Wirkliche Geschichten – wirkliche Sorgen

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Jonatan und David verabschieden sich voneinander: eine Geschichte, wie auch zwei Männer Gefühle ausdrücken und aneinander hängen können. (Bild von FreeBibleimages.)

„Sprechen wir aber über die wirklichen Sorgen, wenn wir sittsame Konversation über vermeintlich altbekannte Bibeltexte führen? Wie oft habe ich mich schon in die „blutflüssige Frau“ eingefühlt? Sieben Mal oder sieben Mal siebzig Mal? Bringt uns das weiter? Soll ich wohlgeordnete Gespräche zum Diabolog machen, eine queere Frage stellen, die alles durcheinander wirft?“ (Ina Praetorius in Fama 2019/4)

In meinem persönlichen Alltag wie auch in meinem Arbeitsalltag als Religionspädagoge spielen Geschichten eine dominierende Rolle. Sie sind das Schmieröl für die Übersetzungsketten, sie sind die elastischen, vielfach belastbaren Transmissionsriemen, die die Arbeit am Verständnis meiner und unserer Umwelt am Leben halten und vielleicht gar antreiben.

Manchmal berührt eine solche Geschichte etwas Zentrales in mir oder in den Kindern. Wenn der Bericht von Moses Tod auf die Erfahrung vom Sterben des geliebten Grossvaters trifft etwa. Dann wird wachgerufen, was nicht ausgesprochen wird; aufgeweckt, was eingelullt wurde.

Auch ich bin in solchen Situationen schon erschrocken und wollte die Wahrheit hinter der Geschichte bemänteln oder ins Sinnbildliche verschieben. Und es ist nicht erstaunlich, denn ich schreibe „Wahrheit hinter der Geschichte“: handelt es sich denn nicht eher um die „Wahrheit der Geschichte“?

Es ist eben nicht nur eine Geschichte 

In solchen Fällen beruhigt das Wort: „Es ist nur eine Geschichte“. Ähnlich wie wir nach einem Albtraum sagen: „Es war nur ein Traum“.

So habe ich es schon erlebt, dass Schüler*innen nach der Karfreitagserzählung Trost erfahren wollten darin, dass ich ihnen bestätigte, das sei eine Geschichte. Das konnte ich natürlich nicht: Gewisse Geschichten sind eben mehr als nur Geschichten, gewisse Geschichten sind eben mehr als nur Sinnbilder oder Exempel. Sie betreffen uns hart und gar zu nah.

Ebenso habe ich es schon erlebt, dass ich eine Geschichte mit zusätzlichen „Kissen“ bzw. „Haken“ versehen habe, einfach um ihre Härte und gewiss auch Brutalität abzuschwächen. So versucht ein Engel den Absalom davon abzuhalten, gegen seinen Vater in die Schlacht beim Wald Efraim zu ziehen (2 Sam 15-18), oder Sauls Argumente gegen die Grausamkeit Gottes (gegenüber den Amalekitern) werden deutlicher und „heutiger“ ausgearbeitet (1 Sam 15, 5-9).

Aber ist es legitim, den Streit zwischen Abel und Kain (Gen 4) auf den simplen Streit in der Familie „herunterzubrechen“?

Die Ferne in den Geschichten 

Denn allen diesen Geschichten jedoch ist eine Ferne eingeschrieben. Monarchische Verfehlungen, Stammesfehden, Bauernkalender-Weisheiten oder Gotteskadavergehorsam… Nur sehr wenige Geschichten sind für die Schüler*innen und die Mitmenschen aus ihrer eigenen Lebenswelt heraus verständlich. Daher erschliesst sich ihre Sinnbildlichkeit und/oder ihre „Botschaft“ nur sehr schwer. (Gewiss lässt sich einwenden, dass die Erschliessung der Geschichte selbst eine Fähigkeit / Kompetenz sein oder werden kann.)

Aber ich rede hier ja nicht über Erzähltechnik(en). Ich rede über Lebenswelten. Und natürlich würde ich nicht so weit gehen, die Bibel (oder den Koran) grundsätzlich in unsere Lebenswelt zu übersetzen. (Obwohl ich das durchaus spannend finde, siehe zum Beispiel die Übersetzung der Bibel in Emoji-Sprache!)

