Sterben die Rituale aus?

Nicht nur im fernen Osten verströmen Räucherstäbchen spirituelle Energie und verhelfen in individuellen Ritualen zu Besinnung und Tiefgang (mit Dank für das Bild an truthseeker08)

Das jüngste Buch des Publizisten und Philosophen Byung-Chul Han spricht ausdrücklich und eindringlich „Vom Verschwinden der Rituale“ und versucht sich an einer „Topologie der Gegenwart“.

Das düstere Bild einer Gesellschaft ohne Rituale?

In seinem Büchlein zeichnet Han ein düsteres, ja beängstigendes Bild einer Gesellschaft, die es in meinen Augen nicht (oder noch nicht) gibt. Angesichts unbestrittener Phänomene der Moderne: angesichts eines neoliberalen Paradigmas des Konsums, einer Verdinglichung und einer Tendenz, nicht nur menschliches Begehren und menschliche Vorstellungskraft, sondern den Menschen selbst (z.B. am Arbeitsplatz, aber auch im Shopping Center) zur Ware zu machen – angesichts einer pessimistischen Welt- und sicher auch Menschenbildes stellt sich jedoch die Frage, inwiefern der Philosoph richtig sieht, Recht hat.

Han sehnt sich ganz offensichtlich nach fernen, vergangenen Zeiten – goldenen Zeiten, „als noch alles gut war“. Er zeichnet ein halb archaisches, halb naives Vergangenheitsbild, in dem das Spiel um das Leben noch eines war (und nicht die virtuelle Realität eines Ego-Shooters), in dem Rituale Gemeinschaft schaffen konnten. Dies vor allem im engen, „provinziellen“, abgeschlossenen Kreis einer dörflichen, fast intimen Gesellschaft.

Den meisten dieser Behauptungen Hans lässt sich eine gewisse Wahrheit, eine gewisse Sinnhaftigkeit nicht absprechen. Es lässt sich nicht von der Hand weisen, dass unsere Gesellschaft in ihrer Kurzlebigkeit und Konsumorientiertheit die Stille, das „Einkehren“ oder (nach Han in Rückgriff auf Hegel!) „Einhausung“ zu vergessen droht.

Nicht umsonst beklagte sich ein namhafter katholischer Würdenträger jüngst über das Singverbot dahin gehend, dass es ohne das Singen eine wirklich „stille Stille Nacht“ geben würde. Die darin ausgedrückte Angst ist gewiss der Verlust an Gepränge und Gelärme durch das Weihnachtssingen, das Teil des heute selten besuchten Rituals eines Gottesdienstes sein soll.

Ein alltägliches Ritual ist auch ein Ritual

Doch gibt es ja – und da übersieht Han so einiges! – private und halböffentliche Rituale, die als Struktur- und Haltgeber fungieren. Das beginnt zuhause mit Gutenachtritualen und erstreckt sich über die Schule (voller Rituale) bis hin zu Smalltalk vor und nach einem geschäftlichen Treffen.

Selbst wenn unsere Leben inzwischen säkularisiert und die meisten Rituale nicht mehr „nach oben“ oder „an Gott“ gerichtet sind, erfüllen sie ihren Zweck.

Ein Beispiel? Wenn ich meine Stunden nicht mit Ritualen rhythmisieren würde, verlören sich die Schuler*innen in ihnen, hätten nicht die Übersicht über den Ablauf der Lektionen und könnten sich weder „einfinden“ in der Lektion noch „zuhause fühlen“. Und so ein Ritual kann ein einfaches Kerzenanzünden und -Ausblasen am Anfang und Ende der Lektion sein!

Und ich bin überzeugt, dass es in den Haushalten rund um mich ebenso wie in meinem von Ritualen wimmelt. Also von zeremoniell getönten, wiederkehrenden Handlungen mit grossem symbolischen Gehalt. Han hat nämlich durchaus recht, dass eine solche Handlung uns Halt und „Haus“ gibt.

Und vergessen wir nicht all die persönlichen, individuell-idiosynkratischen Rituale! Ich z.B. bete jeden Morgen vor dem Verlassen meiner Wohnung vor einem kleinen Bild der Schwarzen Maria von Tschenstochau ein Ave Maria, das mir meinen Tag zusammenhalten und mich darin bewahren soll. Oder denken wir an all die Fussballer, die sich beim Betreten des Rasens bekreuzigen oder nach dem Torschuss in den Himmel zeigen!

