Auslöschen und anfachen

Zum in die Gunten gumpen ermächtigen! (Danke für das Bild an Victoria_Borodinova!)

Diesen Blogeintrag will ich schon lange, schon sehr lange schreiben. Doch habe ich bisher keinen einfachen, positiven „Dreh heraus“ gefunden; bisher hätte ich einfach das „Auslöschen“ behandelt, aber nicht auch das Anfachen. Das will ich nun versuchen.

Zuerst aber zwei Beobachtungen.

Das Kind auf dem Schulweg

Jeden Morgen, wenn mein Sohn und ich an der Bushaltestelle stehen (gegen 07.30 Uhr), sehen wir diesen Jungen auf dem Schulweg. Als wir ihn zum ersten Mal gesehen haben, das war vor 2 Jahren, war er ein Erstklässler. Jetzt ist er sicher in der 3. Klasse.

Von Anfang ist uns aufgefallen, dass er sich „komisch“ benahm („komisch“ hier positiv gemeint). Er redete laut mit sich selbst – oder seinem imaginären Freund. Er stieg auf die Steinmauern an den Gärten, balancierte darauf an stacheligen Büschen vorbei, manchmal auch singend. Seine wuscheligen Haare flatterten im Wind.

Ganz offensichtlich war er nicht auf dem direkten Weg in die Schule. Um 07.30 Uhr bist du schon ein wenig früh unterwegs, ausser du willst dich noch mit deinen Freunden auf dem Pausenplatz unterhalten und Pokémons oder Panini-Bilder vergleichen und tauschen. Doch der Junge würde gerade so rechtzeitig kommen, weil er eine riesige Schlaufe von etwa anderthalb Kilometern machte, um zur Schule zu kommen. Vor allem in seinem „Tempo“.

Nicht nur, dass mich der Junge an mich als Schulkind erinnerte – auch ich redete, wenn ich nicht in Begleitung war, mit meinen imaginären Freunden und spann lange, komplizierte Geschichten aus -: selbst wenn sein bewusst länger gewählter Schulweg vielleicht damit zu tun hatte, dass die Mutter oder der Vater ihn früher hinausschickten, weil sie auf Arbeit mussten, selbst dann war mir die Bedeutung seines Verhaltens wichtig.

Denn dieser Junge hatte die Möglichkeit, in seiner eigenen kindlichen Welt zu leben. Er hatte gelernt, die Welt in seiner eigenen Geschwindigkeit anzugehen. Noch gehorchte ihm Zeit und Weg, noch war er nicht in die Hektik und Scheinkomplexität der Erwachsenenwelt eingebunden (oder nur teilweise). Der Wert dieser Möglichkeit, dieser Gelegenheit ist in der heutigen leistungsdirektiven Umwelt nicht zu unterschätzen.

Einen solchen Schulweg, eine solche introvertierte, fantasievolle Innenwelt wünsche ich allen meinen Schüler*innen. Von ganzem Herzen.

Das Kind in den Pfützen

Auf dem Heimweg von der Schule habe ich gestern einen etwa 11- oder 12-jährigen Jungen gesehen, der seiner Mutter auf dem Trottinett weit voraus rollte. Dabei vermied er gekonnt keine einzige der vielen Pfützen. Als ihn seine Mutter zurückrief (und in ihrer Stimme klang sehr viel Ermahnung mit), schoss er auf dem gleichen Weg zurück. Bei besonders tiefen „Gunten“ sprang er manchmal auf. Aber er war eh schon ganz und gar durchnässt bis über die Knie.

Das hat mich daran erinnert, wie ich als Hausmann mit meinem Sohn auf ein Schulfest meiner Tochter gegangen bin. Meine Tochter war in der 2. Klasse. Das Schulfest fand trotz schlimmen Regenwetters dennoch stand, im Schutz eines Eingangsdachs. Es war ein Grillfest, doch es regnete in Strömen: überall hatten sich tiefe Pfützen gebildet.

