Das jüngste Buch des Publizisten und Philosophen Byung-Chul Han spricht ausdrücklich und eindringlich „Vom Verschwinden der Rituale“ und versucht sich an einer „Topologie der Gegenwart“.
Das düstere Bild einer Gesellschaft ohne Rituale?
In seinem Büchlein zeichnet Han ein düsteres, ja beängstigendes Bild einer Gesellschaft, die es in meinen Augen nicht (oder noch nicht) gibt. Angesichts unbestrittener Phänomene der Moderne: angesichts eines neoliberalen Paradigmas des Konsums, einer Verdinglichung und einer Tendenz, nicht nur menschliches Begehren und menschliche Vorstellungskraft, sondern den Menschen selbst (z.B. am Arbeitsplatz, aber auch im Shopping Center) zur Ware zu machen – angesichts einer pessimistischen Welt- und sicher auch Menschenbildes stellt sich jedoch die Frage, inwiefern der Philosoph richtig sieht, Recht hat.
Han sehnt sich ganz offensichtlich nach fernen, vergangenen Zeiten – goldenen Zeiten, „als noch alles gut war“. Er zeichnet ein halb archaisches, halb naives Vergangenheitsbild, in dem das Spiel um das Leben noch eines war (und nicht die virtuelle Realität eines Ego-Shooters), in dem Rituale Gemeinschaft schaffen konnten. Dies vor allem im engen, „provinziellen“, abgeschlossenen Kreis einer dörflichen, fast intimen Gesellschaft.
Den meisten dieser Behauptungen Hans lässt sich eine gewisse Wahrheit, eine gewisse Sinnhaftigkeit nicht absprechen. Es lässt sich nicht von der Hand weisen, dass unsere Gesellschaft in ihrer Kurzlebigkeit und Konsumorientiertheit die Stille, das „Einkehren“ oder (nach Han in Rückgriff auf Hegel!) „Einhausung“ zu vergessen droht.
Nicht umsonst beklagte sich ein namhafter katholischer Würdenträger jüngst über das Singverbot dahin gehend, dass es ohne das Singen eine wirklich „stille Stille Nacht“ geben würde. Die darin ausgedrückte Angst ist gewiss der Verlust an Gepränge und Gelärme durch das Weihnachtssingen, das Teil des heute selten besuchten Rituals eines Gottesdienstes sein soll.
Ein alltägliches Ritual ist auch ein Ritual
Doch gibt es ja – und da übersieht Han so einiges! – private und halböffentliche Rituale, die als Struktur- und Haltgeber fungieren. Das beginnt zuhause mit Gutenachtritualen und erstreckt sich über die Schule (voller Rituale) bis hin zu Smalltalk vor und nach einem geschäftlichen Treffen.
Selbst wenn unsere Leben inzwischen säkularisiert und die meisten Rituale nicht mehr „nach oben“ oder „an Gott“ gerichtet sind, erfüllen sie ihren Zweck.
Ein Beispiel? Wenn ich meine Stunden nicht mit Ritualen rhythmisieren würde, verlören sich die Schuler*innen in ihnen, hätten nicht die Übersicht über den Ablauf der Lektionen und könnten sich weder „einfinden“ in der Lektion noch „zuhause fühlen“. Und so ein Ritual kann ein einfaches Kerzenanzünden und -Ausblasen am Anfang und Ende der Lektion sein!
Und ich bin überzeugt, dass es in den Haushalten rund um mich ebenso wie in meinem von Ritualen wimmelt. Also von zeremoniell getönten, wiederkehrenden Handlungen mit grossem symbolischen Gehalt. Han hat nämlich durchaus recht, dass eine solche Handlung uns Halt und „Haus“ gibt.
Und vergessen wir nicht all die persönlichen, individuell-idiosynkratischen Rituale! Ich z.B. bete jeden Morgen vor dem Verlassen meiner Wohnung vor einem kleinen Bild der Schwarzen Maria von Tschenstochau ein Ave Maria, das mir meinen Tag zusammenhalten und mich darin bewahren soll. Oder denken wir an all die Fussballer, die sich beim Betreten des Rasens bekreuzigen oder nach dem Torschuss in den Himmel zeigen!