Dass die Rituale aber aussterben, ist eine fast wahnhafte These angesichts der Dringlichkeit von verbindenden, kommunikativ offenen Ritualen in Zeiten von Corona, das alle gängigen alltäglichen Rituale (vom Handschlag über den Wangenkuss bis zu familienübergreifenden Feiern) bedroht.

Die Hohlheit der Rituale als Grundbedingung und Gefahr

Die Angst der Kirchen vor der Aushöhlung einer Festtagstradition wie der Weihnachtsmesse ist wiederum durchaus berechtigt. Wie der Philosoph Konrad Paul Liessmann in einem Gespräch mit Barbara Bleisch erklärt („Die Kraft der Rituale„, 25.11.20), ist die Hohlheit der Rituale ihre „Essenz“: die Gemeinschaft muss sie in ihrer Begehung, in ihrer Durchführung jedes Mal neu „füllen“.

In unsere säkularisierten Zeit aber werden die religiösen Rituale christlicher Gemeinschaften zunehmend „brüchig“ (wie das Liessmann nennt): sie sind nur noch hohle Formeln, deren „Füllung“ von den meisten Menschen nicht mehr geteilt und/oder verstanden werden. 

Dass dem so ist, zeigt sich immer wieder an der Eucharistie. Die meisten U-Boot-Christen – und ich rede aus Erfahrung – verstehen die komplizierte Gestik und Lexik nicht mehr. (Die Frage ist vielmehr: Wann haben es die „Laien“ je verstehen gelernt – oder sollten sie bewusst in Unwissen gehalten werden?) Was da „theäterlet“ wird am Altar vorne, das gehört irgendwie zu diesem bunten, mystisch und geheimnisvoll angehauchten Rätsel des Kirchengangs. Das hat nicht nur mit dem eigentlichen Geschehen zu tun (der Wandlung: wer kann das schon so ganz und gar verstehen!), sondern auch mit der vetusten, anachronistischen Sprache.

Ein solches Ritual ist vielleicht in den Augen der Zeremonienmeister nicht hohl. Und gewiss gibt es (noch!) genügend Kirchgänger*innen, die sich noch „auskennen“ und sich noch „einfinden“ können im Ritual. Doch selbst ich, der Bescheid weiss und durchaus glaubt, werde kalt gelassen von seiner starren, hoch-heiligen Form.

Selbst ich befinde ich mich in der Kirche in einer blossen Nachahmung der Form, nicht aber in einer körperlichen, ja weniger noch geistigen Nachempfindung oder einem Nach- und Miterleben. Auch finde ich mich nicht über die Form des Rituals mit den anderen Mitfeiernden verbunden: ich fühle mich weder angesprochen noch angehoben oder aufgehoben dadurch, und der Singsang und das halbherzige Singen können mich nicht tragen, da kann ich noch so inbrünstig singen und psalmodieren.

Die hohlen Rituale der Religion schreien nach Ablösung, wollen ersetzt werden

Im Gegensatz zu Han komme ich also zu einem andern Schluss:

  1. Dass die Rituale in unserer Gesellschaft am Aussterben sind, möchte ich vehement bestritten haben. Ganz im Gegenteil!
  2. Dass die religiösen Rituale in unserer Gesellschaft am Aussterben sind, ist etwas ganz und gar Gutes. Denn dank ihrer Hohlheit und ihrer Irrelevanz kann und soll sich (hoffentlich!) etwas Neues, ein neues Panoptikum an Ritualen geistlicher und religiöser Tradition bilden. Das Absterben dieser Rituale kann neue Energien und Fantasien freisetzen. 

Nachsatz zu Punkt 2:

Dass sich dafür die Struktur der katholischen Kirche zuerst auflösen und zerbröseln muss, steht auf einem ähnlichen Blatt. Erst wenn es keine Priester mehr gibt, keinen Papst, wird der christliche Glauben wieder aufblühen können. Wenn jeder von uns, wie es in der Offenbarung so schön steht, ein Priester*in ist und am Königtum Gottes teilhat, dann erst wird die Kirche wenn überhaupt sein!

