Hindere nicht auf dem Weg zur Gerechtigkeit!

Johannes sagte zu ihm: »Lehrer, wir sahen, wie einige mit Hilfe deines Namens von Dämonen befreiten, und wir hielten sie davon ab, denn sie gehörten nicht zu unserer Nachfolgegemeinschaft.« Aber Jesus entgegnete: »Hindert sie nicht. Denn die mit Hilfe meines Namens vollmächtig handeln, werden nicht kurz danach Übles gegen mich reden können. Wer nicht gegen uns ist, ist für uns. Die euch einen Becher Wasser zu trinken geben, weil ihr zum Messias gehört, ja, ich sage euch: Denen wird ihr Lohn nicht vorenthalten werden.

Die auch nur ein Kind Gottes, das mir vertraut, vom Weg der Gerechtigkeit abbringen, für die wäre es weit besser, wenn ihnen ein riesengroßer Mühlstein um den Hals gehängt und sie in den See geworfen würden. Wenn dich deine Hand vom Weg der Gerechtigkeit abbringt, schlag sie ab! Es ist besser, dass du verstümmelt ins Leben hineingelangst, als mit zwei Händen von Gott verurteilt zu werden, ein Feuer, das nie verlöscht. Und wenn dich dein Fuß vom Weg der Gerechtigkeit abbringt, schlag ihn ab! Es ist besser, dass du eines Fußes beraubt ins Leben hineingelangst, als mit zwei Füßen von Gott verurteilt zu werden. Wenn dich dein Auge vom Weg der Gerechtigkeit abbringt, reiß es heraus! Es ist besser, dass du einäugig in Gottes Reich hineingelangst, als im Besitz beider Augen von Gott verurteilt zu werden, wo ihr nagender Wurm nicht stirbt und das Feuer nie erlischt.

Mk 9, 38-48; zitiert nach BigS
Das Tal von Ge-Hinnom um 19000
Von der ursprünglich hochladende Benutzer war Briangotts in der Wikipedia auf Englisch – From the 1901-1906 en: Jewish Encyclopedia. Übertragen aus en.wikipedia nach Commons durch Storkk mithilfe des CommonsHelper., Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=4452832

Es sind solche Texte in den Evangelien, die mich wieder neu an Jesus glauben lassen. Sie wecken in mir den Glauben daran, dass Jesus Mensch ist. Ein Mensch, der von Liebe ebenso wie von Zorn redet; Zorn ebenso wie Liebe verteilt. Denn nur zu oft reden gläubige Menschen nur von der Liebe, die Jesus bringt; weitaus seltener sind sie bereit, auch den Zorn, die Ermahnung, die Schelte in Jesu Worten anzuerkennen.

Seit ich mich mit der Bibel näher auseinandersetze, sind mir diese Zornesreden Jesu die liebsten Stellen. Denn sie machen die Dringlichkeit, die Bedeutung seiner „frohen Botschaft“ nur umso deutlicher.

Die Kinder im Blick

Wenn du zurückblickst über das ganze 9. Kapitel des Markus-Evangeliums erkennst du, dass es sich immer wieder mit dem Begriff des Kindes, des Kindseins und des Gotteskindes befasst.

  • Mk 9, 7: „Dieser ist mein geliebter Sohn“ (BigS: mein geliebtes Kind) sagte die Stimme aus der Wolke zu den Freunden Jesu.
  • Mk 9, 14-29: Jesus heilt einen Jungen, der von epileptischen Anfällen heimgesucht wird.
  • Mk 9, 31: „Der Sohn des Menschen (Menschensohn) wird übergeben in die Hände von Menschen, und sie werden töten ihn…“ (zitiert nach dem Münchener Neuen Testament)
  • Mk 9, 37: Der Streit um die Rangfolge unter den Freunden Jesu wird dadurch entschieden, dass Jesus ein Kind in ihre Mitte stellt: dieses Kind ist wie Jesus, wenn es in seinem Namen aufgenommen wird.
  • Mk 9, 42: „Die auch nur ein Kind Gottes, das mir vertraut, vom Weg der Gerechtigkeit abbringen, für die wäre es besser…“

Es geht in diesem Kapitel und im vorangestellten Text – Evangelium des vergangenen Sonntags, 26.09.21 – im Wesentlichen um die Sorge für die schwächsten Glieder der Gesellschaft, für die Kinder.

