Das mystische Denken ist auf Befreiung ausgerichtet. Auf eine Befreiung aus seelischer Knechtschaft, aus der strukturellen Sünde einerseits. Andererseits strebt mystisches Denken und Handeln eine Befreiung des Menschen aus seiner kreatürlichen Schwäche an, die in Versuchung führt. Krankheit, Unfall, körperliche und geistige Gewalt bedrohen unsere Gottfähigkeit, unsere Gottoffenheit mit dem Zweifel (der Verzweiflung), der uns in die Abkehr und in die Glaubensferne lenkt oder lenken kann. Und in der Glaubensferne sind wir hilfloser noch als zuvor: unfrei bleiben wir gekettet an unseren Körper, an unser materielles Wohlsein, pressen unser Gesicht, unsere Blicke und unsere Weltsicht in den Staub, aus dem wir kommen.
Das Bedürfnis nach einer Vermittlung
Die menschlichen Religionen und Glaubenswelten haben meistens eine Rollenverteilung unter den Menschen vorgenommen; darin spiegeln sie die gesellschaftliche Arbeitsteilung. Selbst in den animistischen, indigenen Religionen gibt es den Heiler, die Heilerin, die Schamanin, den Schamanen. Diese Personen – in unseren westeuropäischen Breitengraden sind das Imame, Rabbiner und Priester / Pfarrer – übernehmen die Vermittlung zwischen Gott und den Menschen, sprechen von Gott zu den Menschen, von den Menschen zu Gott, interpretieren und ordnen Geschehnisse ein, verorten sie vor einem wie auch immer gearteten heilsgeschichtlichen Horizont oder Denkgebäude. Im schlechtesten Fall, der meistens eintritt, monopolisieren sie Glaubensinhalte und -verkündung und erlangen eine Machtstellung, die sie zu Stellvertretern Gottes auf Erden macht. In dieser einmal erlangten Stellung werden sie jegliche Glaubens- und Willensfreiheit der Gläubigen beschränken und einzäunen, und alles daran setzen, den Glaubenden nicht nur den „direkten Draht nach oben“ zu kappen, sondern auch sich selbst als diese fast gottähnlichen Vermittler unentbehrlich zu machen. Was dem Machtmissbrauch Tür und Tor öffnen heisst.
Schaue ich auf den christlichen Glauben, so stosse ich zuerst auf den Paulus. Er hat sich zuerst in eine Vermittlerrolle aufgeschwungen; spannenderweise, ohne Jesus direkt begegnet zu sein. Gleich darauf, wenn ich weiter zurückdenke, stosse ich auf die 12 Apostel, die so häufig einen Schutzring um Jesus zu bilden bemüht waren, damit die Glaubenden ja nicht direkt mit ihm und mit seiner Botschaft in Verbindung kommen konnten; wie oft hat Jesus sie dann zurechtgewiesen („lasst die Kinder zu mir kommen!“)… Und zuletzt, am Ursprung des Problems der vermittelten Gottesnähe, finde ich die Person Jesus: nicht den ursprünglichen Menschen Jesus, den Propheten und vom Geist Gottes erfüllten Heiler und Deuter, sondern diese Blasphemie, den „Sohn Gottes“, Gott in Menschengestalt. Was für eine Last haben die Kirchenväter hiermit den Gläubigen aufgebürdet: dem einzigen sündenfreien Menschen nachfolgen zu müssen, der dazu noch „alle Sünden der Welt“ auf sich genommen hat.
Ermächtigung zum Vergeben / Heilen
Die Mystikerin nun gefährdet in ihrem mystischem Handeln und Denken diese Herrschaftsordnung, diese Gottesvermittlung. Denn das mystische Denken und Handeln umgeht jegliche Vermittlung: es weiss sich fähig, sich selbst den Weg zu Gott zu bahnen; es weiss sich gottfähig. Diese Haltung und diese Handlungsweise befreit: von Herrschaft und Strukturen, von Herkömmlichem und Tradition, von Lehrmeinung und Lehramt, es macht Veränderung und Umkehr erst recht möglich.