Arbeit – Lohn und Leben (Teil 1)

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Eine „Unberührbare“ oder (wie Gandhi es nannte) ein „Gotteskind“ beim Strassenfegen; die „Unberührbaren“ nennen sich selbst – „dalit“, die „Unterdrückten“…


Mein Vater hat 45 Jahre in der gleichen Firma gearbeitet, bis er mit 65 in Pension gegangen ist. Er hat sein ganzes Leben, obwohl in einer für Schweizer Verhältnisse grossen Stadt aufgewachsen, in einem Städtchen auf dem Land verbracht.
Seine Arbeitsweise hat mich als Kind mit Bewunderung und Erstaunen erfüllt – einerseits sicherlich, weil ich mir nicht vorstellen konnte, was er über 8 Stunden am Tag „auf der Arbeit“ wohl oder übel „anstellen“ konnte, aber auch, weil es ihm nicht wichtig schien und scheint, von sich und seiner Tätigkeit viel Aufhebens zu machen; und mir daher andererseits der Mangel an Begeisterung auffiel, mit der er sich auf den Weg zur Arbeit machte – ich mochte nicht immer einfache Tage in der Schule haben (Prüfungen und Konflikte), aber doch war die Schule mein Leben, mehr noch (wie ich später bei meinen eigenen Kindern erkennen konnte) – mein Privatleben.
Die Arbeit meines Vaters war Pflichterfüllung und Selbstdisziplinierung. Seine Arbeit war Mittel zum Zweck: sein Lohn hielt uns am Leben und ermöglichte uns und ihm Ausflüge und Ferien, während derer man „aufleben“ konnte.
Ich bewundere und bestaune diesen Pragmatismus auch heute noch. Und meine und seine Geschichte, das weiss ich, ist keine Seltenheit – ist die durchaus mitteleuropäische Vater-Sohn-Geschichte: viele meiner Bekannten und Freunde würden Ähnliches erzählen, manche leben sogar fast ein gleiches Arbeits-„Leben“…

Dies ist der erste Teil einer mehrteiligen Serie, in der ich mir (ausgehend von einer Diskussion in der Familie und mit Freunden, angestossen u.a. von einem Artikel in dem Schwestermagazin des Economist, 1843) theologische und ethische Gedanken stellen werde – alle zum Thema der Arbeit: in unserem Leben, als Teil und als Fremdkörper in unserem Leben, aber auch – über ihren Lohn und ihre Entlöhnung. 

Glaubensworte: verkopft

Seit ich in der Katechese und auch in der liturgischen Arbeit tätig bin, ist ein mir vorher unbekanntes Wort an mich heran getreten. Ein Wort, das mich charakterisieren soll. Es schillert im Graubereich zwischen Achtung und Kritik. Ich sei „verkopft“ heisst es häufig.

Damit soll im Extremfall ausgedrückt werden, ich sei nicht mit „Leib und Seele“ oder noch schöner, nicht mit „Herz und Seele“ dabei. „Verkopft“ kann aber auch meinen, dass ich nicht mit dem Herzen, dem Gefühl, mit Emphase an die theologischen und religiösen Stoffe herangehe, sondern eben: nur mit und über den Kopf.

Diese Aussage wirft in meiner Perspektive auch ein Licht auf diejenigen, die sie tun: wer jemand „Verkopftheit“ vorwirft, fürchtet sich u.U. vor intellektuellen Auseinandersetzungen, vor schwierigen Themen. Ja, vielleicht befürchtet sie oder er sogar, wenn er oder sie nachdächte, verlöre sie etwas von der Tiefe oder Höhe des Glaubens, von seiner Unmittelbarkeit, von seiner Unschuld und Naivität. Was ja auch wiederum bedeutete, dass Glauben etwas für Unschuldige, Naive und Herzliche ist, für „Gefühlige“ und „Gespürige“.

Oh, und hier geht es gar nicht um mich. 

Es geht um das Wort. Und was es bedeutet für unseren Glauben, für unsere Glaubenswelten. Wie es auf und in die Welt wirkt, die wir über unseren Glauben gestalten (können oder könnten).

Verkopfung findet dort statt, wo der Glauben kopfgesteuert, wo der Glauben keine Empfindung oder Haltung, sondern eine blosse ethische oder theologische Reflexion ist. Eine Reflexion zudem, die jeder denkende Mensch nachvollziehen kann, die aber schwer nachzuleben ist. 

