Christus, der Frauen-Unterdrücker

Christ! ô Christ, éternel voleur des énergies,
Dieu qui pour deux mille ans vouas à ta pâleur,
Cloués au sol, de honte et de céphalalgies,
Ou renversés, les fronts des femmes de douleur.

(Rimbaud, „Les premières communions“, Juli 1871)

Christus! o Christus, Dieb, der ewig unsere Kraft entwandte,
Gott, der zweitausend Jahre seiner Blässe hat geweiht,
Am Boden festgebannt, in Kopfschmerz und in Schande,
Oder emporgereckt, der Frauen Stirn in Leid!

(übersetzt von Thomas Eichhorn, 1997)

krist! oh krist, ewiger dieb der kräfte,
kranker gott: du hast vom schmerz der frauen
– am boden genaGELT, von scham und migräne zerrissen –
seit 2000 jahren verflucht
gut gelebt!…

(übersetzt von Hans Therre und Rainer G. Schmidt, 1988)

„Aufhören zu siegen“

Ich bin nicht gerade ein Liebhaber der Radiopredigt, wache aber sonntags meist mit ihr auf. Heute hat sie mich speziell angesprochen und beeindruckt.

Sie erzählt von der Hoffnung, sich der Liebe und der Endlichkeit übergeben und damit leben zu können.

Hier der Link zur Radiopredigt von Theologin Adrienne Hochuli Stillhard.

Weder Wettkampf noch Wachstum

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Dieser Blog ist auch ein Bericht über meine persönliche Entwicklung im Glauben. Im Anfang habe ich daran gar nicht gedacht. Wie für die meisten Menschen erscheine ich mir als eine Person / Persönlichkeit, die in sich gefestigt und “fertig” geformt ist. (Allerdings möchte ich diese “Festigung” nicht festhalten, sondern ständig wieder aufbrechen.)

Rückblickend habe ich das letzte Thema des Scheiterns bereits einmal angetippt (im Blogeintrag “Annahme und Widerstand”). Darin formulierte ich eine spekulative Einsicht: Nimmt man störende, irritierende oder falsche Entwicklungen und Geschehnisse an als etwas, das zu einem selbst und somit zum eigenen Lebenslauf notwendig dazu gehört, leistet man Widerstand.

Ich schrieb damals als zentrale Botschaft folgendes:

Jemand, der annimmt, was ihm in Ungerechtigkeit geschieht, nimmt dem Ungerechten und Mächtigen seine Macht.

Passiv ist aktiv

Dies ist einerseits eine zutiefst biblische Erkenntnis. Denken wir nur an die absolut entwaffnende Frage Jesu an den Soldaten, der ihn geohrfeigt hatte: “Warum schlägst du mich?

Und andererseits ist sie in zahlreichen Beispielen von politischen oder gesellschaftlichen Kämpfen bewährt und in gewisser Weise bewiesen worden: von den Sit-ins der Studenten in den 68-er und 70-er Jahren bis zurück zu Gandhis “Satyagraha”-Widerstandsgedanke.

Ich denke auch an Tolstois – für mich als Jugendlicher besonders prägende – Satz aus seinem “Aufruf an das arbeitende Volk” (1909):

Und die Gewalt, welche die Regierung zu dem Zweck gebraucht, wird von euch selbst geliefert.

Der logische Schluss daraus ist, dass die Regierung, ja das Land und Volk aufhört zu existieren in dem Moment, da die Menschen sie oder es nicht mehr mittragen. Das ist ein sehr revolutionärer Gedanke: Würden wir alle zusammen uns weigern, das Milizsystem des Schweizer Militärs zu unterstützen, niemand könnte uns dazu zwingen. Dass dieser Umsturz  in der Geschichte erst ein paar Male passiert ist (und auch da ist es zweifelhaft, ob diese Bewegung “von unten” kam), schmälert die Wahrheit dieser Maxime nicht im Geringsten.

Doch geht es mir in erster Linie hier nicht um gesellschaftliche oder politische Befreiung oder Bewegung, sondern um eine inner-menschliche Bewegung und Befreiung. Diese von aussen gesehen passive Haltung widerstrebt den aktiven Ansprüchen und Erwartungen der äusseren Welt dermassen, dass sie eine aktive, widerständige Haltung ist.

