleistet ist! Vom Korn, aus dem dein Brot ist, von der Traube, aus der dein Wein ist, über die Faser, aus der dein Kleid ist, bis hin zu den Ziegeln, die dein Dach bedecken – ja, bis zur Luft, die du gerade atmest: Wie viele Werdungs-Prozesse hat es dafür gebraucht, in die du nicht einbezogen warst, die du nicht einmal angestossen hast – die gänzlich unverdient und nicht machbar, nicht replizierbar sind! Das ist ein Werk von viel wichtigeren Lebewesen und Organismen als du, seien das Mikro-Organismen, Bakterien, Algen, Pilze – oder einfach die Blätter am Baum vor deinem Haus und die Läuse in deinem Rosenstrauch.

Du bist in deiner ganzen Existenz auf diese angewiesen. Du alleine bist nichts ohne dieses grosse, ganze und weitverzweigte Netz(werk), das dich erhält – und vielleicht, angesichts der kollabierenden Ökosysteme weltweit, bald nicht mehr erhält. 

Ein Blick zurück auf Kindheits-Spiele

Und dann denke ich an die kleinen, improvisierten Theaterstücke, die ich zwischen 8 und 15 Jahren mit meinen Freunden inszeniert habe. Darin ging es meistens um einen Helden, der in seiner Stärke plötzlich grässlich gefährdet wird und fällt. (Ja, der „Seewolf“ von Jack London lässt buchstäblich grüssen!)

Und in diesem Fall, in dieser Gefährdung (Todesnähe, etc.) kommt dem Helden (manchmal auch der Heldin – was in den Augen des Buben, der ich war, eine noch höhere Wirkung garantierte) eine stützende, helfende, aufrichtende Hand zu Hilfe (meist einer meiner Freunde in einer spontan erfundenen Rolle, manchmal gar ich selbst, indem ich aus meiner Rolle heraustrete).

Dieser Moment, da der Held hilflos und ausgeliefert war, „sein Ende nahe glaubte“, fast schon tot, in seiner Schwäche „darniederlag“ (ja, ich trug viel viktorianisches Pathos in diese Spiele hinein, während meine Freunde ihre Comic-Welten aktivierten), kurz bevor der Held / die Heldin gerettet wird – das war ein unglaublich erregender und beglückender, buchstäblich stärkender und revitalisierender Moment in der Schwäche.

Sonntagsstelle: Eingebären

Seit etwa einem Jahr kommt die Mystik mir näher, nähere ich mich der Mystik an. Ich lerne sie als eine Form der Annäherung kennen, die mir die HEILIGE in anderen Weisen näherbringt. Ich lerne die Mystik – und vor allem das mystische Sprechen – als eine neue Form des Ausdrucks kennen, die mich in die Einfluss-Zone der WEISHEIT einführt.

(Dass ich diese Entwicklung, dieses Anpirschen nicht alleine mache, hilft mir sehr, einerseits geerdet und andererseits angespornt oder herausgefordert zu sein und bleiben. Viele der Gedanken, die ich hier zu erfassen versuche, stammen aus den Diskussionenen mit meinen Freundinnen Y.F. und C.T. Ihnen verdanke ich steten Anstoss und Anregung, die mich in Bewegung halten.)

In der heutigen Sonntagsstelle will ich nachdenken über ein komplexes Verhältnis-Gebäude, das Meister Eckhart aufgebaut hat.

Ganz so sollte der Mensch dastehen, der für die allerhöchste Wahrheit empfänglich werden und darin leben möchte ohne Vor und ohne Nach und ohne Behinderung durch alle Werke und alle jene Bilder, deren er sich je bewusst wurde, ledig und frei göttliche Gabe in diesem Nun empfangend und sie ungehindert in diesem gleichen Lichte mit dankerfülltem Lobe in unseren Herrn Jesus Christus wieder eingebärend.

Meister Eckhart, Predigt 1, Intravit Jesus in templum et coepit eicere vendentes et ementes; Hervorhebung von mir

Ich möchte hier versuchen, diese komplexe Bewegung des Menschen hin zu G_TT in meinen eigenen Worten, in meiner eigenen Sprache zu verstehen.

Werke und Bilder

Meister Eckhart befindet sich mit dem Gedanken, sich von der irdischen, der körperlichen Welt und Ebene/Zustand zu lösen, in guter neuplatonischer Gesellschaft.

Als Mensch der Moderne denke und lese ich viel stärker innerweltlich. Das heisst, G_TTes Botschaft und G_TTes Anwesenheit ist bereits in der Immanenz, in der diesseitigen Welt. Auch ihre Offenbarung meint in meinen Augen, bezieht sich in meiner Sichtweise explizit und handlungsantreibend auf die körperliche Welt, das Diesseits. HASCHEM ist keine entrückte, transzendente Gestalt, sie ist allgegenwärtig und allkenntlich. Eine figurative, eine spiritualisierende Lesart von G_TTes Wort führt leicht in eine Denken und Handeln, das mit dieser Welt, für die wir von Ihr geschaffen wurden, rein gar nichts mehr zu tun hat. Und somit uns befreit von Engagement und Zivilcourage.