In meinen Augen braucht jede glaubende Person so eine Erweckung zur Freiheit, um wirklich glauben zu können; um sich aus dem herkömmlichen, überlieferten Glaubenskäfig emanzipieren zu können. Denn in dieser Emanzipationsbewegung blüht die ganze Selbstermächtigung auf, die Gott uns zutraut und schenkt.
Mystisches Erkennen befreit
Ich werde niemals mein mystisches Erkennen vergessen, das mich aus meiner Glaubensunmündigkeit befreite. Ich war auf den Spuren des Begriffs „Menschensohn“, der häufig als eine Art „Ehrentitel“ von Jesus verstanden wird. Und ich fand in der „Bibel in gerechter Sprache“ eine moderne Auslegung dieses Begriffs, der in Jesus den (angeblich notwendigen) Vermittler zerstörte und mich selbst zum Handeln ermächtigte. Denn die Stelle übersetzt „Menschensohn“ mit „Mensch.
Die Stelle war Mk 2, 10f. und heisst in der BigS:
Damit ihre erfahrt, dass Menschen die Vollmacht haben, auf der Erde unrechte Taten zu vergeben“ – so sprach Jesus zur gelähmten Person -, „so sage ich dir: Steh auf, nimm deine Schlafmatte und geh nach Hause.“
Und selbst heute ist mir jedes Mal, wenn ich diese Stelle lese und neu erkenne, als loderte hellstes drängendstes Licht in meinem glaubenden Geist auf. Es war und ist dies ein Zuspruch, der uns ermutigt, selbst Vergebungsarbeit zu leisten, diese Arbeit im Sinne von Gottes Gerechtigkeit selbst in die Hand zu nehmen – und nicht auf einen Vermittler zu warten, der stellvertretend für uns um Vergebung bittet oder diese an unserer Statt erst ermöglicht.
Vergebensarbeit und Vergebensbitte bringt Heilung
Auch wenn das Vergeben – das zuvorkommende, vorauseilende, urteilsfreie Aussprechen und Ausdrücken von Verletzungen und krankmachenden „unrechten Taten“, das Aus-Sprechen von Fehlern und Schwächen in Verbindung mit einer zuvorkommenden, urteilsfreien Anhörung und einem Aufmerken auf die aussprechende Person – eine lebenslange Herausforderung darstellt, die viel mehr Mut braucht als jeder männliche „Held“ der Geschichte (ausgenommen Jesus und andere Propheten) je aufgebracht hat, so will ich mir ihr stellen. Denn wenn ich schon die Kraft menschlicher Handlung erkannt habe, zu der Gott uns für fähig gehalten und begnadet hat, so will ich nicht davon zurückschrecken – und womöglich erneut das Vergeben delegieren…
Und natürlich ist das keine Einbahnstrasse: ebenso gilt es um Vergebung bitten zu lernen bei jenen, die ich verletzt, im Stich gelassen habe. Das ist sogar die noch grössere Aufgabe.
Im Bitten um Vergebung geht es darum, zuerst der anderen Person aufmerksam und zugewandt entgegenzugehen, ebenso urteilsfrei und ebenso vorauseilend wie im Vergeben, um ihr ganz Gehör zu schenken, sodass sie im Aussprechen und im Ausdrücken sich selbst befreien und reinigen kann von den Verletzungen und krankmachenden „unrechten Taten“, die sie durch mich erlitten hat, und erst dann darf ich selbst mich befreien und reinigen von meinen „unrechten Taten“…
Und in beiden Handlungen brauche ich keinen Vermittler, keine vorgeschriebenen Riten. Ich selbst bin derjenige, der für Heilung, Gesundung und Erlösung oder Rettung eintreten und sorgen kann. Das ist, wie ich es heute sehe, mein Auftrag vor Gott.
Und jetzt fürchte ich mich fast ein wenig vor dieser Ermächtigung zur Vollmacht…
(Image by Avelino Calvar Martinez from Pixabay.)