Nicht nur nicht rennen…

Wisst ihr nicht, dass die Läufer im Stadion zwar alle laufen, aber dass nur einer den Siegespreis gewinnt? Lauft so, dass ihr ihn gewinnt!
Jeder Wettkämpfer lebt aber völlig enthaltsam; jene tun dies, um einen vergänglichen, wir aber, um einen unvergänglichen Siegeskranz zu gewinnen. Darum laufe ich wie einer, der nicht ziellos läuft, und kämpfe mit der Faust wie einer, der nicht in die Luft schlägt; vielmehr züchtige und unterwerfe ich meinen Leib, damit ich nicht anderen verkünde und selbst verworfen werde. (1 Kor 9, 24-27)

Dieser Haltung – und es ist Paulus, nicht irgendwer, der hier spricht – möchte ich sofort widersprechen. Es kann gerade nicht darum gehen, der Schnellste zu sein, der sportlich Leistungsfähigste.

Seit frühester Kindheit werden wir darauf konditioniert, im Wettbewerb zu stehen. Uns mit- oder vielmehr gegeneinander zu vergleichen und beweisen.

Gerade als Religionslehrer habe ich immer wieder das Gefühl, meine Chance gegenüber den Schülerinnen und Schülern ist es, ihre Individualität wahrzunehmen und zu schätzen. Und ihre Leistung, ihre emotionale oder kognitive Kompetenz mal “aussen vor” zu lassen. Dies verwirrt die Schülerinnen und Schüler immer wieder: Sie sind sich gewohnt, gemessen zu werden.

Ich aber messe nicht.

Oder besser: ich messe anders.

Mir geht es nicht um ein Gelingen – wie viele Religionsstunden scheitern für die Mehrheit der Teilnehmenden -, sondern sondern um ein Reifen. Und dieser Reifungsprozess kann weder beschleunigt noch gesteuert werden.

So fühle ich mich erst jetzt, mit 43 Jahren, als der Mann, zu dem ich werden kann.

So weiss ich längst, dass meine Gedichte durch Anstrengung oder Übung nicht besser werden.

So erfahre ich immer wieder, dass sich ergibt, was gelingen muss. Und was sich nicht ergibt, soll nicht gelingen.

Da könnten Sie jetzt einwenden: “Aber das ist ja Fatalismus.”

Diese ruhevolle, erwartungs-offene Haltung kann so interpretiert oder gesehen werden. Sie ist aber weit mehr: Sie rechnet mit den “untergründigen” Strömen von Bewusstsein und Haltung. Und sie nimmt diese Ströme als hilfreiche Impulse an. Oder wehrt sich dagegen.

Es ist eine aufmerksame oder (modisch ausgedrückt) achtsame Haltung. Sie will nicht Geschwindigkeit und Leistung, sondern ein Gelingen in Gleichmut und Gleichgewicht.

Klingt nicht nur fatalistisch, sondern gerade esoterisch. Da hole ich mir doch einfach meinen Liebling, den Prediger, als Stichwortgeber und Hilfe her. Wie sagt er so schön?

Wiederum habe ich unter der Sonne beobachtet: Nicht den Schnellen gehört im Wettlauf der Sieg, nicht den Tapferen der Sieg im Kampf, auch nicht den Gebildeten die Nahrung, auch nicht den Klugen der Reichtum, auch nicht den Könnern der Beifall, sondern jeden treffen Zufall und Zeit. (Pred 9,11)

…sondern auch nicht wachsen

Ein anderes Mantra, das wir heutzutage und vor allem in der Privatwirtschaft und inzwischen sogar im “Service public” zu hören bekommen, ist dasjenige vom “Wachstum”. Dabei geht es um Zahlen: mehr Umsatz, mehr Gewinn, mehr Kunden, etc. Es ist letztlich die gleiche Mentalität, die ich oben bei Paulus kritisiert habe.

Wir Menschen sind Geschöpfe, die immer nahe an der Hybris, an der Gottähnlichkeit leben und begehren. Doch unsere Leben, auch unsere merkwürdigsten Handlungen entstehen, weil Gott uns geschaffen und gewollt hat. Als freie Wesen wohlverstanden, nicht als Effizienz- oder Produktivitäts-Steigerungs-Automaten, Geld-Maschinen oder Arbeitstiere.

Als Geschöpfe, denen das Schöpfen zwar auf den Weg, aber nicht als Möglichkeit zur Entfremdung von sich selbst mitgegeben wurde, steht all unser Handeln im Rahmen dieser Geschöpflichkeit.

Das heisst, wir stehen unter dem Gesetz der “creatio continua”: Gott ist immer noch “am Werk” und präsent in Geschichte und Gegenwart.

All unser Tun und Lassen steht damit unter seinen Fittichen und liegt in seiner Hand.

Anders gesagt: Was wir wollen, kann gelingen – wenn es gelingen soll.