Verkopfung ist demnach eine Form von Religiosität und Theologie, die eine Gefahr in sich birgt: die Ablösung des Handelns vom Denken, des Sehens vom Urteilen und daher Handeln. (Die Befreiungstheologie lässt grüssen.)

Ich will diese Gefahr nicht minimieren oder kleinreden.

Nein, ganz unbegründet ist die Angst vor einer überhand nehmenden Rationalität nicht. Immerhin ist die ganze neoliberale Bewegung eine Zahlenquetscher-Bewegung, und wenn man die Welt nur noch kalkulierend wahrnimmt und interpretiert (denn erleben kann man nicht kalkulierend), wird sie das, was sie jetzt ist. 

Aber das wäre Verkopfung oder Verkopftheit falsch verstanden – oder wenigstens nur teilweise.

Die Neoliberalen würden niemals auf die Idee kommen, sich als verkopft zu bezeichnen. Bei ihnen kommt das „aus dem Bauch heraus“, siehe übrigens auch die SVP. (Lese oder verstehe: „aus dem Bauch heraus“ ist „richtiger“ – aber nicht notwendigerweise „wahrer“ – als „aus dem Kopf“.)

Also konzentrieren wir uns doch darauf, was genau diese Menschen sagen wollen, wenn sie jemand als verkopft bezeichnen. 

Denn es geht nicht um die Tiefe des Glaubens allein. Die Tiefe des Glaubens erreichen ja die wenigstens (der Autor mit eingeschlossen), es geht darum, dass Nachdenken nicht nur eine Herausforderung ist, sondern dass im Nachdenken auf einmal Veränderungen nötig werden: wer nachdenkt (und um I-Ah zu zitieren: denken, wenn ihr wisst, was ich meine), lernt Ehrlichkeit sich selbst und anderen gegenüber. 

Ab einem gewissen Moment in der menschlichen Entwicklung ist diese Ehrlichkeit nicht mehr erwünscht, dann funktioniert der von mir so getaufte „Lamborghini-Effekt“ (oder „PS4-Effekt“): Die schillernden Güter der Welt locken zu stark (in unserer hiesigen Wohlstandswelt sowieso), als dass die eigentlichen „Basics“, die Grundprinzipien des Lebens und der Gesellschaft noch funktionierten. 

Zwei Beispiele: 

  • Vor einigen Monaten habe ich zwei Jugendlichen in der S-Bahn zugehört. Der eine der beiden war vollkommen traurig, weil sein Auto in einem unbedenklichen Unfall dennoch zu Schrott gefahren war. Der andere versuchte ihn zu trösten. Dabei fiel einmal der Satz, „Hey, ohne mein Auto bin ich imfall gar nichts, das Auto ist mein Ein-und-Alles.“
  • Bei einer Uebung in der Religionsstunde (5. Klasse) ging es darum, die Liebsten und gleichzeitig auch die für das menschliche Leben wertvollsten Dinger „auf eine Insel“ mitzunehmen. Den Mädchen der Klasse fiel es nicht schwer, die wichtigen Dinge und Personen zu nennen, die sie mitnähmen; die Jungs hingegen nahmen Dinge wie Stromgeneratoren mit, um auf ihrer PS4 spielen zu können, und keine einzige Person. 

Was will ich damit sagen?

Ich glaube, dass der Vorwurf der Verkopfung nur gemacht werden kann, wenn nicht gerne genug „tief“ gedacht wird. Und denken ist im Gegensatz zur weit verbreiteten Vorstellung eine ganzheitliche menschliche Handlung und Haltung: auch die Gefühle spielen da sehr wohl mit, der oben benannte „Bauch“. 

Denken und Fühlen muss eine Einheit sein, die beiden Akte sollen sich ergänzen können. 

Und wenn Denken und Fühlen sich die Hände reichen, entsteht der Impuls zu Veränderung. 

Anders gesagt: Fühlen und Denken gleichzeitig führt zu einem Handeln, das verändern will, ja, weil durchdacht, verändern muss.

Oder, um mit den Worten des italienischen Rappers Lorenzo zu sprechen: 

Cerca di essere uomo prima di essere gente.

Und ich wäre am Ende dieses Blogeintrags fast versucht zu sagen: 

Ich wünsche mir mehr Kopfgeburten, und weniger Bauchgeburten!

