Diesen Blogeintrag will ich schon lange, schon sehr lange schreiben. Doch habe ich bisher keinen einfachen, positiven „Dreh heraus“ gefunden; bisher hätte ich einfach das „Auslöschen“ behandelt, aber nicht auch das Anfachen. Das will ich nun versuchen.
Zuerst aber zwei Beobachtungen.
Das Kind auf dem Schulweg
Jeden Morgen, wenn mein Sohn und ich an der Bushaltestelle stehen (gegen 07.30 Uhr), sehen wir diesen Jungen auf dem Schulweg. Als wir ihn zum ersten Mal gesehen haben, das war vor 2 Jahren, war er ein Erstklässler. Jetzt ist er sicher in der 3. Klasse.
Von Anfang ist uns aufgefallen, dass er sich „komisch“ benahm („komisch“ hier positiv gemeint). Er redete laut mit sich selbst – oder seinem imaginären Freund. Er stieg auf die Steinmauern an den Gärten, balancierte darauf an stacheligen Büschen vorbei, manchmal auch singend. Seine wuscheligen Haare flatterten im Wind.
Ganz offensichtlich war er nicht auf dem direkten Weg in die Schule. Um 07.30 Uhr bist du schon ein wenig früh unterwegs, ausser du willst dich noch mit deinen Freunden auf dem Pausenplatz unterhalten und Pokémons oder Panini-Bilder vergleichen und tauschen. Doch der Junge würde gerade so rechtzeitig kommen, weil er eine riesige Schlaufe von etwa anderthalb Kilometern machte, um zur Schule zu kommen. Vor allem in seinem „Tempo“.
Nicht nur, dass mich der Junge an mich als Schulkind erinnerte – auch ich redete, wenn ich nicht in Begleitung war, mit meinen imaginären Freunden und spann lange, komplizierte Geschichten aus -: selbst wenn sein bewusst länger gewählter Schulweg vielleicht damit zu tun hatte, dass die Mutter oder der Vater ihn früher hinausschickten, weil sie auf Arbeit mussten, selbst dann war mir die Bedeutung seines Verhaltens wichtig.
Denn dieser Junge hatte die Möglichkeit, in seiner eigenen kindlichen Welt zu leben. Er hatte gelernt, die Welt in seiner eigenen Geschwindigkeit anzugehen. Noch gehorchte ihm Zeit und Weg, noch war er nicht in die Hektik und Scheinkomplexität der Erwachsenenwelt eingebunden (oder nur teilweise). Der Wert dieser Möglichkeit, dieser Gelegenheit ist in der heutigen leistungsdirektiven Umwelt nicht zu unterschätzen.
Einen solchen Schulweg, eine solche introvertierte, fantasievolle Innenwelt wünsche ich allen meinen Schüler*innen. Von ganzem Herzen.
Das Kind in den Pfützen
Auf dem Heimweg von der Schule habe ich gestern einen etwa 11- oder 12-jährigen Jungen gesehen, der seiner Mutter auf dem Trottinett weit voraus rollte. Dabei vermied er gekonnt keine einzige der vielen Pfützen. Als ihn seine Mutter zurückrief (und in ihrer Stimme klang sehr viel Ermahnung mit), schoss er auf dem gleichen Weg zurück. Bei besonders tiefen „Gunten“ sprang er manchmal auf. Aber er war eh schon ganz und gar durchnässt bis über die Knie.
Das hat mich daran erinnert, wie ich als Hausmann mit meinem Sohn auf ein Schulfest meiner Tochter gegangen bin. Meine Tochter war in der 2. Klasse. Das Schulfest fand trotz schlimmen Regenwetters dennoch stand, im Schutz eines Eingangsdachs. Es war ein Grillfest, doch es regnete in Strömen: überall hatten sich tiefe Pfützen gebildet.
Im Wissen um die Wetterlage hatte ich meinen Sohn in eine Art „Kriegsanzug“ gesteckt: von den Gummistiefeln bis zu den Regenhosen war er „wasserdicht“ angezogen. Denn ich wusste, wie sehr Kinder es lieben, in den Pfützen zu planschen. Und als Vater und Mensch hatte ich mir als Kind schon geschworen, meinen Kindern keine Auflagen diesbezüglich zu machen; und sollten sie sich deswegen erkälten – es gibt Schlimmeres als Erkältungen, zum Beispiel verhindertes Kindsein.
Wir lebten damals bewusst in einem „reichen“ Quartier, wo die meisten Einwohner „Schweizer“ waren und vermutlich auch sind. Damals schien es uns wichtig zu sein, dass unsere Kinder in eine „Swiss only“-Schule gingen. Das war eine Haltung, die ich heute längst nicht mehr habe: die besten Schulen (mit den besten Lehrpersonen) sind jene, in der eine kulturelle Durchmischung stattfindet; die also unsere Gesellschaft wiederspiegeln.