Und wenn wir wachsen, dann handelt es sich damit nicht um einen Prozess der Steigerung, sondern um einen Prozess der Veränderung. Das Wachsen in und unter Gottes Angesicht und Auge ist ein Wachsen zur Seite, weder in die Höhe noch in die Weite.

Wundervoll hat es ja Jesus selbst formuliert:

Seht euch die Lilien an, wie sie wachsen: Sie arbeiten nicht und spinnen nicht. Doch ich sage euch: Selbst Salomo war in all seiner Pracht nicht gekleidet wie eine von ihnen. (Lk 12,27)

Diese innere Entwicklung im Rahmen der “fortwährenden Schöpfung” ist genauso eine freiwillige Entscheidung wie diejenige für mehr Wachstum und mehr Lust oder Genuss.

Es ist eine bewusster Verzicht auf die eigene Erwartung und die eigene (zu hohen) Ansprüche.

Natürlich habe ich auch weiterhin (noch und nöcher) Ziele und Ansprüche, aber ich “lasse kommen”: ich weiss mich geborgen in einer Zuneigungswelt und -haltung, die aus diesem Glauben an Gottes Präsenz und Handeln im Jetzt stammt.

Ich weiss, dass ich aus diesem Glauben heraus reife. Ich bin so gut und genug wie ich bin. Allerdings nur, wenn ich mich für einen Weg, für eine Aufgabe entscheide. Aus meinem mir von Gott geschenkten freien Willen.

Mit Gott gehen

Dieser Weg ist einer in Ergebenheit. Er schliesst nicht aus, dass ich ihn selbst zu beherrschen und bewältigen suche. Aber ich weiss, dass ich ihn nur als Geschöpf Gottes bewältigen und beherrschen kann. Alles andere wäre nicht nur Selbstüberschätzung oder Liebe zur Machbarkeit, sondern auch Hybris, Selbst-Entfremdung.

Grundvoraussetzung für das Gehen auf diesem Weg ist jedoch die Gelassenheit und die Ergebenheit: keine Ansprüche stellen, sondern verwirklichen, was in mir wahr werden will.

Dieser Weg muss nicht in “Nachfolge Jesu” gelebt werden. Wichtig ist nur, dass ich nicht (be-) herrschen und vollmächtig sein will. Dass ich annehme, was kommt, und daraus forme, was kommen wird.

Und diese Grundhaltung ist eine demütige, und als solche sehr unzeitgemäss:

Nehmt keine Vorratstasche mit auf den Weg, kein zweites Hemd, keine Schuhe, keinen Wanderstab; denn wer arbeitet, ist seines Lohnes wert. (Mt 10,10)

Boden für das Scheitern

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Auf den Felsen ist der Samen bei denen gefallen, die das Wort freudig aufnehmen, wenn sie es hören; aber sie haben keine Wurzeln: Eine Zeit lang glauben sie, doch in der Zeit der Prüfung werden sie abtrünnig. (Lk 8,13)

Scheitern ist gut.
Es bereitet uns vor.
Es bereitet in uns einen Boden vor.

Mit jedem Scheitern und mit jedem gescheiterten Versuch auf ein Gelingen schälen wir mehr vom Überfluss ab, auf den wir verzichten können.
Mit jedem Scheitern und mit jedem gescheiterten Versuch auf ein Gelingen sondern wir ab, was uns nicht ausmacht: Hautpartikel, Schorf und Dreck lösen sich von uns und fallen auf den felsigen Boden der Wirklichkeit.
Dieser Boden ist feucht von Schweiss und Tränen.
Das nicht Nötige, das nicht Nützende, das nicht Nährende fällt auf den felsigen Boden.

Es ist immer die Zeit der Prüfung.
Und das Scheitern ist immer.
Niemand kann anders als scheitern.
Das Scheitern ist unser Ding.
Nur wir Menschen können es so gut.
Und nur wir Menschen wollen es so ganz und gar nicht.

Was wir tun ohne Gott, ist Wind.
Was wir tun mit Gott, ist Wind.
Und die Zeit sondert aus.

Wenn ich zurückblicke, glaube ich manchmal diesen felsigen Boden zu sehen.
Es ist kein schöner Anblick.
Oder es ist ein Anblick, den ich nicht schön finde.
Aber wer bin ich, über Schön und Hässlich zu entscheiden?
Aber könnte ich vergleichen, wie er das letzte Mal, als ich hinter mich blickte, ausgesehen hat: könnte ich sehen, wie anders er aussieht jetzt.
Noch viel Fels glänzt im Licht, das ich unter den Scheffel gestellt habe.
Darin kann sich niemand verbeissen ausser ich.
Aber an einigen Stellen ist der Fels nicht mehr nackt.
Etwas bedeckt ihn: etwas von mir.
Und vielleicht ist es eine optische Täuschung, aber ich habe das Gefühl, die bekleideten Stellen schimmern grün.
Seh ich da vielleicht sogar Schachtelhalme im göttlichen Atemwind schwanken?

