Das jüngste Gericht in Form deiner Kinder

Wie lange schläfst du noch, während die Wüste sich ausdehnt? (mit Dank an comfreak für das Bild)

(für M. Z.)

Da stehst du überheblich auf dem heiligen Berg (Zef 3, 11):
Eine ganze Generation
Verworfen in den Augen und Herzen deiner Kinder.

Siehst es kommen
Siehst es schon lange kommen:
Das Ende vom Lied der Erde.

Niemand wird sagen können:
Du hast nicht gewusst
Du hast nicht gesehen
Du hast nicht gehört.

Wirst du die Schuld von dir weisen wollen
Wie all diejenigen
die Macht und Gewalt haben?

Wirst du sagen können
Ich habe nur zu überleben versucht
Ich habe genug mit meinem eigenen Leben zu tun gehabt?

In den Augen und Herzen deiner Kinder
Löst du dich auf: du bist
Diese besudelte
unterdrückerische Stadt!

Du bist diese Tochter und dieser Sohn
Die sich nicht auf den Herrn verlassen haben!

Du hast die Stimme der Propheten auf deiner gespaltenen Zunge zergehen lassen.
Du hast die Zeichen gesehen und sie gelten lassen.
Du hast die Schwätzer gewähren lassen.
Du hast die Säcke gefüllt mit dem Unrat deiner Taten und dem Argwohn deiner Liebe.
Du hast jenseits der Grenze eingesperrt die Unbill und den Unort
Hast die Unruhe eingemeindet und die namenlosen Stufen der Freiheit
An die Grenzen des Lichts gestellt. Du hast keine der Taten bereut:

Wolltest die Milch der Güte verschwenden
Meine Milch der Güte! Und wolltest
Deinen Lebensatem vor allen andern Lebensatem
Heben und aufheben die Ordnung
Die zu verwalten du hast. Du hast
Die Schöpfung erschöpft
Die Erde entkernt und die Erde ist nicht
Von dem Mantel namens Gerechtigkeit
bekleidet: von einem Mantel aus Metall
ist sie bekleidet.
Kannst du sie noch sehen
mein Herr? Die heilige Stadt auf dem Berg
kannst du sie noch sehen blau glänzend
wie sie war in den ersten Tagen?

Und deine Kinder schauen dir ins Gesicht und ins Herz
Und du weisst nichts zu sagen: es gibt nicht mehr
Zu sagen: sie zeigen dir
Was zu tun ist und drücken deine Hochnäsigkeit
In das Ende der Welt hinein.

Verantwortungsbewusstsein und Empathie

Ein heute alltägliches Bild: einfach auf die Strasse oder in die Büsche geworfene Masken (Bild mit Dank an Alexas_Fotos)

Für die liberale Ironikerin leistet phantasievolles Einfühlungsvermögen die Arbeit, die der liberale Metaphysiker von einer spezifisch moralischen Motivation – Rationalität oder Liebe zu Gott oder Liebe zur Wahrheit – getan wüsste.

R. Rorty: Kontingenz, Ironie und Solidarität

Die heutigen Zeiten halten für den werdenden Menschen – ob Erwachsener, Jugendlicher oder Kind – viele Herausforderungen bereit. Eine der schmerzvollsten und drängendsten scheint mir aktuell jene der Unfähigkeit zum Perspektivenwechsel und ganz generell zur Empathie zu sein.

Eine pessimistische Bestandsaufnahme

Es passiert immer wieder: In einer mehr oder minder offenen Diskussion verklemmt sich ein Gegenüber in eine Haltung, zu der es von niemand gezwungen ist. An einer Bushaltestelle, in Bus, Tram oder Bahn verhalten sich Jugendliche und Erwachsene nicht nur wie Rüpel, sondern werden bei Ermahnung und bei Hinweisen auf ihre gesellschaftlichen Pflichten (gegenüber ihren Mitmenschen) ausfällig und bedrohen dich. Ehepartner leben jahrelang in überholten Verhaltensmustern, Eltern hätten ihre Kinder am liebsten auf Rollen fixiert, aus der diese längst hinausgewachsen sind. Pädagogen versuchen verzweifelt, ihren Schüler*innen grundlegende moralische Haltungen und im Minimum Verhaltensweisen anzugewöhnen, die sie von zuhause aus mitbringen könnten oder sollten.

In zahlreichen Stunden und Reflexionsübungen schon habe ich feststellen können, dass die meisten Menschen durchaus fähig sind, ethisch gesunde und überlegte Positionen zu vertreten, diese auch in den allermeisten Fällen auch kognitiv nachzuvollziehen, wieder- und weiterzugeben sind. Manche Primarschüler*innen können sich im Nachdenken durchaus auf Kohlbergs 5. Stufe hinaufschwingen (Orientierung am Sozialvertrag und Orientierung am Prinzip der zwischenmenschlichen Achtung).