Glaubensworte: Annehmen

Es gibt Wörter, die zur fixen Idee werden. Sie lassen nicht mehr los. Einerseits will ich sie immer gebrauchen, immer anwenden; sie sollen alle Bereiche meines Lebens durchdringen. Daraus kann sich andererseits eine Art Hassliebe entwickeln. Der Gebrauch nutzt die Wörter allmählich ab. Sie werden alltäglich. Sind sie dann nicht mehr wirksam? Vielleicht werden sie dann erst recht nötig und benötigt?

Andere Wörter bieten sich von aussen an. Sie sind „Fremdwörter“, weil ich sie zuerst für mich anwenden lernen muss. Lange bleiben sie so: entweder negativ belastet und vorbelastet oder aber unverstanden.

Und irgendwann, urplötzlich scheinbar, sind sie „mein“ geworden. Ich brauche sie dann sehr häufig und sehe hin und wieder die verwunderten Gesichter der andern, die mit ähnlichen „Anfangsvorurteilen“ zu kämpfen haben, wenn sie mich diese Wörter fast schon inflationär gebrauchen hören.

Ein solches Wort ist für mich im Laufe des vergangenen Jahrs „annehmen“ geworden.

Dieses Wort war für mich lange Zeit mit den Gutmenschen verbunden, die ja immer so ach empfindsam, emphatisch und irgendwie unerlaubt offen und akzeptierend sind. (Übrigens heisst das nicht, dass sie tolerant sind; diese Gutmenschen haben genauso ihre Prinzipien wie „unsereins“.)

Das Wort ekelte mich fast an, ähnlich wie dieses andere, von der „Achtsamkeit“.

Es bedeutete mir nichts, weil ich es nicht zu mir liess, nicht zuliess.

Doch irgendwann muss in mir etwas geschehen sein, das dieses Wort in den absoluten Vordergrund meines Denkens und Glaubens gerückt hat.

Ich denke inzwischen, es war meine Beschäftigung mit den letzten Tagen von Dostojewski, die einen ersten Impuls gesetzt hat. Dieser soll nämlich auf seinem Sterbebett gewünscht haben, dass seine Frau aus seiner geliebte „Tobolsker Bibel“ lese. Wie seine Frau berichtete, diente ihm die Bibel oft als eine Art Kompass. Auch auf dem Sterbebett soll das so gewesen sein. Wie durch ein Wunder soll die Stelle im 3. Kapitel des Matthäus-Evangeliums aufgeschlagen worden sein, in der sich Johannes (eine zentrale Figur für Dostojewski, wie ich glaube) weigert, Jesus zu taufen:

 Johannes aber wollte es nicht zulassen und sagte zu ihm: Ich müsste von dir getauft werden, und du kommst zu mir? Jesus antwortete ihm: Lass es nur zu! Denn nur so können wir die Gerechtigkeit ganz erfüllen. Da gab Johannes nach. (Mat 3, 14-15; EÜ)

Dieses Nachgeben, dieses Zulassen, von dem sich Dostojewski angerufen fühlte ­– das ihn aufrief, sein Sterben „anzunehmen“ –, das ist vermutlich die Initialzündung für meine Fetischisierung des Wortes „annehmen“.

Doch was heisst dieses „annehmende“ Leben, diese Lebensweise, die annimmt?

Letzthin musste ich schmunzeln, als ich bei der Vorbereitung einer Religions-Stunde, in der es um die Realisierung von Träumen ging, auf eine Webseite gestossen bin, die in 5 Schritten zur „Verwirklichung des Traums“ zu führen vorgibt.

Und nach dem Schmunzeln musste ich nicken, denn da steht doch tatsächlich jener fast primordiale, alles überscheinende Punkt für meine „Theorie des Annehmens“:

Akzeptiere deine Vergangenheit mit ganzem Herzen

Das ist es ja. Ja, das ist es.

Nur wem es gelingt, seine Vergangenheit mit allem Schönen und vor allem mit allem Scheusslichen und Schuldigen anzunehmen, voll zu dieser Vergangenheit zu stehen – nur diesem ist der Schritt ins Annehmen vergönnt. Wer nicht zu seiner Vergangenheit stehen kann, wer nur einen Teil seiner Vergangenheit – und wenn wir schon dabei sind, auch seiner Gegenwart! – akzeptiert (und den „schlechten“ Rest nur „toleriert“), der wird nie in einen Zustand gelangen, der ihm das Annehmen erlaubt.