Die Gutes tun „jenseits der gemeindlichen Grenzen“

Im ersten Abschnitt dieses Auszugs aus dem Markus-Evangelium muss Jesus seine engstirnigen Freunde zurechtweisen. Sie wollen einen Exklusiv-Anspruch auf Gott und auf ihn haben. Für die Freunde Jesu sind sie die Kerngruppe seiner Schule. Will heissen, nur sie können die Macht von Jesu Namen in Anspruch nehmen.

Doch Jesus weist sie deutlich zurecht: Selbst wer nicht ausdrücklich an mich glaubt, aber doch meinen Namen benutzt, tut Gutes „in meinem Namen“. Adolf Pohl hat es in der Wuppertaler Studienbibel sehr schön ausgedrückt:

Aber Jesus korrigiert ihre verengte Sicht der Gottesherrschaft. Gott ist grösser. Er herrscht auch jenseits der gemeindlichen Grenzen. (Pohl, 359)

Damit öffnet Jesus das Feld von Glauben um einiges: du musst, um Gutes zu tun, nicht notwendigerweise Jesus nachfolgen, sein Freund sein. Oder wie Pohl es sagt: „…Fernstehende ermutigt er.“

Ganz im Sinne Gottes: die Not haben, denen will ich helfen. Gott also als Arzt, wie ihn schon Moses gesehen hat: „Ich, der Herr, bin euer Arzt“ (2. Mose 15, 26).

Wer Anstoss gibt

Die darauf folgende Wutrede richtet sich an Verführer: Wer ein Kind Gottes „vom Weg der Gerechtigkeit“ abbringt, wie es die BigS formuliert, soll sich selbst richten.

Die Um- und Übersetzung des Begriffs „Anstoss geben“ ist vielseitig und vielfarbig:

  • Die Zwingli-Bibel meines Grossvaters (1958) redet von „zur Sünde verführt“,
  • eine noch ältere französische Bibel (1912) in meinem Besitz (basierend auf der Übersetzung des Neuenburger Theologen Osterwald, 1663-1747) spricht ebenfalls von „tomber dans le péché“,
  • meine Firmbibel (1982) nennt es „zum Bösen verführt“,
  • in der Wuppertaler Studienbibel-Übersetzung heisst es „zu Fall bringen“ und
  • die Volxbibel übersetzt: „zu Sachen verführt, die Gott nicht gern hat“.

Besonders gelungen scheint mir die Vielfalt in der Übertragung von Jörg Zünd (1965):

  • „Wenn deine Hand etwas tut, das deine Beziehung mit Gott stört…“
  • „wenn dein Fuss dich irgendwohin trägt, wo du Gott nicht zuhören kannst…“
  • „wenn dein Auge etwas sehen möchte, das du nur sehen kannst, wenn du Gottes Willen missachtest“.

In der Lesart von Adolf Pohl besteht hier eine Parallele zur Gerichtshandlung in Israel:

Ebendasselbe Körperglied, mit dem jemand eine Untat vollbracht hatte, wurde ihm zur Strafe abgehauen.

Pohl, 364

Die auch nur ein Kind Gottes, das mir vertraut, vom Weg der Gerechtigkeit abbringen…

Ich glaube, bei der Lektüre dieser Zornrede sind wir zu oft auf uns selbst fokussiert. Wir denken daran, was mit uns geschehen sollte, was wir uns tun sollten, wenn wir etwas in Gottes Augen Verwerfliches oder Falsches tun.

Doch der erste Verdammungs-Spruch ist weitaus wichtiger: Wer jemand anderes „vom Weg abbringt“, der sollte ertränkt werden. Hier wird jeder Gläubige in die Pflicht genommen: Du bist verantwortlich für deinen Nächsten!

Wie hat Kain so schön rhetorisch gefragt: „Soll ich ständig auf meinen Bruder aufpassen?“ („Bin ich denn meines Bruders Hüter?“ sagt es die Zwingli-Bibel).

Gott beantwortet die Frage nicht, weil es ja klar ist. Kain hat gegen seinen Willen gehandelt. Er hat seinen Nächsten nicht mit „Kraft“ beigestanden, nicht für sein Wohl gesorgt.

