Hindere nicht auf dem Weg zur Gerechtigkeit!

Johannes sagte zu ihm: »Lehrer, wir sahen, wie einige mit Hilfe deines Namens von Dämonen befreiten, und wir hielten sie davon ab, denn sie gehörten nicht zu unserer Nachfolgegemeinschaft.« Aber Jesus entgegnete: »Hindert sie nicht. Denn die mit Hilfe meines Namens vollmächtig handeln, werden nicht kurz danach Übles gegen mich reden können. Wer nicht gegen uns ist, ist für uns. Die euch einen Becher Wasser zu trinken geben, weil ihr zum Messias gehört, ja, ich sage euch: Denen wird ihr Lohn nicht vorenthalten werden.

Die auch nur ein Kind Gottes, das mir vertraut, vom Weg der Gerechtigkeit abbringen, für die wäre es weit besser, wenn ihnen ein riesengroßer Mühlstein um den Hals gehängt und sie in den See geworfen würden. Wenn dich deine Hand vom Weg der Gerechtigkeit abbringt, schlag sie ab! Es ist besser, dass du verstümmelt ins Leben hineingelangst, als mit zwei Händen von Gott verurteilt zu werden, ein Feuer, das nie verlöscht. Und wenn dich dein Fuß vom Weg der Gerechtigkeit abbringt, schlag ihn ab! Es ist besser, dass du eines Fußes beraubt ins Leben hineingelangst, als mit zwei Füßen von Gott verurteilt zu werden. Wenn dich dein Auge vom Weg der Gerechtigkeit abbringt, reiß es heraus! Es ist besser, dass du einäugig in Gottes Reich hineingelangst, als im Besitz beider Augen von Gott verurteilt zu werden, wo ihr nagender Wurm nicht stirbt und das Feuer nie erlischt.

Mk 9, 38-48; zitiert nach BigS
Das Tal von Ge-Hinnom um 19000
Von der ursprünglich hochladende Benutzer war Briangotts in der Wikipedia auf Englisch – From the 1901-1906 en: Jewish Encyclopedia. Übertragen aus en.wikipedia nach Commons durch Storkk mithilfe des CommonsHelper., Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=4452832

Es sind solche Texte in den Evangelien, die mich wieder neu an Jesus glauben lassen. Sie wecken in mir den Glauben daran, dass Jesus Mensch ist. Ein Mensch, der von Liebe ebenso wie von Zorn redet; Zorn ebenso wie Liebe verteilt. Denn nur zu oft reden gläubige Menschen nur von der Liebe, die Jesus bringt; weitaus seltener sind sie bereit, auch den Zorn, die Ermahnung, die Schelte in Jesu Worten anzuerkennen.

Seit ich mich mit der Bibel näher auseinandersetze, sind mir diese Zornesreden Jesu die liebsten Stellen. Denn sie machen die Dringlichkeit, die Bedeutung seiner „frohen Botschaft“ nur umso deutlicher.

Die Kinder im Blick

Wenn du zurückblickst über das ganze 9. Kapitel des Markus-Evangeliums erkennst du, dass es sich immer wieder mit dem Begriff des Kindes, des Kindseins und des Gotteskindes befasst.

  • Mk 9, 7: „Dieser ist mein geliebter Sohn“ (BigS: mein geliebtes Kind) sagte die Stimme aus der Wolke zu den Freunden Jesu.
  • Mk 9, 14-29: Jesus heilt einen Jungen, der von epileptischen Anfällen heimgesucht wird.
  • Mk 9, 31: „Der Sohn des Menschen (Menschensohn) wird übergeben in die Hände von Menschen, und sie werden töten ihn…“ (zitiert nach dem Münchener Neuen Testament)
  • Mk 9, 37: Der Streit um die Rangfolge unter den Freunden Jesu wird dadurch entschieden, dass Jesus ein Kind in ihre Mitte stellt: dieses Kind ist wie Jesus, wenn es in seinem Namen aufgenommen wird.
  • Mk 9, 42: „Die auch nur ein Kind Gottes, das mir vertraut, vom Weg der Gerechtigkeit abbringen, für die wäre es besser…“

Es geht in diesem Kapitel und im vorangestellten Text – Evangelium des vergangenen Sonntags, 26.09.21 – im Wesentlichen um die Sorge für die schwächsten Glieder der Gesellschaft, für die Kinder.

Die Gutes tun „jenseits der gemeindlichen Grenzen“

Im ersten Abschnitt dieses Auszugs aus dem Markus-Evangelium muss Jesus seine engstirnigen Freunde zurechtweisen. Sie wollen einen Exklusiv-Anspruch auf Gott und auf ihn haben. Für die Freunde Jesu sind sie die Kerngruppe seiner Schule. Will heissen, nur sie können die Macht von Jesu Namen in Anspruch nehmen.

