Was, nicht wie

Bekenntnis-unabhängiger Religionsunterricht – oft auch “ökumenischer Religionsunterricht” genannt: eine Möglichkeit, Kinder für Glaubenssachen zu begeistern ohne sie zu indoktrinieren. Eine innovative Form des modernen Religionsunterrichts, der nicht das “Wie” einer Religion lernen will, sondern das “Was”. Keine Vermittlung von Glaubenspraxis, sondern von Fakten, Informationen und – religiösen Kompetenzen.

Rund 5 Jahre habe ich als “Katechet” gearbeitet. Das heisst, ich habe mich mit der konfessionellen Seite von Religiosität – in meinem Fall der katholischen Seite – befasst. Ich habe dabei versucht, Kindern unterschiedlicher Altersstufen Glaubensinhalte der katholischen Kirche zu vermitteln. Von der Sakramentenlehre (Taufe und Erstkommunion) bis zu dogmatisierten Glaubensinhalten (Dreifaltigkeit). Weshalb ich das nicht mehr tun will / werde, lesen Sie in dem Blogeintrag “Abschied von einer Institution”.

Ängste und Befürchtungen gegen Neugier und Interesse

Seit bald einem Jahr nun unterrichte ich an einer Primarschule in Basel-Stadt. Diese Schule hat eine vielfältige, im besten Sinne diverse Schülerschaft. Die Kinder kommen nicht nur aus verschiedenen Kulturen, sondern bringen auch ganz unterschiedliche Religionen in den Religionsunterricht mit.

Dies tun auch die Eltern. Befürchtungen und Ängste sind viele zu hören. Die Angst vor der christlichen Indoktrination bei muslimischen Eltern auf der einen Seite; die Furcht vor dem Verlust der christlichen Werte und Geschichte bei christlichen Eltern auf der andern Seite. Wieder andere Eltern wollen ihre Kinder ganz und gar laizistisch erzogen wissen: aber auch sie glauben daran, im Religionsunterricht würden ihre Kinder mit Glaubensinhalten gefüttert und mit falschen theologischen Lehren, die auf keinerlei wissenschaftlichen Fakten basieren.

Ich aber erlebe die Schüler*innen als grundsätzlich neugierig, wissensbegierig. Sie wollen hinter die Maske der Religionen schauen können, unbefangen Fragen stellen dürfen. Und sie wollen Geschichten hören – von der Wüstenwanderung Moses über die Auferstehung Jesu bis zur Himmelfahrt Mohammeds.

Kompetenzen erwerben

Der zeitgemässe Religionsunterricht ist kompetenzorientiert. Genauso wie der Lehrplan 21. Grundsätzlichen handelt es sich dabei um religiöse und gesellschaftliche Kompetenzen oder Fähigkeiten. Die Schüler*innen erwerben diese im Religionsunterricht. Folgendes ist dabei besonders hervorzuheben:

  • Diese Kompetenzen oder Fähigkeiten ermöglichen ihnen in ihrem jetzigen und zukünftigen Umfeld, kompetent mit der modernen weltanschaulichen Pluralität umzugehen.
  • Sie erkennen die Bedeutung von Toleranz und Differenz und können sich selbst begründete Urteile über andere Perspektiven oder Positionen bilden.
  • Dies tun sie in einer friedlichen, friedfertigen Haltung.
  • Die christlichen Werte und Geschichten werden als Aussagen über die menschliche Existenz und Identität gelesen und gedeutet.
  • Die Schüler*innen können ihre eigene Religiosität finden und ausdrücken.

Gleichzeitig geht es in meinem eigenen Unterricht um drei Arbeitsfelder:

  1. Religiöse Ausdrucksformen (er) kennen und achten. So lernen wir nicht nur christliche, sondern auch jüdische und muslimische Rituale kennen. Dabei erkennen die Schüler*innen nicht nur die Parallelen zwischen den drei grossen Religionen, sondern die Gründe für Unterschiede und Gemeinsamkeiten. Sie verstehen die Bedeutung von Ritualen und religiösen Ausdrucksformen als menschliches Bedürfnis, das allen Menschen gemeinsam ist.
  2. Glaubenswelten erforschen. Spielerisch, mit Anschauungsmaterial und Anwendungsbeispielen werden andere Religionen erforscht. Schüler*innen erfahren und erleben Glaubensgrundsätze anderer Religionen und lernen sie in ihre eigene Lebenswelt einzuordnen.
  3. Fragen stellen, argumentieren und urteilen. Dies ist für mich fast die wichtigste Facette meines Unterrichts. Schon Erstklässler haben wichtige Fragen: “Wo ist Gott zuhause?”, “Wo gehen die Toten hin?” oder “Weshalb darf man Gott nicht darstellen?”. In gemeinsamer Debatte und Diskussion erörtern wir mögliche Antworten. Dass es manchmal keine abschliessende Antwort auf eine Frage gibt, sondern nur Haltungen und/oder persönliche Einsichten, ist ein zusätzlicher Gewinn solcher Augenblicke. (Denn in einer Welt voller eindeutiger Angebote und abgründiger Versuchungen gibt es nichts, was so wertvoll wäre wie das Wissen darum, dass nicht alles abschliessend zu erklären und begründen ist. Ja, dass manchmal sogar die eindeutigen Antworten schlichtweg Lügen sein können.)