Im Wissen um die Wetterlage hatte ich meinen Sohn in eine Art „Kriegsanzug“ gesteckt: von den Gummistiefeln bis zu den Regenhosen war er „wasserdicht“ angezogen. Denn ich wusste, wie sehr Kinder es lieben, in den Pfützen zu planschen. Und als Vater und Mensch hatte ich mir als Kind schon geschworen, meinen Kindern keine Auflagen diesbezüglich zu machen; und sollten sie sich deswegen erkälten – es gibt Schlimmeres als Erkältungen, zum Beispiel verhindertes Kindsein.

Wir lebten damals bewusst in einem „reichen“ Quartier, wo die meisten Einwohner „Schweizer“ waren und vermutlich auch sind. Damals schien es uns wichtig zu sein, dass unsere Kinder in eine „Swiss only“-Schule gingen. Das war eine Haltung, die ich heute längst nicht mehr habe: die besten Schulen (mit den besten Lehrpersonen) sind jene, in der eine kulturelle Durchmischung stattfindet; die also unsere Gesellschaft wiederspiegeln.

Ich liess also meinen kleinen Frosch auf die Pfützen los, beteiligte mich zurückhaltend am langweiligen und bornierten Smalltalk der biederen Eltern. Hin und wieder lief ich in den Regen raus, um meinen Sohn aus einer (in meinen Augen, gewiss nicht in seinen) allzu tiefen Pfütze hinauszuheben und ihn wieder auf die Beine zu stellen. Ich hatte wie er einen Heidenspass an dem Wetter. Ich habe Regen immer geliebt, sein Geräusch, die Kälte und die Erfrischung, die er in unseren Breitengraden mit sich bringt.

Doch ich merkte auch, wie die Blicke der andern Eltern uns folgten, mich abschätzten. Ich verhielt mich ganz offensichtlich nicht konform mit ihren Vorstellungen von einem Vater. Ich hinderte mein Kind nicht, wie sie, am Herumstampfen und Pfützen-Ausschlürfen (denn einige Male tat mein Sohn genau das, und er hatte nachher keine Darmgrippe). Ich hatte ihn warm genug angezogen, und als ich fand, er werde langsam kalt, nahm ich ihn zu mir und steckte ihn in den Buggy, hüllte ihn gut ein und begann, mich zu verabschieden.

Ich habe meinen Sohn (noch) nicht gefragt, ob er sich noch an dieses Fest erinnert; auch meine Tochter nicht. Werde es aber gewiss tun. Für mich ist auch dies ein Beispiel – und ich sage das ohne Hochmut oder Überheblichkeit, ich habe als Vater schon zu viele Fehler und Unterlassungen begangen, um einen Stolz auf mich zu empfinden oder mich gar andern Eltern überlegen zu fühlen -, ein Beispiel dafür, wie ich mir Kindheit und Kindsein denke und wünsche: befreit von sozialen Normen wie Anstand, Konventionen und dem ständigen Blick auf die anderen („was mögen die nur denken?!“, wie meine Mutter immer gesagt hat), in Freiheit, aber behütet, mit elterlichem Vertrauen in die (finale) Richtigkeit ihrer Instinkte und Entscheidungen, aber auch mit dem Vertrauen, dass sie sich zutrauen, wofür sie sich kompetent halten.

Kompetent sein / werden

Mit dieser ausschweifenden Vorrede habe ich zwei Themen angerissen: das Thema der individuellen kindlichen Kompetenzen und Erfahrungen und das Thema des Kompetenzerwerbs.

Grundsätzlich liesse sich mein Auftrag als Religionslehrperson wie folgt umschreiben:

  1. Fördern und fordern von Kompetenzen in Bezug auf religiöses und philosophisches Erleben (Deuten und Erkennen).
  2. Aktivieren und anwenden von intrinsischen und/oder erworbenen kindlichen / jugendlichen Kompetenzen in Bezug auf religiöses und philosophisches Erleben (Deuten und Erkennen).