Ich liess also meinen kleinen Frosch auf die Pfützen los, beteiligte mich zurückhaltend am langweiligen und bornierten Smalltalk der biederen Eltern. Hin und wieder lief ich in den Regen raus, um meinen Sohn aus einer (in meinen Augen, gewiss nicht in seinen) allzu tiefen Pfütze hinauszuheben und ihn wieder auf die Beine zu stellen. Ich hatte wie er einen Heidenspass an dem Wetter. Ich habe Regen immer geliebt, sein Geräusch, die Kälte und die Erfrischung, die er in unseren Breitengraden mit sich bringt.
Doch ich merkte auch, wie die Blicke der andern Eltern uns folgten, mich abschätzten. Ich verhielt mich ganz offensichtlich nicht konform mit ihren Vorstellungen von einem Vater. Ich hinderte mein Kind nicht, wie sie, am Herumstampfen und Pfützen-Ausschlürfen (denn einige Male tat mein Sohn genau das, und er hatte nachher keine Darmgrippe). Ich hatte ihn warm genug angezogen, und als ich fand, er werde langsam kalt, nahm ich ihn zu mir und steckte ihn in den Buggy, hüllte ihn gut ein und begann, mich zu verabschieden.
Ich habe meinen Sohn (noch) nicht gefragt, ob er sich noch an dieses Fest erinnert; auch meine Tochter nicht. Werde es aber gewiss tun. Für mich ist auch dies ein Beispiel – und ich sage das ohne Hochmut oder Überheblichkeit, ich habe als Vater schon zu viele Fehler und Unterlassungen begangen, um einen Stolz auf mich zu empfinden oder mich gar andern Eltern überlegen zu fühlen -, ein Beispiel dafür, wie ich mir Kindheit und Kindsein denke und wünsche: befreit von sozialen Normen wie Anstand, Konventionen und dem ständigen Blick auf die anderen („was mögen die nur denken?!“, wie meine Mutter immer gesagt hat), in Freiheit, aber behütet, mit elterlichem Vertrauen in die (finale) Richtigkeit ihrer Instinkte und Entscheidungen, aber auch mit dem Vertrauen, dass sie sich zutrauen, wofür sie sich kompetent halten.
Kompetent sein / werden
Mit dieser ausschweifenden Vorrede habe ich zwei Themen angerissen: das Thema der individuellen kindlichen Kompetenzen und Erfahrungen und das Thema des Kompetenzerwerbs.
Grundsätzlich liesse sich mein Auftrag als Religionslehrperson wie folgt umschreiben:
- Fördern und fordern von Kompetenzen in Bezug auf religiöses und philosophisches Erleben (Deuten und Erkennen).
- Aktivieren und anwenden von intrinsischen und/oder erworbenen kindlichen / jugendlichen Kompetenzen in Bezug auf religiöses und philosophisches Erleben (Deuten und Erkennen).
Meistens konstruiere ich meine Unterrichtsstunden darauf hin, dass ich den 2. Punkt vordringlich behandle. Was die Kinder schon können, ist im Anfang (und meist auch im Schluss, siehe unten) wichtiger als das, was sie noch erwerben „sollten“. Dennoch dringe ich immer darauf, dass auch der 1. Punkt in die Stunde hinein wirken sollte.
Wenn ich also das bereits „Gekonnte“ mehr gewichte als das zu „Erwerbende“ oder „Erlernende“, kann es prinzipiell zwei „Ausgänge“ meiner Stunden geben: ein Scheitern und ein Gelingen.
Das Scheitern hiesse, die Schüler*innen bleiben auf ihrem bereits „Gekonnten“ sitzen und konnten es einfach aktivieren.
Das Gelingen hiesse, die Schüler*innen erwerben sich zusätzliche Kompetenzen, „können“ also mehr; sie können das „Erworbene“ erstmals anwenden.
Dabei ist immer auch zu beachten: Als Lehrperson messe ich meinen Erfolg vor allem am Erreichen des ersten Punkts: Dass die Schüler*innen am Schluss der Stunde reicher und „weiter“ sind als am Anfang.
Und natürlich sind meine „Vorlagen“ für ein „Erwerben von Kompetenzen“ regelrechte Steilvorlagen: überfordern die Schüler*innen sowohl sprachlich als auch kognitiv und affektiv. Damit muss ich – und müssen die Schüler*innen leben können.
Auslöschung
So gibt es Stunden, in denen ich heulen könnte. Nichts gelingt. Weder die Schüler*innen noch ich bewegen sich.
Es ist ein unglaublich hartes Gefühl, wenn du merkst: da bin ich auf dem Holzweg, irgendetwas habe ich in der Vorbereitung nicht bedacht, nicht „einberechnet“.