Darf ich darauf nicht stolz sein?
Meinem Fels wächst eine Humus-Schicht!
Ich bin wie eine Ruine, die nicht mehr gepflegt wird, die von keinem Denkmalschutz umhegt und geschützt wird.
Ich bin der Boden des Scheiterns.
Ich bin auch jener, der über ihn geht.
Mir wächst ein Kleid, das nicht Fels ist.

Und jede neue Tat oder Unterlassung kann den Fels wieder freilegen.
Ich werde leichter, wenn ich scheitere.
Der Grund, über den ich schreite, senkt sich tiefer ein in die Geheimnisse des Lebens und der Schöpfung.
Spüre ich etwa an meinen Knöcheln schon das Gras und steigen nicht schon Insekten und Schmetterlinge in die Luft um meine Füsse?
Der Grund, über den ich schreite, nimmt bereitwillig an, was ich absondere.

Es ist immer Zeit der Prüfung.
Ich entscheide über Richtungen.
Ich entscheide über Verzögerungen.
Zeit der Prüfung ist Zeit des Scheiterns.

Und das Scheitern ist gut.
Es gibt nichts Besseres als dieses gute Scheitern.
Selbst in Krankheit, Armut und Verlassenheit
habe ich unter mir diesen reichen Teppich,
auf den Tropfen fallen, ob Schweiss oder Tränen,
ihn durchfeuchten und befruchten.

Und daraus und darauf wächst etwas,
das einen andern Glanz hat als der Fels,
das einer grossen Schleppe gleich
mich einkleiden wird am jüngsten Tag:
die Steppe meines Scheiterns,
über die dein Atem fährt, Gott.

Liebe, die nicht fordert

Die schönsten Beziehungen meines Lebens habe ich mit Freundinnen und Freunden. Nicht mit allen von ihnen bin ich sehr eng befreundet oder teile ich mein Leben. Die “wirklichen” Freunde sind wenige und treu. In der Liebe habe ich bisher nur selten und in den Anfängen erlebt, dass eine Beziehung so harmonisch und gleichmässig wie meine besten Freundschaften verläuft.

Geben und Nehmen

Seit meiner ersten Liebe – einer unerwiderten Liebe – ist mir klar, dass die menschliche Liebe ein Gefühl oder eine Haltung ist, die fordert: Zuwendung, Bedingungen, Anteilnahme und (Liebes-) Beweise.

Der geliebte Mensch kann diesen Forderungen zumeist nicht entsprechen, weil sie oder er aus einem anderen Leben stammt, ein anderes Herz und eine andere Herkunft hat. Solche fordernde Liebe ist immer eine Überforderung. Die Erwartungen einer solchen Liebe können nur enttäuscht werden.

Im Rahmen unseres binären Denkens ist “Geben und Nehmen” logisch: Geben, damit ich bekomme; bekommen, damit ich geben kann.

Das habe ich schon immer für mehr oder minder infantil gehalten. Ich weiss (oder glaube zu wissen), dass ich niemals genau das geben kann, was ich (in den Augen des Beschenkten) geben soll. Und niemals genau das erhalte, was ich mir wünsche.

Hingabe

Als Vater lerne ich mit jedem Jahr, das meine Kinder altern lässt, wie wandelbar meine Liebe ist und – sein muss. Mit einem pubertierenden Kind muss ich die Vater-Kind-Beziehung manchmal innert eines Tages mehrfach austarieren.

Das gerade ist ein gutes Beispiel: elterliche Liebe soll und muss bedingungslos sein. Sie soll und muss ganz im Dienste des Kindes und nicht im Dienste der Wunscherfüllung oder der Kompensationswünsche der Eltern sein.

Idealerweise ist die elterliche Liebe also eine Liebe, die gibt ohne etwas zurückzuerhalten. Idealerweise, weil auch Eltern Ansprüche, Bedingungen und Erwartungen haben, die sie nur allzu gern erfüllt haben möchten, von den schulischen Leistungen bis hin zu der Sauberkeit und Ordnung in Kinderzimmern.

Niemals würde ich von mir behaupten, dass ich eine solche ideale Eltern-Kind-Liebe pflege. Ich bin auf dem Weg dahin – gerade mit einem pubertierenden Kind.