Meistens konstruiere ich meine Unterrichtsstunden darauf hin, dass ich den 2. Punkt vordringlich behandle. Was die Kinder schon können, ist im Anfang (und meist auch im Schluss, siehe unten) wichtiger als das, was sie noch erwerben „sollten“. Dennoch dringe ich immer darauf, dass auch der 1. Punkt in die Stunde hinein wirken sollte.

Wenn ich also das bereits „Gekonnte“ mehr gewichte als das zu „Erwerbende“ oder „Erlernende“, kann es prinzipiell zwei „Ausgänge“ meiner Stunden geben: ein Scheitern und ein Gelingen.

Das Scheitern hiesse, die Schüler*innen bleiben auf ihrem bereits „Gekonnten“ sitzen und konnten es einfach aktivieren.

Das Gelingen hiesse, die Schüler*innen erwerben sich zusätzliche Kompetenzen, „können“ also mehr; sie können das „Erworbene“ erstmals anwenden.

Dabei ist immer auch zu beachten: Als Lehrperson messe ich meinen Erfolg vor allem am Erreichen des ersten Punkts: Dass die Schüler*innen am Schluss der Stunde reicher und „weiter“ sind als am Anfang.

Und natürlich sind meine „Vorlagen“ für ein „Erwerben von Kompetenzen“ regelrechte Steilvorlagen: überfordern die Schüler*innen sowohl sprachlich als auch kognitiv und affektiv. Damit muss ich – und müssen die Schüler*innen leben können.

Auslöschung

So gibt es Stunden, in denen ich heulen könnte. Nichts gelingt. Weder die Schüler*innen noch ich bewegen sich.

Es ist ein unglaublich hartes Gefühl, wenn du merkst: da bin ich auf dem Holzweg, irgendetwas habe ich in der Vorbereitung nicht bedacht, nicht „einberechnet“.

Und mit jedem Schritt in der Stunde verschärft sich dieses Gefühl der Ohnmacht, denn du merkst auch, wie verzweifelt und ratlos die Schüler*innen werden.

Du sprichst sie immer wieder an, ermutigst sie, traust ihnen zu, dass sie erkennen, „worum es geht“, aktivieren, was sie bereits können, um zu dem zu gelangen, was du ihnen zum „Erwerb“ anbietest und vorschlägst.

So kann das versuchte Schreiben eines Elfchens in der 3. Klasse („Thema“: der brennende Dornbusch) zu einer Katastrophe werden. Das Erwerben der an und für sich einfachen Form des Gedichts „Elfchen“ ist das Hindernis, das vor dem Erwerb der religiösen Kompetenz „übernatürliches, geistiges Geschehen in der Welt ausdrücken“ steht und ihn verhindert.

Verhärte ich mich in so einem Moment, also beharre ich zum Beispiel auf der Klarheit und Deutlichkeit meiner Arbeitsanweisungen, erweise ich mir und den Schüler*innen meist einen Bärendienst.

Anders gesagt: sollen die Schüler*innen ein Gedicht namens „Elfchen“ zu einem Bild vom brennenden Dornbusch schreiben, muss ich u.U. zwei Lektionen einplanen, um zuerst die Kompetenz „Elfchen schreiben“ zu erwerben. Erst in einem weiteren Schritt können die Schüler*innen sich dann ausdrücken.

Als ausgesprochener Sprachmensch komme ich oft an meine Grenzen im Unterricht, weil die sprachlichen Kompetenzen der heutigen Schüler*innen – und besonders vielleicht in meiner Schule – sehr begrenzt oder beschränkt sind. Das hat mit ihrem Umfeld (viele Kinder mit Migrationshintergrund) und/oder mit ihrem Freizeitverhalten zu tun (viele Kinder mit elektronischer Fixierung auf Spielen und Tablet / Handy statt auf Bücher und kreative Tätigkeiten oder Draussen-Erleben). Dennoch kann und will ich nicht auf die Bedeutung der Sprache für das religiöse und philosophische Erleben (Deuten und Erkennen) verzichten!