Annehmen meint also:

  • Die eigene Identität als einzige, wahrhafte zu verstehen. Es gibt keine andere, imn Abwendung oder im Gegensatz zur jetzt gelebten anzustrebende Identität; wohl aber andere Wege als die bisher eingeschlagenen! – Ich glaube auch, dass dies der einzige Weg ist, sich der Sündhaftigkeit einerseits bewusst zu werden und sie andererseits aus dieser Bewusstheit heraus mindern zu können.
  • Das „Schlechte“, „Böse“ nicht verdrängen, sondern es als Teil von Gottes Welt zu verstehen. Dass „Böses“ und „Schlechtes“ geschieht, vielleicht geschehen muss, so schrecklich dieser Nebensatz ist, gehört zu dieser Schöpfung. Diese „Spiegelungen“ des „Guten“, wie ich sie nennen möchte, diese „Widerbilder“ des Guten entstehen aus der Freiheit heraus, die uns Gott im Anfang geschenkt hat. – Auch das von mir ausgehende Böse und Üble kann ich so erkennen. Es kann jedoch niemals das „Schöne“ und „Gute“ negieren; das wird ihm nur gelingen, wenn ich mich gegen das „Böse“ und „Schlechte“ in und an mir wehre.
  • Annehmen ist weder rückwärtsgewandt noch fatalistisch. Es ermöglicht im Rück- und Jetztblick einen Zukunftsblick und eine Zukunftswelt, die sich vielleicht nicht einmal tiefgreifend verändert hat oder verändern lässt, aber doch eine grössere Freiheit verspricht.

Und dieses Annehmen ist ein ganzheitliches. (Auch dieses „ganzheitlich“ ist so ein Ekelwort wie es das „annehmen“ einmal war…) Es erstreckt sich auf alle Aspekte des eigenen Lebens, der eigenen Person und umfasst sie gleichzeitig.

Aber es ist, und das ist ein wichtiger Punkt, wie alle menschlichen Haltungen und Verhaltensweisen, nicht ein Zustand, der andauert. Es ist eine Haltung, die immer wieder von neuem eingeübt, eingenommen und praktiziert werden muss; und in gewissen Situationen leichter als in anderen fällt.

Mit dem Annehmen ist es letztlich ein wenig wie mit der Nachfolge, diesem hohen Anspruch für jeden Christen: Nachfolge ist ein momentaner und affektgesteuerter Zustand und keine Wesensart. Oder vielleicht doch?

 

Perfekt will ich nicht sein

Herr ich bin nicht perfekt und will es nicht sein.
Meine Fehler sind ich. Ich nehme sie an.
Immer könnt ich fliehen fürchten mein Sein.
Herr ich bin nicht perfekt und will es nicht sein.
Immer wär ich im Schein und immer nah dran —
Lief ich lang oder kurz ich käme nie an.
Herr ich bin nicht perfekt und will es nicht sein.
Meine Fehler sind mir  — ich tu’ was ich kann.

Wer vergibt dir? Ein Psychogramm

Du hast einen Fehler gemacht.

Nehmen wir an, einen gravierenden. Vielleicht sogar einen Fehler, der das Leben eines Menschen, ja eines Kindes, in Gefahr hätte bringen können.

Aber alles ist nochmal gut gegangen.

Du bereust diesen Fehler.

Er ist nicht ungeschehen zu machen.

Du hast nur deine Reue – und vielleicht noch das Wissen darum, dass trotz dieses Fehlers nichts Schlimmes passiert ist.

Du hast nur deine Reue – und du willst ihr auch nicht ausweichen, so stark es in dir murrt, die Schuld abzugeben, auf andere Schultern zu verteilen als deine allein.

Du bist versucht, dies zu tun: die Schuld von dir zu weisen.

Doch das, was man gemeinhin Gewissen nennt, hindert dich daran.

Es sagt: stehe hin und stehe dazu.

Doch die Reue allein ist keine Hilfe. Die Reue allein bringt keine Linderung.

Die Schuld ist wie eine juckende Entzündung, ein eingewachsener Nagel im Körper deiner Seele, irgendwo auf ihrem Rücken, wo du alleine nicht hinlagen kannst.