Die Hingabe, von der wir bei Jesus reden, diese ausschliessliche und bedingungslose Liebe, diese Form der Liebe ist für einen Menschen schwer zu praktizieren. Wenn der Mensch sie erreicht, erreicht er oder sie einen Zustand von Quasi-Heiligkeit wie Gandhi oder Tolstoi.

Freundschaft, die andere Liebe?

Wie bereits gesagt, mit meinen (besten) Freundinnen und Freunden verbindet mich ein starkes Band der gegenseitigen Anteilnahme, des Mit-Lebens. Diese Beziehungen leben davon, dass sie genügend Distanz haben oder halten, um immer wieder neu die Freude über die menschliche Nähe zu spüren. Die Freude, wie ähnlich wir uns als Menschen doch sind, ob in Leid oder in Freude.

In diesen Freundschaften bin ich meist ausserordentlich glücklich und erfüllt, weil ich nicht auf Forderungen zu reagieren habe, weil ich angenommen bin, ohne etwas leisten zu müssen. Ich werde akzeptiert, wie ich bin.

Ich wiederhole nochmals, das kann gelingen, weil die Freunde sich nicht jeden Tag in der Dusche treffen oder zusammen kochen oder im gleichen Bett schlafen. Ich glaube sehr wohl, dass die Einheit, die Gemeinschaft dann bald vorbei wären.

Christlich gesehen, handelt es sich bei der Freundschaft sicherlich eher um den Aspekt “caritas”: Nächstenliebe. Diese widmet sich uneigennützig dem andern, ja dem fremden Menschen. Diese Liebe nimmt den anderen Menschen an. Voraussetzung für diese Liebe ist jedoch, und das wird in meinen Augen viel zu oft unterschlagen, dass man sich selbst gern hat.

Erfüllung in der Liebe

Haben Sie schon einmal Kleinkinder betrachtet, wie sie auf andere Menschen zugehen? Natürlich “fremden” sie auch, doch sieht man selbst hinter dieser “Angst” die Neugier für andere Menschen.

Ja, Kleinkinder gehen auf andere Menschen zu, wie wir das nicht mehr können (oder glauben zu können). Sie leben aus einem Vertrauen heraus, das ihnen ihre Eltern schenken. Sie fühlen sich durch und durch geliebt. Aus diesem erfüllten Leben heraus ist es ihnen ganz natürlich, ebenso liebevoll und offen auf andere Menschen zuzugehen.

Ich habe auch schon Kleinkinder erlebt, aus deren Blick das Bewusstsein des eigenen Werts sprach: sie waren sich bewusst, dass sie “nicht umsonst” geliebt sind.

Und ausser in unseren kalten mitteleuropäischen Gefilden reagieren die Menschen spontan und herzlich auf Kleinkinder und Kinder. Es ist vielleicht eine Art “Gegenübertragung”: die Kinder voller Liebes-Vertrauen schenken den Erwachsenen ganz natürlich Vertrauen, das in der Umkehr wiederum Liebe ermöglicht.

Kleinkinder fordern in uns also das Beste heraus: eine Öffnung hin zum andern (Kleinkind oder Kind). Diese Öffnung und dieser Schritt hin zum andern anerkennt grundsätzlich den Selbstwert und die Würde des andern.

 

Das ewige Leben

Doch kommen wir wieder zu den Freundinnen und Freunden zurück. Ich weiss nicht, wie es Ihnen geht, aber ich bezeichne meine drei, vier besten Freundinnen und Freunde als wirkliche “Lebenspartner”. Natürlich teilen wir nicht das Bett oder die Körpersäfte, aber wir haben in der Kommunikation zwischen uns Anteil aneinander.

Mit diesen drei, vier Freundinnen und Freunden gehe ich durch das Leben. Und das meine ich genauso: als gingen wir Hand in Hand eine lange, gewundene und hindernisreiche Strasse hinunter oder hinauf. Und obwohl wir in ferne Ländern und Kantonen verstreut sind, erreichen sich unsere Hände ohne Probleme.

Das liegt an unserem Vertrauen und an unserer Liebe. Wir geben lieber: nehmen hat hier keine Priorität.

Wenn ich mit meinen Freundinnen und Freunden zusammen bin, vergeht die Zeit einerseits wie im Flug und andererseits ist sie so reich, dass wir das Gefühl haben, wir hätten gerade Jahre zusammen verbracht. Für mich ist das immer ein Zeichen von wertvollem, würdigen Leben. Zeichen eines erfüllten Lebens.