Keine Stunde später jedoch handelt die Schüler*in auf dem Pausenplatz z.B. wieder ganz nach egoistischen Massstäben. Ein möglicher Perspektivenwechsel, ein Hineinfühlen ist unmöglich geworden, weil sie / er – wie ich vermute – selbst betroffen ist. Wie die meisten Pädagogen habe ich schon die Erfahrung gemacht, dass ich zwei verstockte Streithähne mit ihren beiden Versionen von derselben Geschichte konfrontiert habe. Meist kommt es weder zu einer Einsicht (auch bei dem Geschädigten nicht), sondern zu einer allzu leichthin und daher unverbindlichen Entschuldigung. Dass die beiden Streithähne weiterhin Groll verspüren und diesen in weiteren Auseinandersetzungen schüren werden, ist quasi selbstverständlich und kann nicht erstaunen.

Dazu kommt, dass Beispiele wirklicher Versöhnung, Beispiele wirklicher Perspektivenwechsel und Bemühung um Verständnis sich an einer Hand abzählen lassen. Auch in meinem eigenen, ganz privaten Leben. Wie sollen Kinder und Jugendliche dann verstehen lernen, wie auf den andern „verständnisvoll“ und hörend zuzugehen ist?

Gegen die Fassadentheorie

Zuerst will ich jedoch – ganz im Sinne von Rutger Bregmans Buch „Im Grunde gut“ – klarstellen, dass ich zwar ein Pessimist bin, der hin und wieder fast den Glauben in das Gute im/am Menschen zu verlieren droht, aber doch daran zu glauben bereit ist, dass dieses Gute in unser aller Leben und Lebenshaltung überwiegt. Dass der Mensch also kein egozentrisches, nur auf Nützlichkeit für sich selbst versessenes Tier ist. Sondern ein grundgutes und vielleicht sogar grundgütiges Lebewesen, das zu mehr fähig ist.

Ich selbst bin also vielleicht der falsche Zeuge für das Gute im Menschen, für eine optimistische Sicht auf den Menschen. Immer wieder ertappe ich mich bei „bösen Gedanken“, wenn ich sehe, wie Menschen an Bus- und Tramhaltestellen ihre Kippen einfach fallen lassen oder in den Rinnstein werfen. Oder wenn, wie heute in Corona-Zeiten, in den Büschen und Gräsern der Wege und Strassen die blau-weissen Wegwerf-Schutzmasken hängen.

Ich denke dann häufig an den Ausspruch des Tigers Shir-Khan aus der sowjetischen Animationsfilm-Adaption des Dschungelbuchs (1973): „Jeder für sich“. Und der Tiger ist darin – ganz klassenkämpferisch gedacht – ja nicht nur ein wenig Sinnbild für den „bösen Kapitalisten“. Der am Schluss von einer Herde wildgewordener Wasserbüffel buchstäblich aufgespiesst und zertrampelt wird.

Gewalt und Pathologisierung

In einer meiner ersten Stunden als Religionslehrer, noch ganz ungelernt und naiv, musste ich zwei 4. Klässler voneinander trennen. Sie hatten sich vor der Türe beleidigt („Du bist voll fett“ – „Und du bist Arschloch“ oder so). Der kleinere der beiden schäumte regelrecht, obwohl er ganz offensichtlich derjenige gewesen war, der den Streit losgetreten hatte. Ich musste ihn mit meiner ganzen Kraft eines erwachsenen Manns festhalten, an die Wand drücken, sonst hätte er mich verletzt. Er beruhigte sich nur so, durfte dann auch einen Moment draussen bleiben, bis seine Wut und seine Tränen getrocknet waren. Die Eltern, die ich nach der Stunde informiert habe, waren scheinbar ebenso verblüfft und schockiert wie ich über ihren Buben.

Ich werde diesen Jungen nie mehr vergessen: Was für eine Kraft er entwickelt hatte! Wie zutiefst überzeugt er von seinem Recht war, obwohl die ganze Klasse ganz klar davon erzählte, wie er den andern Jungen (der auch weinte) auf dem ganzen Schulweg und den ganzen Schulmorgen schon gepiesackt und beleidigt hatte!