Dass die Rituale aber aussterben, ist eine fast wahnhafte These angesichts der Dringlichkeit von verbindenden, kommunikativ offenen Ritualen in Zeiten von Corona, das alle gängigen alltäglichen Rituale (vom Handschlag über den Wangenkuss bis zu familienübergreifenden Feiern) bedroht.
Die Hohlheit der Rituale als Grundbedingung und Gefahr
Die Angst der Kirchen vor der Aushöhlung einer Festtagstradition wie der Weihnachtsmesse ist wiederum durchaus berechtigt. Wie der Philosoph Konrad Paul Liessmann in einem Gespräch mit Barbara Bleisch erklärt („Die Kraft der Rituale„, 25.11.20), ist die Hohlheit der Rituale ihre „Essenz“: die Gemeinschaft muss sie in ihrer Begehung, in ihrer Durchführung jedes Mal neu „füllen“.
In unsere säkularisierten Zeit aber werden die religiösen Rituale christlicher Gemeinschaften zunehmend „brüchig“ (wie das Liessmann nennt): sie sind nur noch hohle Formeln, deren „Füllung“ von den meisten Menschen nicht mehr geteilt und/oder verstanden werden.
Dass dem so ist, zeigt sich immer wieder an der Eucharistie. Die meisten U-Boot-Christen – und ich rede aus Erfahrung – verstehen die komplizierte Gestik und Lexik nicht mehr. (Die Frage ist vielmehr: Wann haben es die „Laien“ je verstehen gelernt – oder sollten sie bewusst in Unwissen gehalten werden?) Was da „theäterlet“ wird am Altar vorne, das gehört irgendwie zu diesem bunten, mystisch und geheimnisvoll angehauchten Rätsel des Kirchengangs. Das hat nicht nur mit dem eigentlichen Geschehen zu tun (der Wandlung: wer kann das schon so ganz und gar verstehen!), sondern auch mit der vetusten, anachronistischen Sprache.
Ein solches Ritual ist vielleicht in den Augen der Zeremonienmeister nicht hohl. Und gewiss gibt es (noch!) genügend Kirchgänger*innen, die sich noch „auskennen“ und sich noch „einfinden“ können im Ritual. Doch selbst ich, der Bescheid weiss und durchaus glaubt, werde kalt gelassen von seiner starren, hoch-heiligen Form.
Selbst ich befinde ich mich in der Kirche in einer blossen Nachahmung der Form, nicht aber in einer körperlichen, ja weniger noch geistigen Nachempfindung oder einem Nach- und Miterleben. Auch finde ich mich nicht über die Form des Rituals mit den anderen Mitfeiernden verbunden: ich fühle mich weder angesprochen noch angehoben oder aufgehoben dadurch, und der Singsang und das halbherzige Singen können mich nicht tragen, da kann ich noch so inbrünstig singen und psalmodieren.
Die hohlen Rituale der Religion schreien nach Ablösung, wollen ersetzt werden
Im Gegensatz zu Han komme ich also zu einem andern Schluss:
- Dass die Rituale in unserer Gesellschaft am Aussterben sind, möchte ich vehement bestritten haben. Ganz im Gegenteil!
- Dass die religiösen Rituale in unserer Gesellschaft am Aussterben sind, ist etwas ganz und gar Gutes. Denn dank ihrer Hohlheit und ihrer Irrelevanz kann und soll sich (hoffentlich!) etwas Neues, ein neues Panoptikum an Ritualen geistlicher und religiöser Tradition bilden. Das Absterben dieser Rituale kann neue Energien und Fantasien freisetzen.
Nachsatz zu Punkt 2:
Dass sich dafür die Struktur der katholischen Kirche zuerst auflösen und zerbröseln muss, steht auf einem ähnlichen Blatt. Erst wenn es keine Priester mehr gibt, keinen Papst, wird der christliche Glauben wieder aufblühen können. Wenn jeder von uns, wie es in der Offenbarung so schön steht, ein Priester*in ist und am Königtum Gottes teilhat, dann erst wird die Kirche wenn überhaupt sein!