Anfachung

Die gleiche Stunde kann natürlich auch absolute Höhepunkte beinhalten. Meist sind sie unscheinbar und „klein“. Doch wenn ich merke, wie ein Junge statt „schön“ das Adjektiv „fabelhaft“ wählt, dann fühle ich den Erfolg buchstäblich in Reichweite.

Ein Gelingen, eben das „Entfachen“ oder „Anfachen“ der Schüler*innen, ist meist dann garantiert, wenn ich mich ganz auf die Geschwindigkeit und die Stimmung der Schüler*innen einlasse. Nichts erreichen, nichts erzwingen will.

Hören und Warten nenne ich das. Geduld haben. Aufmerksam und achtsam sein.

Meist löst nur schon die Tatsache, dass ein Erwachsener ihnen seine Aufmerksamkeit und ihren Ein- und Ausdrücken Gehör und Be-Achtung schenkt, kann in den Schüler*innen wahre Stürme von Kompetenzen und Kompetenzerwerb auslösen.

Als ehemaliger Hausmann würde ich sagen: Dein Tag / deine Stunde gelingt dann,

  • wenn du dich ganz auf die Kinder / Schüler*innen einstellst, ihrem Erleben und ihrem Dasein Würde und Achtung verschaffst.
  • wenn du nicht deine erwachsenen Ziele und Zeitvorstellungen ihnen überzustülpen bemüht bist.
  • wenn du sie so sein lässt wie sie sind: ihre intrinsischen Kompetenzen „erweckst“ und mit Geduld und ohne Voreingenommenheit und Zielvorstellung „hervorkitzelst“.

Fazit: Sehe von dir, dem Erwachsenen ab, und schau nur auf die Welt der Kinder

Natürlich gibt es beim besten Willen (und wird es immer geben) trotz obiger Grundsätze Stunden, die einfach scheitern. Wo du nahe an der Auslöschung stehst, nicht mehr weiter weisst, auch deine ganze Berufung zum Religionspädagogen in Frage stellst. Das braucht es im Leben: Niederlagen, Scheitern. Ohne geht es nicht; das Scheitern ist Teil (muss Teil sein) des (späteren und nie garantierten) Erfolgs.

Doch meist kannst du mitten in der Stunde mit einer Haltungsänderung Enormes bewirken, für dich und vor allem für die Schüler*innen, die Kinder. Denn ihre Kompetenzen sind ihr Reichtum, ihr Schatz, und wenn du sie ignorierst, ignorierst du sie als Lebewesen mit Würde und als menschwerdende Menschen.

Angst vor dem Religionsunterricht?

boy-1226964(Bild von Ibrahim62)

Es gibt immer ein erstes Mal.

Ein erstes Mal, in dem du auf Fundamentalismus stösst. In deinem eigenen Religionsunterricht.

Das ist mir gerade passiert. Von der neuen Klasse war mir bekannt, dass einige Kinder nicht in den Religionsunterricht gehen, weil ihre muslimischen Eltern gegen eine bekenntnisunabhängige religiöse Bildung sind. Dagegen, dass ihr Kind die notwendigen Kompetenzen erwirbt, um anderen Religionen und somit auch anderen Kulturen offen und unvoreingenommen gegenüber zu treten. (Dazu habe ich übrigens einen eigenen Blog geschrieben, „Was, nicht wie„.)

Versehentlich im bekenntnisunabhängigen Unterricht

Das Mädchen kam im Schlepptau seiner Kolleginnen und Kollegen zögernd an meine Tür. Als sie mich sah, stellte sie fest, dass sie „falsch“ war. Sie wollte rechtsumkehrt machen, die Flucht ergreifen. Ich lud sie freundlich und unvoreingenommen ein, doch einfach mal auszuprobieren.