Fast 5 Jahre später, inzwischen ausgebildet und mit einem grossen Erfahrungsschatz unterwegs, passierte mir etwas ähnlich Unerklärliches, Widersinniges. Auf dem Rückweg vom Lehrerzimmer traf ich auf dem Pausenplatz einen Erstklässler, der zu mir in den Unterricht kam. Er war unterwegs zu einer heilpädagogischen Stunde. Damals standen auf dem Pausenplatz gelegentlich noch Kleinlaster von lokalen Sanitär- und Malerunternehmen, der Umbau und die Renovation war fast abgeschlossen.

Der Erstklässler hatte mich gegrüsst, ging aber schnell weiter. Auf seinem Weg fuhr ein Kleinlaster rückwärts auf ihn zu. Ich rief dem Jungen zu, er solle doch ausweichen! Als ich bemerkte, wie der Junge nicht ausweichen würde, rannte ich ein paar Schritte, um ihn vor dem zurückrollenden Kleinlaster zu retten; der Junge befand sich genau im toten Winkel des Fahrers. Der Junge aber wurde wütend und befreite sich ruckartig aus meinen Händen.

Ich stellte ihn zur Rede: „Wieso bist du denn nicht ausgewichen? Hast du das Auto nicht gesehen?“ Er antwortete nicht. Ich fragte weiter: „Was hättest du gemacht, wenn das Auto weiter auf dich zugefahren wäre? Es hätte dich überfahren können!“ Der Junge antwortete: „Ich hätte es geschlagen!“ Ich bohrte weiter: „Aber das Auto ist doch stärker als du!“ Der Junge wiederholte: „Ich hätte es geschlagen, ich bin stark!“

Der Junge schien keine Relation zu Objekten im Raum zu haben: Er nahm nur sich selbst wahr, hielt sich in einer gewissen Form für allmächtig, allbeherrschend. Ich hatte bereits erlebt und erfahren (von anderen Lehrpersonen), dass er auch eine schwierige Haltung zu Subjekten im Raum hatte, zu anderen Menschen. Auf alle Probleme antwortete er mit Gewalt, mit Über- und Angriffen.

Ich habe die schulische Laufbahn dieses Jungen aus den Augen verloren. Ich weiss, dass er noch vor Ablauf des Schuljahrs in eine Förderklasse verwiesen wurde, wo auf seine Bedürfnisse eingehender eingegangen werden konnte. Was sich sehr positiv auf die Schüler*innen der Klasse und die Lehrpersonen ausgewirkt hat; sie atmeten auf.

Nun bin ich zwar sehr froh um die reichhaltigen Unterstützungs- und Fördermassnahmen, die unsere heutige Schule den „verhaltensauffälligen“ Schüler*innen bietet. Umso mehr, als es sich dabei um das inklusive Schulmodell handelt. Gleichzeitig aber bin ich skeptisch, inwiefern diese Fördermassnahmen nicht auf eine allzu starke Pathologisierung der „Verhaltensauffälligkeiten“ zurückzuführen sind. Oder – anders gesagt – ob den Kindern manchmal nicht mehr gedient wäre, wenn man sie sein und werden liesse. Denn nicht alle „Auffälligkeiten“ sind pathologisch, genauso wenig wie alle Pathologien auffällig sind.

Aber das ist eine andere Geschichte. Sie berührt zwar das hier angesprochene Thema, aber ich bin zu weit abgeschweift.

Bevor ich fortfahre, liesse sich zusammenfassend etwa Folgendes sagen:

  • Im schulischen wie im privaten Alltag dominiert Gewalt als Lösungsweg, sowohl als verbale, gestisch-nonverbale oder als effektive, verletzende, tätliche Gewalt.
  • Im schulischen wie im privaten Alltag dominiert eine Haltung der Unversöhnlichkeit einerseits und eine Haltung der (bewussten oder unbewussten) Argumentlosigkeit bzw. des bewussten oder unbewussten Verzichts auf eine vernünftige Argumentation, die aufgrund ihrer Basis in der Vernunft auch offen für Gegenargumente und Einwände ist.
  • Im schulischen wie im privaten Alltag dominiert eine Haltung der Empathielosigkeit bzw. eine Haltung der Empathie gegen Mitglieder der gleichen Familie, Ethnie oder Partei (ob politisch oder gesellschaftlich).

Was aber heisst das für mich als Religionspädagogen, der seinen Unterricht immer wieder mit ethischen Fragen unterfüttert?