 

Fragen nach dem Was

Religionen haben schon immer verführt. Sie bieten mehr oder minder feste Glaubens-Systeme an. Abweichler oder Andersdenkende werden verteufelt oder vertrieben oder gedemütigt.

Die Schüler*innen bringen viel Wissen aus ihrem Lebensalltag mit. Das meiste aber haben sie unreflektiert (von Jugendlichen oder Erwachsenen) übernommen oder gehört. Als Religionspädagoge bin ich für sie eine Fachperson, die ihnen kompetente Antworten oder Hinweise geben kann. 

Darüber zum Beispiel, weshalb es vollkommen falsch ist, eine Mitschülerin als „haram“ zu bezeichnen. Darüber, dass der Glauben deines Vaters oder der Atheismus deines Vaters nichts mit deinem eigenen Atheismus oder Glauben zu tun haben muss; dass du dir selbst einen eigenen Zugang zu der überlieferten Religion eröffnen sollst.

Umso wichtiger ist es vor diesem Hintergrund für die Schüler*innen, die Hintergründe von Religion zu erfahren, das “Was”. Ich bringe den Schüler*innen nicht bei, wie sie glauben sollen, sondern was die Menschen der verschiedenen Religionen glauben. Oder an was.

Denn das “Wie” des Glaubens ist eine Sache, die sie entweder bei sich in Familie und Gemeinde erfahren oder für sich selbst entdecken (sollen) – auf dem Weg zu einer selbstständigen, mündigen Religiosität. Aber nicht mit mir in der Schule.

Das Beispiel “Gebet”

Wenn ich mit Schüler*innen also z.B. über das Beten spreche, werden wir nie gemeinsam beten. Sogar Erstklässler wissen heute schon, wie gross der Unterschied zwischen christlichem und muslimischem Beten ist.

Nein, wir werden

  1. Herkunft und Ablauf eines Gebetsrituals erkunden und
  2. unseren eigenen Ausdruck für Gefühle, Hoffnungen und Wünsche formulieren lernen.

Bereits im ersten Punkt wird deutlich, dass die Schüler*innen am Ende eines solchen Lernprozesses vergleichen und urteilen können. Vorurteile werden verhindert oder abgebaut.

Im zweiten Punkt dann können die Schüler*innen Ausdrucksformen für ihre eigenen Sorgen, Wünsche und Gefühle finden. Dies ist in meinen Augen ein wesentliches Ziel religiöser Bildung: Nicht nur die Suche nach einem “Du” in Not und Bedrängnis, Freude und Glück, sondern auch das Finden einer Sprache für ein Gespräch mit diesem “Du”.

Und vor allem – das Gemeinsame finden und sich selbst kennen lernen

In dieser Form von Religionsunterricht liegt letztlich die Chance darin, dass Schüler*innen lernen, wie viel mehr Gemeinsames als Trennendes die verschiedenen Religionen haben. Immer wieder stosse ich auf Erstaunen, wenn ich Jugendlichen und Erwachsenen erzähle, dass für Muslime Jesus ebenso ein Prophet ist wie Moses. Oder in einem anderen Beispiel: Wie spannend ist es doch, das “letzte Abendmahl” vor dem Hintergrund des Seder-Abends zu betrachten?

Sie merken, ich bin ein vehementer Vertreter von Interreligiosität. Wenn wir über Gründe und Hintergründe unserer Existenz nachdenken, über Schöpfungsmythen und Erzväter-Erzählungen, begegnen wir uns immer wieder uns selbst. Und was anderes ist in der heutigen komplexen und unübersichtlichen Welt wichtiger als das Wissen von uns und über uns selbst?