Kaum war sie abgesessen, streckte sie auf, um mir zu sagen, sie dürfe nicht über Jesus lernen.

Ich erklärte ihr, sie solle doch einfach ganz entspannt einmal mitmachen und schauen, wie es im Religionsunterricht bei mir sei. Und natürlich sagte ich, Jesus oder Issa sei sehr wohl ein wichtiger Prophet im Islam. Es sei also durchaus wichtig, von ihm mehr zu wissen. Ich führte dies aber nicht mehr aus; ich wollte nicht ablenken vom eigentlichen Thema meines Unterrichts. Ich sagte ihr noch, wenn sie etwas schockiere und zutiefst erschüttere, solle sie mir das sagen; sie dürfe sich dann gerne zurückziehen und zurück ins Klassenzimmer gehen.

In diesem Jahr habe ich es mir zum Prinzip gemacht, die von mir erzählten Geschichten in der Ursprungsreligion zu kontextualisieren. Die in dieser Stunde erzählte Geschichte stammte aus dem Buddhismus. Mein „Ritualtisch“ war mit einem orangen Tuch bedeckt, eine orange Kerze brannte und ein Räucherstäbchen.

Die Schüler*innen sollen in meinen Stunden auch fühlen, erleben. Ich schritt mit dem Räucherstäbchen kurz durch die Klasse, damit der Duft (oder Gestank, wie einige Junge meinten) auch bei ihnen ankomme. Dabei schwenkte ich das Räucherstäbchen über ihren Köpfen, jedoch ohne besinnliche Absicht, nur zur Verstreuung und „Verkostung“ des Dufts.

Darauf sollten die Schüler*innen aus 6 verschiedenen einfachen Mandalas eines wählen, das ihrem aktuellen Gefühl entspräche. In der Stille durften die Schüler*innen darauf die Mandalas bemalen.

Das muslimische Mädchen begann zu malen, dann jedoch brach es plötzlich in Tränen aus. Sie wolle nicht mehr. Sie sei schockiert von dem Räucherstäbchen.

Im ersten Moment hätte ich fast laut hinausgelacht. Das war doch allzu komisch. Alle Schüler*innen hatten den Duft gerochen und wollten ihn nochmals riechen, waren begeistert über diese Fremdheit. (Die Schüler*innen wollten am Ende der Stunde nochmals an den Räucherstäbchen riechen, so gut hatte ihnen dieses Erlebnis gefallen.)

Angst vor dem Vater (vor der Mutter), Angst vor Strafe – Religion als Knechtschaft?

Das Mädchen beruhigte sich nicht. Ich schickte sie deshalb zurück ins Klassenzimmer. Ich war ziemlich erschüttert: Was war da gerade passiert?

Das Mädchen litt und leidet offensichtlich unter einem hohen Druck. Das hatte ich sofort gemerkt. Der Druck war in der ganzen geduckten Körpersprache zu sehen. Es blickte mir nicht direkt in die Augen. Sie sprach so leise (und so schlecht deutsch), dass ich kaum verstand, was sie sagte.

Obwohl das Mädchen offensichtlich gedankenlos seinen Kolleg*innen hinterher gelaufen und bei mir gelandet war, erschrak sie über ihre Handlung.

Ich kann nur vermuten, was die Gründe für ihre Reaktion sind. Aus Gesprächen mit Lehrpersonen lässt sich ein Bild rekonstruieren.

Die Schattenwürfe dieses Bilds schmerzen und bedrücken mich. Ein Mädchen in einer muslimischen Familie, so gehirngewaschen und klein gemacht. Das einzige?

(Ich will hier genau sein. Ich rede hier von Mädchen, aber auch Jungs werden – spiegelverkehrt und durchaus auch in säkularen und schweiz-stämmigen Familien – in Rollenbilder und Verhaltensweisen gedrängt, gedrückt und gezwungen.)