Dennoch verstehe ich, was Eckhart in dieser Predigt darlegt, sehr gut. Er verbindet die Werke, die wir im Diesseits tun, mit unserer „Ich-Bindung“. (Eckart nennt dies „eigenschaft“.) Diese Werke, mit denen du vielleicht sogar für die HEILIGE zu wirken glaubst, bin dich zurück an das Geschaffene, an das Diesseitige. Das Gleiche passiert mit den Bildern, die du „empfangen“ hast durch dein Leben im Diesseits: Sie sind sehr leicht zu verabsolutieren, zu verallgemeinern.

(So das Bild von einem männlichen, einem patriarchalen Gott; das ich in diesem Text zum ersten Mal radikal verneine, indem ich vielfältige, biblisch oder koranisch gegründete Gottesnamen gebrauche, die ich in Majuskeln schreibe, genauso wie ich das Leser-Du als sowohl männlich als auch weiblich lese und anspreche.)

Beide Wirklichkeitsformen helfen dir wohl, in der Wirklichkeit zurechtzukommen, darin ein „erfolgreiches“ Leben zu führen. Doch bist du als Mensch nur dazu geschaffen?

Ledig und frei

Die Predigt Eckharts ist eine Fasten-Predigt. In der Fastenzeit versuchen die Gläubigen, ihr Leben von all dem Nötigen, das nur scheinbar nötig ist, von all dem Dringlichen, das nur scheinbar dringlich ist, von alle dem Diesseitigen, das nur zu diesseitig ist, zu befreien, um der WAHRHEIT näher zu kommen.

Dieser Prozess der Loslösung ist ein Schritt in Richtung der Transzendenz. „Ledig“ meint hier „ungebunden“ (vom Diesseitigen); „frei“ ist der Zustand, der in dieser „Ungebundenheit“ angestrebt und/oder erreicht wird.

In diesem Zustand der „Leere“, der „Entleerung„, die nicht nur die Mystikerin, sondern auch die Betende kennt, kannst du dich sowohl als Geschaffener als auch als Mehr-als Geschaffene verstehen.

Im Auge des Mystikers kannst du erfahren und begreifen, dass du in Tat und Wahrheit „gottfähig“ bist: Mehr als den Engeln ist es dir geschenkt – durch die Gnade und die Liebe der G_TTIN -, zu Gott durchzudringen, hinaufzulangen und hinaufzufahren. Mit diesem „Durchdringen“, was nicht „verstehen“ meint, verwirklichst du den anderen Teil deiner geschaffenen Existenz: den spirituellen, den seelischen Part deiner Menschheit.

(Denn als die erste Aufgabe unserer Berufung als und zum Menschen verstehe ich jene, die uns die Propheten aufgezeigt und vorgelebt haben: im Diesseits als Mensch ganz und gar für das Gute einzustehen.)

Eingebären

Die Aufgabe der Ich-Bindung und der (buddhistisch gesprochen) Anhaftung an die Werke und an die irdischen Bilder und Realität führt nun zu einem anderen Zustand: du kehrst in den Mutterbauch der HEILIGEN zurück.

(Diese Bildlichkeit ist spezifisch christlich. Sie nimmt explizit Bezug auf die junge Frau Maria / Miriam / Meriem, die Jesus empfängt und gebiert – egal, ob du jetzt Jesus als SOFIA oder als Propheten verstehst…)

Die Mystikerin erkennt sich in dieser Bewegung der Rückkehr, der Nichts-Werdung nicht nur als göttlich (oder gottebenbildlich), sondern als „eins mit Gott“.

Der Mystiker befreit sich in der Eingeburt von der Last des irdischen Menschseins. Es ist ein Zustand des „Nu(n)“: von intensiver, aber aussergewöhnlich kurzer Dauer.

Die Rückkehr, die vielleicht sogar „Einkehr“ heissen muss, ist eine Möglichkeit, die die GERECHTE für den Menschen will. Es ist an dem Menschen, diese – „ledig und frei“ – zu wollen. Es ist eine der Berufungen, für die du geschaffen bist.

Religionen sind nur Hilfestellungen

In meiner Beschäftigung mit theologischem und mystischen Gedenkengut habe ich immer wieder erfahren, wie überflüssig religiöse Institutionen, wie unerheblich religiöse Vorgaben oder Gesetze sind, wenn du dich eingehender, mystisch mit der Transzendenz, mit der ERBARMERIN beschäftigst.

Dabei ist die menschliche Bewegung in Bezug auf das Übernatürlich zweifach:

  • Verankerung im Diesseits: Deine Aufgabe, deine Berufung ist es, in der immanenten, in der ausweichlich körperlichen Welt Gutes zu tun – im Sinne des GÜTIGEN.
  • Loslösung und Einkehr im Jenseits: Das Jenseits ist ein Zustand, in dem du als Mensch mit G_TT eines Sinnes und eines Willens sein kannst, was deine geschaffene, an das Etwas gebundene Existenz jedoch auf die Dauer gefährdet, ja zerstört, auflöst, weil du als Geschaffener nichts im Nichts, im Ungeschaffenen verloren hast.

Diese beiden Bewegungen finde ich in allen Religionen. Sie sind allgemein-menschlich, universell.

Wenn du Gesetze brauchst, wenn du konkrete Erscheinungsformen des Transzendenten brauchst (wie den Namen „VATER“), dann orientiere dich an den institutionalisierten Religionen.

Doch wisse, dass die „Orte Seiner Herrschaft“ (Ps 103, 27) mannigfach und mannigfaltig sind – und immer über diese irdische, werk- und bildgebundene Gefängniswelt, in der du leben musst, erhaben.