Und mit jedem Schritt in der Stunde verschärft sich dieses Gefühl der Ohnmacht, denn du merkst auch, wie verzweifelt und ratlos die Schüler*innen werden.
Du sprichst sie immer wieder an, ermutigst sie, traust ihnen zu, dass sie erkennen, „worum es geht“, aktivieren, was sie bereits können, um zu dem zu gelangen, was du ihnen zum „Erwerb“ anbietest und vorschlägst.
So kann das versuchte Schreiben eines Elfchens in der 3. Klasse („Thema“: der brennende Dornbusch) zu einer Katastrophe werden. Das Erwerben der an und für sich einfachen Form des Gedichts „Elfchen“ ist das Hindernis, das vor dem Erwerb der religiösen Kompetenz „übernatürliches, geistiges Geschehen in der Welt ausdrücken“ steht und ihn verhindert.
Verhärte ich mich in so einem Moment, also beharre ich zum Beispiel auf der Klarheit und Deutlichkeit meiner Arbeitsanweisungen, erweise ich mir und den Schüler*innen meist einen Bärendienst.
Anders gesagt: sollen die Schüler*innen ein Gedicht namens „Elfchen“ zu einem Bild vom brennenden Dornbusch schreiben, muss ich u.U. zwei Lektionen einplanen, um zuerst die Kompetenz „Elfchen schreiben“ zu erwerben. Erst in einem weiteren Schritt können die Schüler*innen sich dann ausdrücken.
Als ausgesprochener Sprachmensch komme ich oft an meine Grenzen im Unterricht, weil die sprachlichen Kompetenzen der heutigen Schüler*innen – und besonders vielleicht in meiner Schule – sehr begrenzt oder beschränkt sind. Das hat mit ihrem Umfeld (viele Kinder mit Migrationshintergrund) und/oder mit ihrem Freizeitverhalten zu tun (viele Kinder mit elektronischer Fixierung auf Spielen und Tablet / Handy statt auf Bücher und kreative Tätigkeiten oder Draussen-Erleben). Dennoch kann und will ich nicht auf die Bedeutung der Sprache für das religiöse und philosophische Erleben (Deuten und Erkennen) verzichten!
Anfachung
Die gleiche Stunde kann natürlich auch absolute Höhepunkte beinhalten. Meist sind sie unscheinbar und „klein“. Doch wenn ich merke, wie ein Junge statt „schön“ das Adjektiv „fabelhaft“ wählt, dann fühle ich den Erfolg buchstäblich in Reichweite.
Ein Gelingen, eben das „Entfachen“ oder „Anfachen“ der Schüler*innen, ist meist dann garantiert, wenn ich mich ganz auf die Geschwindigkeit und die Stimmung der Schüler*innen einlasse. Nichts erreichen, nichts erzwingen will.
Hören und Warten nenne ich das. Geduld haben. Aufmerksam und achtsam sein.
Meist löst nur schon die Tatsache, dass ein Erwachsener ihnen seine Aufmerksamkeit und ihren Ein- und Ausdrücken Gehör und Be-Achtung schenkt, kann in den Schüler*innen wahre Stürme von Kompetenzen und Kompetenzerwerb auslösen.
Als ehemaliger Hausmann würde ich sagen: Dein Tag / deine Stunde gelingt dann,
- wenn du dich ganz auf die Kinder / Schüler*innen einstellst, ihrem Erleben und ihrem Dasein Würde und Achtung verschaffst.
- wenn du nicht deine erwachsenen Ziele und Zeitvorstellungen ihnen überzustülpen bemüht bist.
- wenn du sie so sein lässt wie sie sind: ihre intrinsischen Kompetenzen „erweckst“ und mit Geduld und ohne Voreingenommenheit und Zielvorstellung „hervorkitzelst“.
Fazit: Sehe von dir, dem Erwachsenen ab, und schau nur auf die Welt der Kinder
Natürlich gibt es beim besten Willen (und wird es immer geben) trotz obiger Grundsätze Stunden, die einfach scheitern. Wo du nahe an der Auslöschung stehst, nicht mehr weiter weisst, auch deine ganze Berufung zum Religionspädagogen in Frage stellst. Das braucht es im Leben: Niederlagen, Scheitern. Ohne geht es nicht; das Scheitern ist Teil (muss Teil sein) des (späteren und nie garantierten) Erfolgs.
Doch meist kannst du mitten in der Stunde mit einer Haltungsänderung Enormes bewirken, für dich und vor allem für die Schüler*innen, die Kinder. Denn ihre Kompetenzen sind ihr Reichtum, ihr Schatz, und wenn du sie ignorierst, ignorierst du sie als Lebewesen mit Würde und als menschwerdende Menschen.