Fazit: die Fernen schützen, die Kinder und die Glaubenden

Zuletzt ist die Botschaft Jesu eine einfache, unmittelbare. Er will uns immer wieder sagen: Beschütze die Gottfernen, hilf ihnen, denn sie haben ich nötiger als du. Und vergiss nicht, was deine Taten und Worte bei deinen Nächsten auslösen, auf dass du sie „nicht in die Irre führst“. Beides Dinge, die auch die Freunde Jesu immer wieder lernen mussten – und müssen.

Nebengedanke: Gehenna, Hölle

Bei der Gehenna handelt es sich nicht nur um einen übertragenen Ort, den du Hölle nennen könntest. Es handelt sich auch um ein konkretes Tal, das Hinnom-Tal (Tal des Sohnes von Hinnom). Es war eine Grabstätte unweit Jerusalems. In alttestamentlicher Zeit war es auch in schlechtem Ruch, weil dort dem Gott Moloch geopfert wurde / worden sein soll. Spannend ist dabei der Hinweis von Pohl:

Später diente die verrufene Schlucht als Müllhalde. Das Stadttor dorthin trug den Namen „Misttor“. Die ständig schwelende Brandstätte galt als der abscheulichste Ort der Welt. Seit dem 2. Jh. v.Chr. diente der Name zur Bezeichnung der endzeitlichen Verderbensstätte.

Pohl, 361

Inwiefern eine Auferstehung aus diesem sowohl konkreten als auch übertragenen Höllenort möglich sein würde, könnte Anlass für eine spannende Diskussion und Nachforschung geben.

Wer sich impft, übernimmt gesellschaftliche Verantwortung

Eine Betrachtung unter dem Gesichtspunkt der Menschenrechte

Mit herzlichem Dank an TheDigitalArtist für das Bild

(Ich bedanke mich herzlich bei J. M. für das erste Gespräch und besonders bei M. Leemann für die klärende, vertiefende Diskussion, aus der einige Gedanken in das Fazit dieses Beitrags eingeflossen sind. Ich bedanke mich auch bei meiner Tochter, die mein Interesse an den Menschenrechten und den damit verbundenen philosophischen Fragen wieder geweckt hat.)

Ich habe schon viele Diskussionen mit verschiedensten Menschen meines näheren und ferneren Umfelds geführt über die herrschende Impf-Skepsis, Impf-Unwilligkeit, Impf-Angst. Eine Lehrerkollegin hat mich gebeten, einen Gedankengang, der mir im Gespräch mit ihr gekommen war, schriftlich festzuhalten. Das will ich hier versuchen.

Es handelt sich dabei keineswegs um einen neuen oder aussergewöhnlichen Gedanken, aber hin und wieder lohnt es sich, für sich und andere festzuhalten, was gedacht worden ist: Das hilft in der Festigung des Reifungsprozesses als Mensch.

Und natürlich kann ich nicht auf die Argumentation der Impfgegner und Corona-Skeptiker eingehen, obwohl ich mir das von unseren Philosophen dringend wünschte: Sie befinden sich längst jenseits der Fakten, die die Wissenschaft wieder und wieder bestätigt und verifiziert hat. (Das betrifft insbesondere die Vorwände und Ängste der Impfgegner, was Nebenwirkungen betrifft.) Ich setze also die Fakten voraus.

Ist mein Recht wichtiger als das Recht des andern?

Die Corona-Skeptiker sind lauter als diejenigen, welche die Gefahr erkannt haben und gegen sie handeln. Die Corona-Skeptiker haben sogar versucht, beim Bundeshaus Krawall zu machen und den Sicherheitszaun niederzureissen. Die Schweiz ist so ein neutrales Land, dass daraus kein öffentlicher Aufschrei entstanden ist, obwohl der Fakt dieser versuchten Handlung durchaus aufrütteln hätte müssen. Ebenso wie jener, dass der Finanzminister des Landes sich mit einer der ärgsten rechtslastigen Gruppen des Landes gemein macht, die den Begriff der Freiheit derart gepachtet hat, dass sie ihn nicht mehr auf andere anwendet.

Was bedeutet es, wenn jemand die Freiheit „gepachtet“ hat, wie ich das genannt habe? Denn es ist dies ein Phänomen, das weltweit zu beobachten ist und zutiefst beunruhigen sollte.