Das ferne Religiöse  – der ferne Gott

Abgesehen von der aussterbenden Nische des konfessionellen Religionsunterrichts, der verzweifelt in klassischer Weise an die „Geheimnisse der Kirche“ zu erinnern und daran festzuhalten versucht, leben wir in einer Welt, die von Religiosität und Gottbezug nichts mehr wissen will. Und erleben die religiösen Impulse des Islam – so der einfache Zusammenhang von Tun und Ergehen – als Gefahr für unsere eigene, christliche oder moderne Lebenswelt.

In dieser modernen Lebenswelt werden simple Rituale zu tiefsinniger Bedeutung hochstilisiert, gemeinsames Singen oder Kochen wird zum Gemeinschaftserlebnis, einfachste menschliche Verhaltensweisen werden ethisch analysiert und überhöht.

Das Fragen nach einer Person namens Gott oder Jahwe oder Allah aber, das in den meisten Geschichten aus Bibel und Koran dominiert (siehe die Beispiele oben), betrifft uns nicht mehr. Menschen, die an einen direkten Zusammenhang ihres Tuns und ihres Ergehens glauben und diesen Zusammenhang in Gottes Macht stellen, sind selten. Kurz: der Impuls zum ethischen verantwortungsvollen Handeln gründet heute nicht mehr in dem Glauben an einen Gott und seine Weisungen oder Befehle. 

Wirkliche Sorgen hinter den Geschichten – Geschichten von wirklichen Sorgen 

Natürlich lassen sich Gleichnisse und Geschichten „übertragen“, in unsere heutige Lebenswelt hinübertransportieren. Sie dienen dann gewiss ähnlich wie in ihrer ursprünglichen Lebenswelt als Exempel und Lehrstücke, die sich zur Umsetzung im eigenen Leben anbieten. Und die Erzählenden laufen wieder und wieder Gefahr, im Sinnbildlichen stecken zu bleiben.

Wie oft habe ich es in kirchlichen Kreisen erlebt, dass ein Gleichnis auf die übertragene, ethische Bedeutung „verkleinert“ wurde! (So erinnere ich mich an eine wundervolle Auseinandersetzung zum Gebot der Feindesliebe, Mt 5,43-48, in deren Rahmen das Gebot der Feindesliebe als „schlicht zu hoch für den normalen Menschen“ bezeichnet wurde.)

Anders gesagt: Geschichten sind auch Hindernisse auf dem Weg zu den „wirklichen Sorgen“. Sie sind Zufluchts- und daher Ablenkungsorte von unserer Gegenwart, von unserer eigenen Geschichte.

Lebensschule: eigene Geschichten  

Aus dieser „Erkenntnis“ müsste dann doch einiges zu gewinnen sein.

Einerseits werden wir nicht ohne Geschichten auskommen, vor allem nicht ohne unsere eigenen, die wir uns öfter erzählen könnten als unsere Scham es erlaubt.

Andererseits aber ist es notwendig, die wirklichen Geschichten ernster zu nehmen und in unsere Nacherzählungen von Gleichnissen und überlieferten Geschichten einzubinden.

Und in letzter Konsequenz ist das obige zu Ende zu denken: Weshalb Kirche ihre Relevanz verloren hat und weiter verliert – auch in meinem Herz und Verstand -, hängt mit der Anämie der erzählten Geschichten zusammen. Damit Geschichten leben, damit sie Lebensschule sein können, braucht es Details und Gegenwartsbezug. Braucht es letztlich keine Verweise auf Diesseitigkeit und Gutmenschentum, sondern Durchblutung und Vergegenwärtigung („Aggiornamento“ wie es Papst Johannes XXII genannt hätte).

Will auch heissen: nehmen wir unsere eigenen Geschichten als Exempel, als Lehrstücke. Tun wir das, werden wir handeln müssen: zeigen sie doch klar und deutlich, wo und wie die Probleme, Sorgen und Motivationen sind, die wir (gemeinsam oder allein) überwinden müssen.

Wenn wir unsere eigenen Geschichten als Lebensschule behandeln (als Lehrpersonen oder als Schüler*innen, als Christ*innen oder Muslim*innen), kommen wir einem Zustand nahe, den ich ganz gerne als „Reich Gottes“ bezeichnen würde.

Kommen einer Handlungsbereitschaft näher, die uns gegen die wirklichen Sorgen vorgehen lassen wird.

Aber das ist natürlich auch nur ein Traum.