Dieses erfüllte Leben ist für mich immer auch “Gottesreich”: wir achten uns, wir trauen uns, wir lieben uns. Und das Gefühl von Ewigkeit, das wir dabei empfinden, ist ein Geschenk.

Anders gesagt: wertvolle und würdige Beziehungen sind immer ein Geschenk. Ausdruck, dass Gott “mit uns” ist. Wahre Beziehungen entstehen in Achtung der Andersartigkeit, in Liebe zur Andersartigkeit.

Diese erfüllten Momente nenne ich bei mir “das ewige Leben”. Es sind Momente, in denen wir nichts erwarten – und göttlich beschenkt werden. Momente, in denen wir nichts fordern – und göttlich erhalten. Momente, in denen wir nur geben – und göttlich belohnt werden. Momente, in denen wir uns in Einfachheit einem Menschen zuwenden – und göttlich geliebt werden.

 

Tun, Ergehen und Prüfen

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“Doch als ich meine Schuld verschwieg, / begannen meine Glieder zu schmerzen. / Da stöhnte ich den ganzen Tag. / Tag und Nacht spürte ich, / wie deine Hand mich niederdrückte.” (Ps 32, 3-4)

“Gewiss werden Wir euch ein wenig prüfen / mit Angst, Hunger, Verlust von Vermögen, / Menschenleben und Früchten.” (Sure 2, 155)

“Und wenn mich die Angst überkommt wegen des “Es gibt keine Sicherheit”, ist für mich das “Gebt die Hoffnung nicht auf” eine Lehre.” (aus Farid ud-Din Attars “Konferenz der Vögel”)

„Gott straft sofort“, heisst es. Das ist die einfache Umschreibung eines Denkens, das im Ersten Testament verwurzelt ist. Das „Volk Gottes“, die Israeliten und später die Juden, stehen im Bund mit Gott. Da sie diesen Bund aus menschlicher Schwäche immer wieder brechen, führen sie ihr Leiden auf den Zorn Gottes zurück. So irren sie 40 Jahre in der Wüste, damit niemand ins „gelobte Land“ gelangt, der das „Goldene Kalb“ angebetet hatte. Als kleines Volk zwischen Grossmächten wie Ägypten und Assyrern oder Persern interpretieren die Israeliten diese Reiche als „Werkzeuge Gottes“: Bestrafung durch Unterwerfung.

In der christlichen Theologie nennt sich dies „Tun-Ergehen-Zusammenhang“: Was wir tun, hat Auswirkungen darauf, wie es uns (er-) geht. Diese Hypothese lässt sich am eigenen Leben immer wieder feststellen, und sie braucht zur Bekräftigung oder Anwendung auch keinen Gott.

So arbeite ich selbst immer wieder in kleinen Teams, in der Kommunikation von grosser Bedeutung ist. Obwohl ich sehr schwatzhaft sein kann, bin ich meistens ein „stiller Schaffer“. Ich kommuniziere eher schlecht oder gar nicht. (Ich telefoniere zum Beispiel sehr ungern.) Es ist mir daher schon oft passiert, dass ich ein Projekt durch fehlerhafte oder unterlassene Mitteilung(en) gefährdet habe. Als logische Konsequenz muss ich daher auf mich nehmen, dass die Verärgerung meiner Team-Kollegen sich auf unsere Beziehung, ja vielleicht auch auf die Beziehungsfähigkeit im Team selbst auswirkt.

Ich schliesse Gott bewusst aus dieser Gleichung „Tun x Gott = Ergehen“ aus. Für mich als moderner Mensch wirkt Gott nicht direkt in unser Leben hinein. Gott „steuert“ oder „lenkt“ uns nicht.

Gott ist eine indirekte Präsenz oder Wirkkraft: Beziehen wir uns auf Gott, wirkt er über unsere Haltung auf unser Wohl-Leben und -Ergehen ein.

Der Fall Hiob

Lesen wir die Bibel, begegnen uns jedoch immer wieder Figuren, denen es ganz und gar unverdient sehr schlimm ergeht. Sowohl ihr Tun und Lassen als auch ihre Haltung gegenüber Mensch und Gott sind fast vorbildlich. Dennoch geschieht ihnen Schlimmes, Schlimmstes.

Denken wir nur an Hiob. Diesem stirbt nicht nur sein Vieh unter den Händen weg, er verliert auch seine Familie und seine Gesundheit.

Ich kenne solche Menschen. Ich habe keine Zweifel, dass auch Sie solche Menschen kennen. Knall auf Fall verlieren sie Wertvollstes, Teuerstes: den Job, die Frau oder ein Kind. Nur sehr selten konnte ich bisher beobachten, dass sie „aus eigenem Verschulden“ in eine solche Lage geraten sind.