Deine Freiheit – sich impfen oder nicht impfen zu lassen – wirkt sich unmittelbar auf die Freiheit eines anderen, einer anderen aus. Dadurch, dass du dich nicht impfst, gefährdest du die Gesundheit eines anderen Menschen. (Wenn du keine Maske trägst, gefährdest du die Gesundheit eines andern Menschen.)

Du verletzt oder gefährdest damit sein Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person (Artikel 3 der Menschenrechte).

Damit stellt sich die Frage: Ist mein Recht (auf Meinungsäusserung und Freiheitssphäre) mehr Wert als das Recht des andern?

Diese Frage trifft unsere Gesellschaft ins Mark. Denn von früh auf sind wir uns gewohnt, das eigene Wollen und Wünschen für aussergewöhnlich und wichtig zu halten. Wir berufen uns dabei u.a. auch auf den Artikel 12 der Menschenrechte, auf das Recht auf den Schutz und die Bewahrung der Freiheitssphäre jedes einzelnen.

Doch plötzlich werden wir vor eine Frage gestellt, in der unser Wollen und Wünschen andere gefährdet oder gefährden kann. In der das Recht auf freie Meinungsäusserung, das vermutlich auch das freie Handeln mit meint und einschliesst, das Recht auf Sicherheit der Person gefährdet. Mehr noch, in der dieses Recht das Recht auf eine Freiheitssphäre des einzelnen (Artikel 12 der Menschenrechte) beschneidet oder zumindest in Frage stellt.

Das Recht auf eine Freiheitssphäre endet dort, wo es das Recht eines andern Menschen verletzt oder gefährdet

Ohne ein Jurist zu sein, ist mir klar, dass alle Menschenrechte in der Balance gehalten werden müssen. Keines darf das andere beschneiden oder gefährden. Keines darf stärker als das andere gewertet werden. Und alle werden vom allerersten Recht regiert: Dem Recht auf Gleichheit, Freiheit und Würde (Artikel 1 der Menschenrechte).

Das gilt letztlich auch für das Leben eines Menschen, wenn ich es auf einer universellen Ebene betrachte. Ein Beispiel: Wenn jeder Mensch ein Recht auf ein würdevolles Leben hat, dann darf ich selbst niemals einem andern Menschen dieses Recht absprechen oder verweigern. Wenn ich diesen Grundsatz konsequent durchdenke, muss ich sagen: ich muss so gut ich kann vorurteilsfrei, gewaltfrei und gerecht handeln gegen meinen Mitmenschen.

Vor diesem Hintergrund will ich die Frage nochmals stellen: Habe ich das Recht, mit meinem Verhalten die Sicherheit und Gesundheit des andern zu verletzen oder gefährden?

Ich kann im Rahmen meiner eigenen Freiheit und Würde sicherlich entscheiden, mich nicht impfen zu lassen. Das würde auch übereinstimmen mit dem Recht auf Freiheitssphäre, die der Staat nicht beschneiden darf. (Deshalb scheut sich der Bundesrat und andere Regierungen auch, ein Impfobligatorium einzuführen.) Wenn ich mich jedoch im öffentlichen Raum (Strasse, Bahnhof, etc.) oder im halböffentlichen Raum (Restaurant, Bar, Bibliothek, Kino, etc.) bewege, setze ich dadurch, dass ich mich nicht impfen habe lassen – selbst wenn ich mich regelmässig testen lasse und alle hygienischen Verhaltensregeln einhalte – die andern Menschen der Gefahr der Ansteckung oder Übertragung aus. Dies selbst dann, wenn diese geimpft sind. Denn neue Studien haben gezeigt, dass Geimpfte u.U. den Virus weitergeben können. In einem solchen Fall könnte man von einer Kettenreaktion sprechen.

Ist das Leben anderer nicht schützenswert?

Ein weiterer Punkt, der mich an der ganzen Diskussion und Aufregung fasziniert, ist die Frage, weshalb Menschen die Freiheitssphäre so stark gewichten, dass sie dabei ihr eigenes Leben nicht schützen wollen, indem sie sich einer Ansteckung aussetzen oder diese in Kauf nehmen. Denn damit gefährden sie ein anderes Recht: Das Recht auf Gesundheit  – ein untergeordnetes Recht des Artikels 25.1 (Recht auf Wohlfahrt) – bedeutet letztlich, dass alle ein „Recht für alle auf ein erreichbares Höchstmass an körperlicher und geistiger Gesundheit“ haben und beinhaltet insbesondere „die Verfügbarkeit von quantitativ ausreichenden und qualitativ genügenden öffentlichen Gesundheitseinrichtungen sowie den diskriminierungsfreien Zugang zu den vorhandenen Gesundheitseinrichtungen“.