Für eine vernunftgeleitete Haltung der Versöhnlichkeit und Offenheit

Mit den Schüler*innen wären vermehrt folgende Kompetenzen zu erwerben:

  • Übung in der Findung oder Erarbeitung von Argumenten (pro und contra) im Falle von umstrittenen dilemmatischen Situationen aus Schul- und Familienalltag (Stichwort Argumentieren)
  • Vertreten von den Schüler*innen u.U. konträren Haltungen mit stichhaltigen Argumenten in einem konfliktfreien, geschützten Umfeld (Stichwort Debattenkultur)
  • Übung(en) im Zuhören, im Abwarten, im „Einfühlen“

Für eine empathiestarke Haltung der Verantwortung

Doch wie der letzte Punkt oben schön aufzeigt, genügt ein „Argumentierenkönnen“ noch lange nicht. Ein Dialog muss in Empathie gegründet sein. Und dieser empathievolle, vernunftgeleitete Dialog muss (müsste) in verantwortungsvolles Handeln münden.

Wie ein äusserst lesenswerter Artikel auf philosophie.ch, verfasst von Till Hopfe & Adem Mulamustafić, unter dem Titel „Empathie oder Dialog?“ aufzeigt, handelt es sich hier fast um die Quadratur des Kreises.

Dabei stellen die beiden Autoren besonders heraus, dass ein erfolgreicher „empathischer Dialog“ einige Vorbedingungen hat:

  • Der den Dialog Suchende muss um sein eigenes Nichtwissen wissen: sowohl in Bezug auf die wirkliche Weltperspektive des Gegenübers als auch um die Lücken in seiner eigenen Weltperspektive.
  • Dies führt von einer Haltung der intellektuellen Arroganz zur Haltung intellektueller Bescheidenheit: „Bei auftretenden Missverständnissen sollten wir zunächst unterstellen, dass unser Gegenüber etwas Sinnvolles gesagt hat und wir die die Ursache für das Missverständnis sind…“
  • Die beiden Autoren nennen dies in Rückgriff auf Daniel Davidson das „Prinzip der wohlwollenden Interpretation„.
  • Der Verstehensprozess hat mit dem „Hineinfragen in den anderen“ zu tun.

Diesen hilfreichen Vorbedingungen und Hilfsmitteln zur Führung eines inklusiven und aufklärenden Dialogs sollte jedoch auch noch das Bemühen um Kontaktaufnahme zum andern hinzugefügt werden. Denn nur Kontakt mit dem anderen verhindert Vorurteile und Fehlinterpretationen. Je näher du also jemand „Unbekanntem“ und/oder „Unverständlichen“ bist, umso leichter kannst du ihn als ebenbürtigen und ebenso würdigen Nichtmenschen wie dich selbst erkennen und auf ihn und auf sie zugehen.

(Nicht umsonst stimmen die Landkantone in der Schweiz regelmässig für fremdenfeindliche Initiativen, weil sie die Diversität der städtischen Gesellschaften in Unkenntnis gegenüber stehen! Würden sie selbst in einem diversen Quartier leben, fielen die Vorurteile ganz allmählich und natürlich von ihnen ab.)

Soweit zur Hilfseigenschaft der Empathie als Vermittlerin und Ermöglicherin von Kontakt und Verständnis. Doch wie steht es um die Verantwortung, um das anwachsende Verantwortungsbewusstsein in einem solchen Prozess?

In dem Moment, wo ein empathischer Verständnisprozess nicht nur zur Kontaktaufnahme, sondern zu zusätzlicher Nähe geführt hat, können die beiden Gegenüber ihr Handeln verantwortungsvoll und gemeinsam durchführen. Beide Gesprächspartner können die Verantwortung für aufgeklärtes, empathisches Handeln übernehmen und mittragen. Und dieses vor anderen, befremdeten oder befremdlichen Gegenübern verantworten und argumentativ vertreten.

Vor diesem Hintergrund heisst also Verantwortungsbewusstsein, dass du dich jederzeit als für den anderen Menschen ebenso fremden Menschen – ja mehr noch: für dich selbst fremden Menschen – verstehen lernst und erst nach Ergründung von dessen Motiven und Lebensperspektiven mit ihm und ihr gemeinsam zu handeln beginnst, damit sie und er sich nicht nur gemeint fühlen, sondern gemeint sind.

Und den Lernprozess des empathischen Verstehens weitertragen helfen.

Oder, um es mit dem Philsophen Bregmann zu sagen:

„Woran wir uns erinnern müssen – und das gilt auch für mich selbst -, ist, dass der andere uns ähnelt. Der wütende Bürger in der Zeitung, der Kriminelle mit einem schwarzen Balken vor den Augen, der Flüchtling als statistische Grösse – sie alle sind, jeder für sich, Menschen aus Fleisch und Blut. Menschen, die in einem anderen Leben unsere Freunde, unsere Verwandten, unsere Liebsten hätten sein können.“

Im Grunde gut, S. 411f.