(Und ich rede hier bewusst nicht vom Besitz oder vom Eigentum. Das ist nichts, woran zu hängen es wert ist.)

Niemand heute würde zu oder über solche Menschen sagen, Gott hat sie bestraft. Sofort wäre zurück zu fragen: Wofür denn?

Die Prüfung (im und durch das Leben)

Und doch gibt es den Gedanken der Prüfung. So sagt jemand zu mir: Das ist jetzt einfach eine Prüfung, da musst du dich durchbeissen. (Am schönsten drückt das der Spruch der Läuferin Anita Weyermann aus: „Gring ache u seckle“.)

Ein Test, eine Prüfung, in der ich mich beweisen muss. Je nachdem, wie ich mich in dieser Situation verhalte, wie ich in dieser Lage handle, werde ich die Probe „bestehen“ und – gereift aus ihr herausgehen. Oder scheitern.

Ich habe das immer als Hohn verstanden. Und zwar ganz unabhängig davon, ob die Prüfung „von oben“ kommt oder nicht, von Gott oder vom Teufel.

Gewiss gibt es Menschen, die ihre Lage selbst verschuldet haben – schlechte Entscheidungen gefällt, gegen ihr besseres Wissen gehandelt haben. Doch wird gerade an ihrem „Beispiel“ noch deutlicher, wie ungerecht der Gedanke einer Prüfung ist: Wenn die- oder derjenige in dieser misslichen Situation ist, ist es geradezu unmenschlich, von ihr oder ihm zu verlangen, jetzt gerade müsse er oder sie sich beweisen und sich quasi „am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen“.

Und dabei denke ich noch nicht einmal daran, dass schlechte Entscheidungen einerseits durchaus aus Unwissen oder falschen Informationen gefällt werden können. Dass schlechte Entscheidungen andererseits durchaus auch mit der gesellschaftlichen Situation des Betroffenen zu tun haben können, sich aus derselben vielleicht sogar „erklären“ lassen.

Die andern aber, die „Unschuldigen“ – wie soll man zu ihnen oder über sie reden?

Ich weiss es nicht. Es hängt von der Beziehung ab, die ich mit dieser Person habe. Niemals jedoch würde ich ihnen mit der „Prüfung“ kommen.

Der Gedanke an die Bewährung in der Prüfungs-Situation, heute ganz weltlich gedacht und geäussert, ist heute in meinen Augen aktueller denn je: Was zählt, ist die Leistung.

Die Versuchung

Gehen wir einen Schritt weiter, ins Zweite Testament. Dort schliesst Jesus in der heutigen Lesart der Bibel (Einheitsübersetzung 2017) das Vaterunser mit der Bitte:

„Und führe uns nicht in Versuchung, sondern rette uns vor dem Bösen!“ (Mt 6, 13)

Der Papst höchstpersönlich hat diese Version in Frage gestellt. Seine Deutung des Jesus-Worts geht von einer barmherzigen Vaterfigur aus.[1] Für Franziskus ist es der Teufel, der den Menschen in Versuchung führt.

Das ist gut katholisch gedacht. Lässt sich nicht auch Gott im Buch Hiob auf eine Wette mit dem Teufel ein? Gott geht diese Wette ein, weil er sich Hiobs Treue sicher ist.

Ich könnte hier einen Abgrund öffnen. Noch weiter denken: Gibt es den Teufel, und wenn ja, gibt es auch die Hölle? Und wie wäre diese beschaffen?

Das aber ist eine andere Geschichte. Die auch mit Strafe und Gericht zu tun hat, sicher.

Mich beschäftigt hier der Gedanke an eine von Gott gewollte Prüfung. Und vielleicht ganz grundsätzlich der Gedanke des Prüfens. Der für einen Christen in meinen Augen immer eng mit dem Gedanken der Versuchung und des Widerstands dagegen verbunden ist.

Das Scheitern

Ich selbst bin in meinem Leben viele Male gescheitert, vor einem Scherbenhaufen gestanden. Ich weiss auch, dies wird noch einige Male passieren – passieren müssen.

Immer jedoch hat mir dieser Gedanke widerstrebt, diese missliche oder gar schreckliche persönliche Lage als „Prüfung aufs Exempel“ wahr- und anzunehmen. Nie habe ich mich dabei gefühlt, als müsste ich mich in irgendeiner Weise „beweisen“. Ich wollte nur – gut leben oder eben: wieder gut leben.

Gewiss, herauskommen aus dem Loch, in das man versunken ist oder versinkt. Oder aber – gut leben in der schlechten Lage.