Das ist wichtig, denn die Behörden und Gesundheitsinstitutionen machen uns seit Anfang der Pandemie darauf aufmerksam, dass das Gesundheitssystem zunehmend an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit gerät (Betten und Operationen). Will heissen, wer sich für seine Freiheit (Gewährleistung der Freiheitssphäre) anzustecken bereit ist, gefährdet gleichzeitig die Gewährleistung des Rechts auf Gesundheit. Was würdest du sagen, wenn dein von dir belegter Corona-Spitalplatz eine wichtige Operation verunmöglicht, mit der ein Bein, ein Daumen, ein Herz oder eine Niere gerettet werden könnten? Hat dieser andere Mensch denn kein Recht auf Gesundheit?

Gesellschaftliche Verantwortung

Ich komme zurück auf die im ersten Teil dieser Betrachtung festgehaltenen Maxime: Dein Recht darf das Recht eines andern Menschen nicht verletzen. Rosa Luxemburg zitierend könnte ich sagen: Dein Recht ist immer auch das Recht des andersdenkenden. Oder wie es die Philosophin Bini Adamczak in einem Beitrag von Deutschlandfunk Kultur gesagt hat:

(…) die Entwicklung eines Gemeinwesens, das nicht herrschaftlich organisiert ist, muss immer mit allen gemeinsam geschehen – und das heißt eben auch, mit denen, die eine andere Meinung haben.

Bini Adamczak, Zitat aus erwähnter Sendung

Denn letztlich dienen alle diese Menschenrechte nur einem: der Vermeidung von „Akten der Barbarei“, von der die Erklärung der Menschenrechte in der Präambel spricht. Akte der Barbarei aber haben immer eine gesellschaftliche Tragweite.

Rechte haben ihre Grenzen dort, wo sie die offene, freiheitliche Gestaltung und Entfaltung einer Gesellschaft verhindern. Das gilt auch für das Recht auf Freiheitssphäre und alle anderen Prinzipien der Menschenrechte.

Wer dieses Recht nur für sich in Anspruch nimmt, tritt damit das Recht seines Mitmenschen.

Will heissen, die von Adamczak erwähnte „andere Meinung“ kann und wird oft auch die Mehrheitsmeinung sein, die du zu respektieren hast. (Das sollte jeder Schweizer*in klar sein, denn wer wählt, kann unterliegen – und muss dann das Resultat der Abstimmung akzeptieren, weil es in Gesetz gegossen werden wird.)

Gesellschaftliche Verantwortung übernehmen heisst also, seine Rechte derart und in Freiheit auszuüben, dass dadurch keinerlei Rechte von andern Menschen gefährdet oder beschädigt werden.

Indem mich impfen lasse, tue ich genau das: ich ermögliche das freie Funktionieren der Gesellschaft ohne Restriktionen.

Fazit: Gesellschaftsvertrag in Gefahr

Der Gesellschaftsvertrag wird in unserer Gesellschaft vorausgesetzt: dass alle sich an die Regeln, Gesetze (Rechte) und Pflichten dieser Gesellschaft halten. Denn Rechte gehen einher mit Pflichten. Wenn du auf freier Meinungsäusserung bestehst, so darf deine Meinungsäusserung nicht dazu führen, dass die anderer beschnitten oder ihnen die argumentative, eigenständige Findung einer Meinung abgesprochen wird.

Anders gesagt: kein Rechtssystem besteht nur aus Ansprüchen. Das Gegenstück zu den Ansprüchen, die über Rechte einzufordern sind, sind die dadurch bewirkten, damit verbundenen Pflichten.

Im Gegensatz zum Fall der eingeschränkten Freiheitsrechte im Rahmen des „Kriegs gegen den Terrorismus“ sind wir jetzt in einer Situation – der Pandemie -, wo alle unmittelbar und nicht mittelbar bedroht sind: es kann jede und jeden von uns treffen. Das Virus ist in der Mitte der Gesellschaft; das war der Terrorismus nur in den Augen einiger konservativer Hitzköpfe.

