Eine andere anthropologische Wende

neanderthal-4731928(Foto von sgrunden, Pixabay)

In den letzten Jahren und besonders in den letzten Monaten habe ich mich immer weiter von der katechetisch definierten und hierarchisch strukturierten katholischen Kirche und ihren Glaubenswahrheiten entfernt.

Es war dies auch ein quasi körperlicher Prozess: ich empfinde buchstäblich Übelkeit

  • angesichts unzähliger Priester und Theolog*innen, die biblische Botschaften vergeistigen statt sie in unserem Leben „verheutigen“ und vergegenwärtigen;
  • angesichts von routinemässigen und geist-leeren Eucharistien und
  • angesichts von nachgeplapperten Glaubenswahrheiten, die weder wirklichkeitsnah noch glaubwürdig sind.

Gleichzeitig zweifle ich schon lange an einigen „Wahrheiten“, die uns die Kirche über Lehramt und Katechismus schmackhaft machen will:

  • Jesus ist Gott;
  • Jesus ist auferstanden;
  • Jesus ist „für uns“ gestorben;
  • Jesus war „ohne Sünde“…;
  • und viele mehr.

Einer der wichtigsten Momente in der katholischen Kirche war die so genannte  „anthropologische Wende“, die in der „Verheutigung“ anlässlich des II. Vatikanums passieren sollte. Die Neu-Ausrichtung der Verkündigung und Exegese und Lehre auf den Menschen hin, auf die menschlichen Schicksale, auf das menschliche Dasein. Auf die Sorgen und den Alltag der Menschen. Die Abkehr vielleicht sogar von einem allzu steifen, allzu grundsätzlichen Glauben und die Hinwendung zu einer Wirklichkeitsnähe, die eine Absage an alle neuplatonischen Deutungen unseres Glaubens sein kann. (Dass diese Abkehr ganz offensichtlich nicht erfolgt ist, sah man spätestens unter Jean Paul II.)

Ich selbst mache derzeit eine eigene „anthropologische Wende“ durch. Unter dem Eindruck österlicher Reflexionen und unter dem Einlesen in dogmatische Prinzipien ist mir befreiend klar geworden, dass es nicht um die Nachahmung von Glaubensgrundsätzen gehen kann (eine Binsenwahrheit, gewiss), – sondern darum, die eigenen Glaubenswahrheiten zu finden und nach diesen – in der Tradition der katholischen Kirche immerhin – zu leben.

Zu meiner eigenen „anthropologischen Wende“ haben neben den obigen Reflexionen verschiedene Bücher und Impulse beigetragen:

  • Das Tagebuch der Menschheit“ war und ist eine Lektüre, die Bibel evolutionsbiologisch und anthropologisch liest und manchem Theologen seine vergeistigten Exegese-Yoga-Übungen austreiben würden;
  • meine Beschäftigung mit den möglichen Glaubenswelten in der Steinzeit und im Altertum (von Naturreligionen bis zu den Gilgamesch-Mythen) sowie

Das Bemühen, den Religionsunterricht auch zu jenem Moment im Leben der Schüler*innen werden zu lassen, in der sie sich „einreihen“ können in Jahrtausende von Geschichten, Überlieferungen und Traditionen, in denen sie ihr eigenes Erleben gespiegelt sehen können.

Das verändert meinen Religionsunterricht. Es verstärkt seine „erlebnispädagogische“ Richtung. Und es entfernt ihn noch weiter von der herkömmlichen, sehr christlich grundierten Erzählung, die den Schüler*innen auch heute noch geboten wird. Auf einmal, so stelle ich freudig fest, geht es nicht mehr nur um eine Überlieferung von Geschichten, die „unsere westliche Kultur massgeben geprägt haben“, wie es immer so schön heisst.

Nein, hier geht es vielmehr um das Nachdenken über menschliches Leben, Erleben, Leiden, Lieben und Sterben. Der Religionsunterricht wird zu einem Fach, das in Tat und Wahrheit anregt zum Nachdenken und zur Mündigkeit. Hier wird nicht mehr nur ausschliesslich eine Religion präsentiert und mit Pseudo-Ritualen (Kerzen anzünden, Liedlein singen) angereichert.

In dieser Form lernen die Schüler*innen vielmehr, Verständnis für religiöse Handlungen und Glaubenswelten zu entwickeln. Sie lernen auf Gemeinsamkeiten achten (natürlich besonders bei den drei monotheistischen Geschwisterreligionen) und faktenbasiert erkennen.

Und es sind diese Gemeinsamkeiten, die Religionen immer wieder herunterspielen und dagegen die Unterschiede hervorkehren und für wichtig halten.

Und wenn die Schüler*innen dann mit den Grundsätzen ihrer eigenen Religion konfrontiert werden – falls sie das werden, muss ich hinzufügen -, werden sie unterscheiden können.

Sie werden das Ähnliche, das Menschliche, das Allgemeine zuerst sehen und dieses betonen. Sie werden jeglicher religiöser Gewalt und jeglicher Eingleisigkeit in Deutung oder Glauben widersprechen.

Und das, so hoffe ich immerhin, wird die Zukunft der Religionen friedlicher machen, weil den Menschen und ihrem Erleben und Leben noch immer stärker zugewandter.