Du hast also Vergebung nötig – genau wie der oder die Leidtragende deines Fehlers ein Recht auf deine ehrliche Entschuldigung hatte, die du bereitwillig und ernshaft zerknirscht und ohne Zögern geleistet hast. (Das muss man dir doch zugute halten!)

Aber du bist damit nicht ent-schuldigt: die Schuld ist deine und bleibt bei dir – das ist schon recht so…!

Du erhoffst Vergebung, du ersehnst sie.

Jemand soll sie dir geben.

Jemand soll dich hören – die oder der Leidtragende, Geschädigte ist selten bereit zu vergeben… Die Menschen heute, das weisst du inzwischen, wollen Strafe statt Vergebung; siehe die ganzen Verwahrungs- und Abschiebungs-Initiativen…

Heute wird der Stab über dir gebrochen, Vergebung erhältst du nicht.

Du könntest Vergebung erbitten, wenn nötig sogar erbetteln.

Du fürchtest aber um deine Würde, dein Ansehen.

Denn gewiss, du hast einen Fehler begangen – aber du hast doch bereut und du hast dich entschuldigt?!

Er ist nicht ungeschehen zu machen.

Du glaubst, allein durch die Vergebung sei er ungeschehen zu machen.

Du müsstest dich demütigen, so scheint es dir. Dich erniedrigen, um wirklich so tief zu fallen, wie du durch den Fehler gefallen bist — auf eine Ebene zu kommen mit deinem Fehler, deiner Verfehlung.

Und darin bist du modern, moderner Mensch: Demut ist dir fern — fremd und fern.

Du möchtest Vergebung sofort.

Dir muss jetzt verziehen werden.

Du willst dieses Jucken nicht länger mehr ertragen müssen.

Würdest du daraus lernen, wenn dir vergeben würde?

Hast du denn schon alle Schritte unternommen, die zur Erlangung der Vergebung nötig sind?

Kennst du diese Schritte überhaupt (noch)?

Der andere, der von deinem Fehler Betroffene, könnte dir verzeihen, aber er ist verletzt, vielleicht mehr als verletzt — verwundet, leckt seine Wunden, spürt noch lange seine Schmerzen, hinkt dahin — etwa wie deine Seele am Rücken?!

Wage es nicht, so zu denken!

Was für ein Leben!

Bei niemand wirst du Vergebung erlangen.

Vielleicht mildert Gottes Wort dein Jucken ein wenig, bis er erstirbt im Alltag der verlässlichen Handlungen….

Vielleicht mildert dein Wort zu Gott dein Jucken ein wenig, als vergebe jemand dir, bevor es übertönt wird von den alltäglichen Schmerzen…

Unfair!

I

Geht es auch anders?
Da gibt es nichts zu verstehen!

Wenn die Wörter anderes heissen
als was sie bedeuten!

Vom Brot reden und nicht Brot meinen?
Vom Wasser reden und nicht Wasser meinen?

Das ist nicht fair!

Es muss doch
anders gehen:
mit klaren Worten ohne Stiegen
nicht von oben herab:
Von unten herauf!

Das Wort sollte doch
keine Umwege übers Hirn nehmen:
direkt ins Herz gelangen…

Ein schmerzender Regentropfen:
ein heisser Regentropfen…

Das ist doch unfair!

So zu reden geht gar nicht
im Scherz vielleicht aber nicht
in echt jetzt: das wirste ja
zu Pilatus:

„Was ist Wahrheit?“

II

Genau – so zu reden ist
nicht nur unfair: gehört verboten.

Was du sagen willst
sage es mit Worten
die du nicht anhebst
mit Worten die du nicht
fremder machst als ohnehin oder
sowieso schon…

Meinst du Wasser sage
das was wir eigentlich brauchen
aber nicht bereit sind
einzufordern.

Meinst du Brot sage
das was wir eigentlich lieben
aber nicht bereit sind
zu verteilen.

Meinst du Wahrheit sage
das was wir eigentlich wissen
aber nicht bereit sind
selbst in die Hände zu nehmen.

Meinst du Licht sage
das was wir eigentlich sehen
aber nicht bereit sind
wahrzunehmen.

Das würde jeder Bauer verstehen:
und wenn nicht
hättest du ihn weniger
hinters Licht geführt
weniger vom Ofen weg
weniger vom Brunnen weg
und weniger vom Weg weg:

den zu gehen du weisst
den zu gehen du brauchst
den zu gehen du liebst
den zu gehen du siehst.