Befreiung ermöglichen und Offenheit

Ein anderes Beispiel. Nach dem Film „Jamila“ über ein Fussball spielendes holländisches muslimisches Mädchen, das zwar Kopftuch trägt, aber doch gegen die Wünsche ihres Vaters ein westliches Leben will, streckte in einer 5. Klasse ein muslimisches Mädchen auf. Sie erzählte von ihrer Familie, in der ihre Brüder ihr befehlen konnten, was sie zu tun hatte, von ihrem Vater, der sie am liebsten nicht in die Schule schicken würde. Dieses muslimische Schweizer Mädchen weigerte sich, das Kopftuch zu tragen; sie war dabei von ihrer Klassenlehrperson mehrfach unterstützt worden, wie ich erfuhr. Ich spürte, wie befreiend der Film für sie gewesen war: zu sehen, ich bin nicht allein in meinem Kampf für Offenheit und weibliche Selbstbestimmung.

„Es ist gut, wenn meine Kinder wissen, was Christen glauben“

Dieses Ereignis, dieses erste Mal, könnte ich jetzt überbewerten. Ich könnte mich in einem Vorurteil bestätigt fühlen, gegen das ich bisher vehement eingetreten bin.

Gottseidank gibt es dagegen jene Mehrheit von muslimischen Eltern, für welche die Teilnahme am (in Basel-Stadt so genannten „ökumenischen“) Religionsunterricht eine Selbstverständlichkeit ist. Ähnlich wie jener Vater, der mir einmal mitten im Semester, als er mich auf dem Pausenhof getroffen hat, herzlich gedankt hat: „Ich bin so froh, dass mein Sohn bei Ihnen lernt, wer Jesus Christus ist.“ Oder jene Mutter, die meinte: „Es ist gut, wenn meine Kinder wissen, was Christen glauben.“

Meine Grenzen als Lehrperson in Frage gestellt

Die eingangs geschilderte Erfahrung konfrontiert mich zum ersten Mal mit meinen Grenzen als Lehrperson. Intuitiv möchte ich mich für das geistige Wohl dieses Kindes engagieren.

Für ein geistiges Wohl allerdings, könnte ich kultur-relativistisch sagen, das meinen eigenen säkularen Standards gehorcht: für eine selbstverantwortete und verantwortliche Mündigkeit jedes Menschenkinds.

Direkt ins Herz. Teil 1

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(Esau verkauft sein Erstgeburtsrecht; Giovanni Assereto, ca. 1645)

Im Beitrag „Wirkliche Geschichten“ habe ich über den Zusammenhang von biblischen oder koranischen Geschichten und den Lebenswelten, besser: den Lebenswirklichkeiten der Menschen, insbesondere der Kinder, spekuliert.

Damals ging es mir darum, die abwehrende Haltung vieler Menschen gegenüber Glaubens- und Lebensgeschichten aus Bibel und Koran zu hinterfragen. Darum, dass es „eben nicht nur eine Geschichte“ ist, sondern tief an unsere Erfahrungen rührt und in unsere Weltanschauung leuchtet.

Ich möchte hier nun zwei Geschichten kurz vorstellen, die sowohl mich als die Kinder meistens direkt in das Herz treffen. Und natürlich anführen, weshalb sie das tun. Und warum das wichtig ist.

 Jakob und Esau – Brüder und Rivalen 

Die Geschichte aus Gen 25, 19-26 erzählt von zwei ungleichen Zwillingen. Esau ist der Sohn seines Vaters Isaak, ein Mann ohne Wenn und Aber. Jakob ist der Sohn seiner Mutter Rebekka, ein Muttersöhnchen. (Ich übertreibe, aber nur wenig.)