Wir erleben eine Gesellschaft, in der Interessengruppen oder Echokammern sich den Meinungen anderer verschliessen. In der diese Meinungsgruppen (so z.B. die bereits erwähnten „Freiheitstrychler“) ihre Rechte absolut zu setzen begonnen haben. Doch kein Recht kann oder darf absolut gesetzt werden: alle menschlichen Handlungen betreffen andere Menschen.

Ich wiederhole mich, aber dieser Punkt scheint mir sehr wichtig: dem Recht auf Freiheit sind dort Grenzen gesetzt, wo es das Recht auf Freiheit (auf eine offene, funktionierende Gesellschaft und Wirtschaft) einschränkt.

In der postrationalen Gesellschaft droht das gesamtheitliche Vertragswerk eines Gesellschaftsvertrags ausser Kontrolle zu geraten. Die oben erwähnten Echokammern behaupten eine Ausschliesslichkeit ihrer Meinung und Haltung, die zudem jeglicher rationaler Argumentation verschlossen ist.

Damit gefährden sie das Wohl unserer gesamten Gesellschaft, weil einige wenige (immer zahlreicher werdende) Gesellschaftsmitglieder ihr eigenes Wohl oder Dafürhalten absolut setzen.

Im Zweifel für die Lehrperson

Ich erinnere mich an meine eigene Schulzeit. Wenn auch meine Eltern nicht mit allen Entscheiden und Beurteilungen der Lehrerinnen einverstanden waren, so brachten sie diesen immer einen grossen Respekt entgegen, ähnlich jenem gegenüber den Ärzten. Es war ihnen klar, dass es sich hier um Fachpersonen handelte, die ihr Metier erlernt hatten und für ihre Arbeit einen hohen Spezialisierungsgrad erworben hatten, über Kenntnisse in der Pädagogik verfügten, die sie (meine Eltern) selbst niemals erwerben würden oder erwerben würden müssen.

Ich möchte im Folgenden einige jüngste Eindrücke schildern, die mir in meinen Augen aufzeigen, dass dieses Vertrauen in die pädagogische Kompetenz der Lehrpersonen nicht nur bröckelt, sondern vielleicht sogar dauerhaft in Frage gestellt wird. Und vielleicht sogar die Zukunft unserer Gesellschaft in Frage stellt.

Aufstand der Eltern

Gestern wurde ein alter Eltern-Chat wieder aktiv, dem ich zu Zeiten des Corona-Lockdowns im letzten Jahr beigetreten war. Die Klasse meines Sohnes hatte sich am Sporttag unsportlich und ungerecht verhalten; so sehr, dass die 4 Lehrpersonen, deren Klassen von dieser Ungerechtigkeit und Unsportlichkeit betroffen waren, zu einer Sanktion entschlossen hatten. Im Chat der besorgten Eltern wurde diskutiert, ob und wie man die Schulleitung zur Lösung dieses Konflikts einbinden sollte; dies jedoch, ohne die Klassenlehrerin vorgängig zu informieren oder anzufragen.

Ich kenne aus den Erzählungen meines Sohnes die Klassendynamik und habe mich schon oft gewundert, wie selbst scheinbar „anständige“ oder scheinbar „wohlerzogene“ Kinder sich egoistisch und hinterlistig verhalten. Und wie darauf deren Eltern sich drastisch und konsequent für sie einsetzen. Dabei handelt es sich meistens um Familien aus dem mittleren und gehobenen Mittelstand, sogar um Akademiker.

In meinen Augen handelt es sich heute bei vielen Kindern „aus gutem Hause“ um zukünftige Unmenschen: anspruchsberechtigt, verwöhnt und auf sich fokussiert, egoistische und verletzliche Geschöpfe voller falscher Vorstellungen von Arbeit und Leben. Nicht umsonst stellen Ärzte seit einiger Zeit fest, dass die jungen Erwachsenen zunehmend an Angstzuständen und anderen einschränkenden seelischen Vorfällen leiden – die ich natürlich keinesfalls lächerlich machen oder verniedlichen möchte. Dennoch sind sie ein Anzeichen davon, wie „entitled“ – anspruchsberechtigt diese Kinder aufgewachsen sind.