Doch Jesus weist sie deutlich zurecht: Selbst wer nicht ausdrücklich an mich glaubt, aber doch meinen Namen benutzt, tut Gutes „in meinem Namen“. Adolf Pohl hat es in der Wuppertaler Studienbibel sehr schön ausgedrückt:

Aber Jesus korrigiert ihre verengte Sicht der Gottesherrschaft. Gott ist grösser. Er herrscht auch jenseits der gemeindlichen Grenzen. (Pohl, 359)

Damit öffnet Jesus das Feld von Glauben um einiges: du musst, um Gutes zu tun, nicht notwendigerweise Jesus nachfolgen, sein Freund sein. Oder wie Pohl es sagt: „…Fernstehende ermutigt er.“

Ganz im Sinne Gottes: die Not haben, denen will ich helfen. Gott also als Arzt, wie ihn schon Moses gesehen hat: „Ich, der Herr, bin euer Arzt“ (2. Mose 15, 26).

Wer Anstoss gibt

Die darauf folgende Wutrede richtet sich an Verführer: Wer ein Kind Gottes „vom Weg der Gerechtigkeit“ abbringt, wie es die BigS formuliert, soll sich selbst richten.

Die Um- und Übersetzung des Begriffs „Anstoss geben“ ist vielseitig und vielfarbig:

  • Die Zwingli-Bibel meines Grossvaters (1958) redet von „zur Sünde verführt“,
  • eine noch ältere französische Bibel (1912) in meinem Besitz (basierend auf der Übersetzung des Neuenburger Theologen Osterwald, 1663-1747) spricht ebenfalls von „tomber dans le péché“,
  • meine Firmbibel (1982) nennt es „zum Bösen verführt“,
  • in der Wuppertaler Studienbibel-Übersetzung heisst es „zu Fall bringen“ und
  • die Volxbibel übersetzt: „zu Sachen verführt, die Gott nicht gern hat“.

Besonders gelungen scheint mir die Vielfalt in der Übertragung von Jörg Zünd (1965):

  • „Wenn deine Hand etwas tut, das deine Beziehung mit Gott stört…“
  • „wenn dein Fuss dich irgendwohin trägt, wo du Gott nicht zuhören kannst…“
  • „wenn dein Auge etwas sehen möchte, das du nur sehen kannst, wenn du Gottes Willen missachtest“.

In der Lesart von Adolf Pohl besteht hier eine Parallele zur Gerichtshandlung in Israel:

Ebendasselbe Körperglied, mit dem jemand eine Untat vollbracht hatte, wurde ihm zur Strafe abgehauen.

Pohl, 364

Die auch nur ein Kind Gottes, das mir vertraut, vom Weg der Gerechtigkeit abbringen…

Ich glaube, bei der Lektüre dieser Zornrede sind wir zu oft auf uns selbst fokussiert. Wir denken daran, was mit uns geschehen sollte, was wir uns tun sollten, wenn wir etwas in Gottes Augen Verwerfliches oder Falsches tun.

Doch der erste Verdammungs-Spruch ist weitaus wichtiger: Wer jemand anderes „vom Weg abbringt“, der sollte ertränkt werden. Hier wird jeder Gläubige in die Pflicht genommen: Du bist verantwortlich für deinen Nächsten!

Wie hat Kain so schön rhetorisch gefragt: „Soll ich ständig auf meinen Bruder aufpassen?“ („Bin ich denn meines Bruders Hüter?“ sagt es die Zwingli-Bibel).

Gott beantwortet die Frage nicht, weil es ja klar ist. Kain hat gegen seinen Willen gehandelt. Er hat seinen Nächsten nicht mit „Kraft“ beigestanden, nicht für sein Wohl gesorgt.

Fazit: die Fernen schützen, die Kinder und die Glaubenden

Zuletzt ist die Botschaft Jesu eine einfache, unmittelbare. Er will uns immer wieder sagen: Beschütze die Gottfernen, hilf ihnen, denn sie haben ich nötiger als du. Und vergiss nicht, was deine Taten und Worte bei deinen Nächsten auslösen, auf dass du sie „nicht in die Irre führst“. Beides Dinge, die auch die Freunde Jesu immer wieder lernen mussten – und müssen.

Nebengedanke: Gehenna, Hölle

Bei der Gehenna handelt es sich nicht nur um einen übertragenen Ort, den du Hölle nennen könntest. Es handelt sich auch um ein konkretes Tal, das Hinnom-Tal (Tal des Sohnes von Hinnom). Es war eine Grabstätte unweit Jerusalems. In alttestamentlicher Zeit war es auch in schlechtem Ruch, weil dort dem Gott Moloch geopfert wurde / worden sein soll. Spannend ist dabei der Hinweis von Pohl:

Später diente die verrufene Schlucht als Müllhalde. Das Stadttor dorthin trug den Namen „Misttor“. Die ständig schwelende Brandstätte galt als der abscheulichste Ort der Welt. Seit dem 2. Jh. v.Chr. diente der Name zur Bezeichnung der endzeitlichen Verderbensstätte.

Pohl, 361

Inwiefern eine Auferstehung aus diesem sowohl konkreten als auch übertragenen Höllenort möglich sein würde, könnte Anlass für eine spannende Diskussion und Nachforschung geben.