In der Bibel werden ihre Konflikte als Kinder angedeutet (Gen 25, 37-43), sie brechen erst recht aus, als es um das Erbe ihres Vaters geht (Gen 27, 1-45).

In meinem Unterricht benutze ich die Geschichte nach Laubi[2], besonders den dort geschilderte Konflikt vor dem berühmten „Linsengericht“.

Diese Rivalität zwischen fast gleichaltrigen Geschwistern (ob Mädchen oder Jungen) trifft die meisten Kinder enorm. Sie können sowohl die Rivalität zwischen den beiden Brüdern als auch die ungerechte bzw. ungleiche Behandlung vonseiten der Eltern sofort nachvollziehen.

Manchmal sitzt auch ein Zwilling oder ein Zwillingspaar im Kreis. Ihre eigene Erfahrung, sofern sie diese zu teilen bereit sind, kann die Geschichte von Jakob und Esau noch lebhafter, noch lebensnaher machen. So sorgt oft nur schon die Erwähnung, dass der eine oder die eine der beiden 2 Minuten vor dem andern geboren worden ist, für eine zusätzliche Glaubwürdigkeit der erzählten Geschichte.

Die Erzählung rund um das Linsengericht, die zwar für die Ungerechtigkeit der Behandlung von Esau essentiell ist, wird angesichts heutiger Lebenswelten meist nicht verstanden. Natürlich lässt sie sich erklären und darlegen, aber sie wirkt niemals so unmittelbar wie die Schilderung der Beziehung zwischen den beiden.

Das Brüderpaar Esau und Jakob kann also sehr schön versinnbildlichen, wie eng und nah die Bibel auch heute noch an den Lebenswelten von Kindern oder eben Menschen erzählt.

Dagegen fällt der rechtliche, gesellschaftlich-regelnde Teil des Betrugs um das Erstgeburtsrecht weitaus schwerer zu vermitteln. Hier erscheint es zudem als unwahrscheinlich, dass ein Vater seine beiden eigenen Söhne nicht auseinanderzuhalten vermag, obwohl er alt und blind ist.

Während also die eigentliche Thematik geschwisterlicher Rivalität um die Elternliebe oder um den Vorrang auch heutige Lebensbefindlichkeiten trifft und anspricht, kann die Handlung rund um den väterlichen Segen keine ähnliche Glaubwürdigkeit beanspruchen.

Dass diese Geschichte eines Betrugs aber dennoch erzählt zu werden hat, steht ausser Frage.

Esau aufwerten!  Ein persönliche Auslegung

Wie mit vielen Geschichten in der Bibel, insbesondere im alten Testament, fühle ich mich zu den Bösen, den vermeintlich Schlechten und auch den Frevlern hingezogen. Nicht umsonst ist mein Lieblingskönig im Alten Testament nicht Salomo, sondern Saul.

Ich sehe es auch christlicherweise als meine Aufgabe, die „Liebe zum Feind“ immer wieder fühlbar zu machen: dass jemand „Böses“ durchaus auch eine Vorgeschichte und damit vielleicht gar „Gründe“ für sein So-Böse-Sein haben könnte, dass ihr oder ihm das Leben einfach zur Hölle geworden sein kann.

Vor diesem Hintergrund geht es mir in dieser Geschichte darum, Esau als positive, ja geradezu kindlich-unschuldige Person darzustellen. Auch Kinder denken selten über den Moment hinaus. Genau wie Esau, als er sich um das „Erstgeburtsrecht“ foutiert – solange er nur was Warmes zu essen kriegt.[3] (Ein ähnliches Phänomen ist das selbst bei vielen meiner 4. Klässlern noch nicht erloschene „magische Denken“.)

Gleichzeitig kann Esau durchaus noch einen weiteren Unschuldsfaktor zulegen, wenn daran gedacht wird, dass die Jäger und Sammler der Steinzeit – wie jüngst zum Beispiel bei Hariri zu lesen (Eine kurze Geschichte der Menschheit) – durchaus glücklich und satt waren. Und darüber hinaus ein stressfreieres, gesünderes und vermutlich damit erfüllteres Leben führten.