Nach einem Telefonat mit der Klassenlehrerin wurde mir noch deutlicher, wie allein gelassen sich diese fühlen musste angesichts des Aufstands der Eltern gegen sie. Statt Unterstützung wird ihr Feindseligkeit geschenkt, ein Wind des Misstrauens und Anzweifelns weht ihr entgegen. Ich sicherte der Lehrerin in diesem Telefongespräch meine vollste Unterstützung zu.

„Das Kind ist das schwächste Glied im System“?

Etwas Ähnliches passierte mir schon am Mittwoch, als ich in der Cafeteria der Musikakademie das Gespräch zweier Väter mithören musste (sie sassen an meinem Tisch). Darin beklagte sich der eine darüber, dass die Klassenlehrerin die eigene Tochter zu wenig würdige. Anscheinend sei sie zu verträumt, zu zerstreut. Er verstehe nicht, weshalb die Klassenlehrerin deshalb das Kind immer wieder kritisiere und von ihr mehr verlange. (Natürlich ist das Mädchen in seinen Augen unglaublich intelligent und vielleicht sogar „frühbegabt“.) Ich musste mich sehr zurücknehmen, um nicht ins Gespräch hineinzuplatzen.

Ich habe im Rahmen des Corona-Lockdowns viel über meine eigenen Kinder erfahren. Ich habe gesehen, wie sie sich mit Arbeitsaufgaben herumschlagen, wie motiviert oder unmotiviert sie die verschiedenen Fächer angehen. Ich habe Verhaltensmuster erkennen können, die ich aus der eigenen Lehrerfahrung kenne. In diesen zwei Monaten (?) habe ich meine Kinder als Schüler zuhause erlebt und konnte als „vorübergehende Lehrperson“ beurteilen, was die Lehrerpersonen täglich von ihnen wahrnehmen. Das hat mein Verständnis und meine Achtung vor den Lehrpersonen noch erhöht.

Ein Vater im oben erwähnten Chat behauptete, das „Kind ist das schwächste Glied im System“. Dem möchte ich vehement widersprechen: da die Eltern heute so stark in die schulische Erziehungspolitik einwirken, sich für ihre Kinder einsetzen und sie wider besseren Wissens (wie mir scheint, weil sie die Schwächen ihrer Kinder nicht erkennen wollen) „verteidigen“, erlebe ich die Kinder durchaus als „in diesem System ermächtigt“. Das ist sicher nichts Schlechtes. Doch sähe ich viel lieber, dass hinter der Ermächtigung des Kindes nicht die Vorurteile und Vorstellungen der Eltern stünden, sondern das eigene Selbstbild des Kindes.

Vielleicht ist es ja gerade das, was mir am meisten auffällt: Dass Kinder heutzutage ausgesprochen schlechte Selbstbilder haben, sich selbst kaum mehr etwas zutrauen, weil sie so sehr darunter leiden, das Fremdbild ihrer Eltern zu tragen bzw. diesem Fremdbild gerecht zu werden. Es ist das alte Verhaltensmuster, dass Eltern aus ihren Kindern „bessere Ichs“ machen möchten. Was für eine Illusion war das doch schon immer: die eigenen Fehler dem eigenen Kind ersparen zu wollen, das eigene Kind vor den eigenen Verfehlungen zu beschützen.

Ich habe manchmal das Gefühl, dass der alte Vertrag zwischen staatlichen Schulen und Eltern nicht mehr funktioniert. Dieser besagte, dass die Eltern für die Schulzeit ihre Erziehungsverantwortung an staatlich angestellte und ausgebildete Fachpersonen delegieren, denen es obliegt, ihre Kinder zu mündigen Staatsbürgern auszubilden. Dabei ist der wichtigste Teil dieses Vertrags jener, der besagt, dass die Fachpersonen ihr Metier verstehen und ihnen das Kind ohne Vorurteil und Schutz anzuvertrauen sei.

Und wenn die Kinder erleben, dass ihre Eltern sich gegen die Lehrperson einsetzen, werden sie keine Lehr-Bindung an diese knüpfen können. Und dementsprechend nur mit Mühe lernen.

Die Lehrpersonen im Kreuzfeuer – in einem inklusiven System

Auf den zahlreichen „Förderkonferenzen“, die ich regelmässig mitverfolge und an denen ich mich als Religionslehrperson beteiligen darf, wird mir regelmässig folgendes klar.