Das Flüchtige im Menschen nicht besitzen, sondern lieben

Ich bin in meiner Lektüre von Proust wieder bei der „Prisonnière“ angelangt. Dieser unheimlichen Geschichte, in der eine halb willige, halb widerstrebende junge Frau vom „Erzähler“ während mehrerer Monate bei sich zuhause „festgehalten“ wird. 

Der „Erzähler“ ist notorisch eifersüchtig und vermutet, dass Albertine nebenbei lesbische Liebschaften pflegt. Deshalb versucht er sie, obwohl er sich selbst unklar ist über seine Gefühle (ist es Liebe, ist es Herrschaft?), von allem abzuhalten, was diese angebliche lesbische Neigung fördern oder gar „erfüllen“ könnte. Dabei schreckt er nicht vor manipulativen Geschenken und Reden zurück ebenso wenig wie davor, sie nie ohne persönliche „Spitzel“ (die vielleicht wiederum nicht ganz ohne lesbische Neigungen sind) zu lassen. Diese „Spitzel“ (Andrée vor allem, Freundin der beiden) müssen ihm dann genauestens berichten, was während der Tages-Unternehmungen alles  vorgefallen ist. Er selbst bleibt meistens zuhause und schiebt Krankheit oder Unwohlsein vor. 

Es ist ein Wunderwerk der Erzählkunst. Denn obwohl sich der „Erzähler“ ganz offensichtlich als ein egozentrisches Arschloch darstellt, bleibt er der Leserin, dem Leser dadurch sympathisch, dass er an seiner Bosheit und Hinterlist deshalb leidet: Er scheint vollkommen konfus über die wirkliche Liebe zu sein, er würde sie vermutlich nicht erkennen, wenn sie ihm direkt unter den Augen, unter den Herzklappen nisten würde. Gleichzeitig ist es rührend (und lächerlich!), wie nötig er die Gegenwart Albertines hat; du könntest fast denken, sie nimmt die mütterliche Rolle ein, die tröstende, sanfte, weiblich-träumerische. (Ganz konform der Rollenbilder des 19. Jahrhunderts und darüber hinaus…)

Doch scheint in den langen Schilderungen immer wieder die schillernde Persönlichkeit dieser jungen Frau namens Albertine auf. Trotz der Beherrschung und Reglementierung, der sie sich (freiwillig?) unterwirft, kommt ihre eigene Lebensfreude, ihre eigene Sinnlichkeit und ihre eigene Leichtherzigkeit immer wieder zum Vorschein. 

Und obwohl der „Erzähler“ ein (unsympathisch-rührender) Tyrann ist und sie durchaus als „sein Werk“ versteht wie ein „moderner Pygmalion“ – nicht umsonst verlässt sie ihn am Ende dieses 5. Teils der „Recherche“, um kurz darauf tödlich zu verunfallen -, weiss er letztlich und tief in sich darum, dass seine Besitzergreifung nicht gelingen kann. 

Der Roman zeigt einige für mich immer schon wichtige Menschenfakten auf, das auch in meiner Rolle als Religionspädagoge grosse Bedeutung hat. 

  • Selbst in die allernächsten Menschen kannst du nicht hineinblicken. So nahe du ihnen auch sein magst: sie bleiben dir im Grunde unverständlich. 
    • Gewiss, du kannst ihre „Charakterzüge“ zu fixieren versuchen, – nur um plötzlich eine Veränderung festzustellen darin, doch wann hat diese Veränderung stattgefunden und weshalb? 
    • Gewiss, du kannst viel mit ihnen gemeinsam erleben, sie so in verschiedensten Situationen kennen lernen, – nur um plötzlich von jemand oder von ihnen selbst eine Situation erzählt zu bekommen, in der sie ganz anders reagiert haben als du aufgrund deiner Erfahrung mit ihnen angenommen hättest. 
    • Gewiss, einige Menschen (deine Kinder zum Beispiel) sind dir ähnlich, nahe, – doch erleben sie die Welt und die Umwelt anders als du. 
  • Kein Mensch gleicht dem andern. Jede/r ist eine eigene Welt, jede/r hat eine eigene Berechtigung zum Leben. 
  • Gerade den geliebtesten Menschen sollst du eines unbedingt gestatten, vielleicht darfst du es manchmal auch verlangen: die Veränderung. Ohne sie sind wir keine Menschen, sondern Roboter. (Aber wie viele Eltern können das ihren Kindern nicht erlauben!)
  • Und last but not least: das Innerste, das Herznahste, Herzlichste, das „Göttliche“ und auch Befreiende im Menschen ist das Flüchtige. Selbst du bist niemals ganz „eins mit dir“, selbst du bist „ein wandelndes Rätsel“. Versuchst du, den Menschen „festzulegen“ oder (wie der „Erzähler“ in „La Prisonnière“) „festzuhalten“, wird dieses Flüchtige nur noch stärker „flüchten“. 

Und – Achtung, liebe Leser*in! – darin sind wir ja doch wieder „Abbilder“ oder „Zerrbilder“ (je nach Lebenshaltung und Glaubens-Stand) von Gott, der das absolut „Unverfügbare“, „Flüchtige“, aber dennoch überall „Einwohnende“ ist.