Im Gegensatz dazu lässt sich Jakob zwar weiterhin als der Überlegenere, der Schlauere, Vorbedachtere darstellen. Zudem – Achtung, machistische Vorurteile oder Deutungsmuster einer patriarchalen Gesellschaft? – ist ja wiederum eine Frau für die Hinterlist eines Mannes verantwortlich! Und mythologisch steht Jakob dann auch für den Übergang von der eher nomadischen Jägerkultur in die eher sesshafte Kultur der Jungsteinzeit.

Eine treffende Geschichte 

Zusammenfassend liesse sich etwa Folgendes sagen über diese Geschichte:

  • Sie findet in der Lebenswelt der Kinder nicht nur Entsprechungen, die Lebenswelt der Kinder spiegelt sich in der Geschichte von geschwisterlicher Rivalität und Zusammenleben.

  • Die Geschichte eröffnet zudem den Dialog über Persönlichkeit (wer bin ich?),  Vorurteile und Prägung (was macht mich aus?); eine Diskussion, die in unserer Zeit der Frühleistung und der Abklärung und Bestimmung von Verhaltensmustern bzw. Verhaltensauffälligkeiten wichtig bleiben wird.

  • Und wie häufig mit Bibelgeschichten ist sie eine Einladung an die Kinder und mich, darüber nachzudenken, was anders geschehen könnte, was zu ändern wäre – im Verhalten der Protagonisten und – übertragen auf unsere Situationen – in unserem eigenen Verhalten (gegenüber unseren Mitmenschen, unseren Nächsten).

Und die Religion in all dem? 

Und wie immer stellt sich die logische Frage: Was hat das (noch) mit Religion zu tun?

Für mich als Religionslehrer sind die biblischen und koranischen Geschichten ein Bild von Menschenwelten, ein Abbild von Menschenerfahrung. Ein unglaublicher Schatz an Erfahrung sogar: von Leid und tief reichendem Schmerz über Freud, von Niederlagen bis zu grossen Erfolgen. Sie zeigen auf, wie Menschen handeln (können).

Es wäre in meinen Augen sträflich, dieses Potenzial an Situationen und menschlicher Erfahrung nicht zu nutzen als Erzähl- und Reflexions-Stoff.

Und ich kann oder muss mir eingestehen, dass mich der „Glaubens-Inhalt“, das „von Gott angeleitet oder gelenkt sein“, das „auf Gott verwiesen sein“ in all diesen Geschichten nicht annähernd so stark interessiert wie dieser menschliche Erfahrungsreichtum.

Und ich erkenne, dass ich in vielen Dingen ein ebenso säkularisierter Mensch bin wie alle um mich her:

  • Religion ist eine der möglichen Wurzeln für ethisches Handeln,

  • Glauben hilft gewiss beim guten Handeln (vorausgesetzt, du glaubst an die Notwendigkeit des Guten in der Welt),

  • aber in den Geschichten aus den Religionen finden wir Hinweise darauf, was im Leben gelingt und was missglückt (gelingen oder missglücken kann), mit und auch ohne den Glauben an Gott oder Allah.

 

 


[1]

Laubi, Werner: Geschichten zur Bibel. Abraham, Jakob, Josef, Zürich/Einsiedeln/Köln 1985 (1), S. 50-54.

[2]

Laubi, Werner: Geschichten zur Bibel. Abraham, Jakob, Josef, Zürich/Einsiedeln/Köln 1985 (1), S. 50-54.

[3]

So leben die Schüler*innen häufig so stark im Moment, dass sie die herrschende gesellschaftliche oder schulische Ordnung vergessen oder verlassen. Ihr Erstaunen ist oft gross, wenn sie trotz mehrfacher Vorwarnung mit einer „logischen Folge“ leben müssen…