Erstens stehen die Klassenlehrpersonen unter einem enormen Druck, allen ihren Schüler*innen jederzeit gerecht zu werden. Sie versuchen mit aller Kraft, positiv und ermutigend auf die Schüler*innen einzuwirken, ihnen erhebende und weiterführende Lernerlebnisse zu ermöglichen.

Gleichzeitig führt zweitens die Bewegung zur inklusiven Schule zu einer weiteren Überlastung der Lehrpersonen: denn sie müssen sich regelmässig Gedanken machen über die Förderung und Unterstützung von Kindern, die „zu früh“ eingeschult worden sind (weil ihre Eltern ihr Kind entgegen den Empfehlungen der Kindergartenlehrpersonen dennoch einschulen wollten), ein schlechtes Selbstwertgefühl haben oder eine andere wie auch immer geartete Lernschwäche mitbringen. (In meiner Schule handelt es sich auch um Kinder aus Migrationsfamilien, die sowieso einen schweren „Rucksack“ mitzutragen haben; häufig werden sie zuhause auch nicht im gleichen Ausmass unterstützt wie in „einheimischen“ Familien, weil die Eltern die Kompetenzen selbst nicht mitbringen, sprachlich oder zeitlich.) Eine Überlastung übrigens, die vom Staat (Kanton) selbst verantwortet wird, weil a) zu wenig Mittel zu zusätzlicher inklusiver Förderung (Heilpädagogik, Logopädie, etc.) gesprochen wird und b) zu wenig Fachkräfte ausgebildet werden.

Und drittens stellen viele Lehrpersonen (auch ich) zunehmend fest, dass Schüler*innen aus diesem Bewusstsein der „Ermächtigung“, das ich oben geschildert habe, jeglichen Respekt und jegliche Achtung vor andern Menschen und auch den Lehrpersonen vermissen lassen. Und zwar bereits in der ersten Klasse. Kurz: die Eltern sind Teil des Problems, weil sie sich scheinbar „schützend“ vor ihr Kind stellen, ihm damit aber vieles verbauen und verhindern, dass es lernt, was zu lernen die Schule an es heranträgt. Häufig erlebe ich sogar, dass die Lehrpersonen Partei für das Kindeswohl ergreifen gegen die Eltern, um das Kind zu fördern oder schützen.

Kuschelpädagogik? Fehlanzeige

Vor dem Hintergrund dieser 3 Phänomene erlebe ich viele Lehrpersonen, die schlaflose Nächte verbringen, die am Rande ihrer Kraft sind. Sie stehen im Zentrum eines gesellschaftlichen Wandels und einer gesellschaftlichen Tendenz, der sie nur reaktiv begegnen können.

Gewiss, es gibt jene Lehrpersonen, die möchten, „dass ihre Schüler*innen sie lieben“ – und eine Art Kuschelpädagogik betreiben, in meinen Augen quasi die fast schon partnerschaftliche Beziehung der Eltern zu ihren Kindern in die Schule hinein verlängern. Das kann sogar je nach Quartier funktionieren.

Doch erlebe ich viel in der grossen Mehrheit Lehrpersonen, die ihren Lehrauftrag gewissenhaft und konsequent  erfüllen. Die also

  • die Gesellschaftsfähigkeit – also die Fähigkeit, in einer Gesellschaft mündig und respektvoll und achtsam zu handeln – und
  • die Arbeitsbereitschaft der Kinder – also die Bereitschaft, sich für die Erfüllung einer erteilten oder gestellten Aufgabe einzusetzen, selbst wenn diese „langweilig“ oder „blöd“ scheint oder ist -,

In den Vordergrund stellen und betonen. Lehrpersonen also, die unsere Kinder zu mündigen Staatsbürgern erziehen wollen.

Dass dies keine leichte Aufgabe ist in einer Gesellschaft, die neben dieser Anspruchsberechtigungshaltung auch zunehmend eine Diskussions- und Argumentationsfähigkeit vermissen lässt, sollte nach diesen Ausführungen deutlich geworden sein. Denn es ist – neben allem Positiven, das ich in der Schule beobachte – ein berechtigter Anlass zur Sorge für die Zukunft unserer Gesellschaft.