In der schlechten Lage eine Haltung bewahren, die eine Annahme, eine Bejahung ist. Im Vertrauen auf Gott, der barmherzig ist.

Klingt auch in meinen Ohren billig. Ein wenig wie eine schlechte Ausrede.

Das ist es dennoch nicht. Die schlechte Lage verstehe ich wohl als Auswirkung falschen Handelns, aber nicht als eine Prüfung. Die schlechte Lage gehört zum Leben, ist ein Teil meines Lebenslaufs. Sie zu leugnen oder als „Zwischenstation“ abzutun, wäre sträflich. Das Leben ist nicht komfortabel; es wäre zu langweilig.

Wie ich handele, so geschieht es mir oft, dass ich auch besten Wissens und Gewissens „ins (offene) Messer“ laufe. Doch sehe ich hier nicht die Hand Gottes – und noch weniger die Hand des Teufels. Ich denke da ganz innerweltlich.

Verbrechen und Strafe

Der Mensch ist ein Zwitter. Er schwebt zwischen Gut und Böse, zwischen Gelingen und Versagen.

In diesem “Kampf”, wie es der Katechismus der katholischen Kirche sieht,[2] hat der Mensch sich zu bewähren. Für diese und in dieser Bewährungs-Probe ist dem Menschen von Gott Autonomie und Freiheit geschenkt worden.

Der Mensch als “Mängelwesen”[3] ist und bleibt zwar ein Abbild Gottes, verliert aber in der Sünde seine “Ähnlichkeit” mit Gott.[4] Während die katholische Lehrmeinung die Sünde noch als “Beleidigung Gottes” versteht,[5] muss in unserer modernen Zeit weit stärker betont werden, dass es sich dabei um eine Entfremdung von und mit sich selbst handelt. Eine Nicht-Identität mit sich selbst.[6]

Aus diesem Denken heraus muss gesagt werden, dass sich der Mensch durch (bewusst oder unbewusst) falsches Tun immer selbst schädigt – und seine Mitmenschen.

Es kann also nicht (länger?) behauptet werden, Gott wolle uns aufgrund unserer Fehler und Untaten übel.

Es kann ebenfalls nicht (länger?) behauptet werden, Gott prüfe uns oder führe uns in Versuchung.

Was uns in der Welt und in der Gegenwart passiert, ist (weitestgehend) auf unser Tun und Lassen zurückzuführen. Inzwischen glauben die meisten Zeitgenossen ja daran, dass selbst die Krankheiten nur Ergebnisse unseres Verhaltens, Essens etc. sind. Bei Rauchern zum Beispiel ist dies am deutlichsten.

Diese Feststellungen klären natürlich nicht (oder nur annähernd) die Frage nach dem “Warum”.

Das gute Leben

Ganz innerweltlich, ganz säkular sollte es in unserem Leben darum gehen, gut zu leben. Das Leben zu geniessen in all seiner Vielfalt, in all seiner Unterschiedlichkeit. In und mit all seinen Höhen und Tiefen. (Vielleicht gerade sogar und besonders in den Wellentälern.)

Das ist ganz offensichtlich ein Thema für Selbsthilfe-Gurus wie Dobelli.[7] Diese versuchen – ganz in der Leistungsgesellschaft verwurzelt und mit einem rationalen, ja fast wissenschaftlichen Anstrich – die Effizienz unseres Geniessens und Erlebens zu steigern. Diese Gurus spielen unserem modernen menschlichen Wunsch nach Beherrschbarkeit, Machbarkeit und Planbarkeit des guten Lebens in die Hände.

Es ist aber nicht das Thema dieses Essays. Gerade der Wille zur Machbarkeit und Beherrschbarkeit gilt einem Christen als Sünde. Dieser Wille stammt direkt aus der “Erbsünde”: Dem Wunsch, Gott ähnlich(er) zu sein, ja vielleicht gar Gott zu sein.[8]

Im Wissen um die eigene Freiheit und um die eigene Fehlerhaftigkeit ist es dem Menschen von einem barmherzigen Gott gegeben, sein Leben so gut wie möglich selbst (autonom) zu gestalten. Ob und wie Gott dieses Leben prüft oder prüfen wird, können wir nicht wissen. Wenn es ein letztes Gericht gibt, wie die drei monotheistischen Religionen glauben, wird die Prüfung dann stattfinden.

Aber wie Jesus selbst mehrfach gesagt hat: Bereits im Lauf des menschlichen Lebens erfahren wir Gutes; diejenigen, die bereits Gutes erfahren haben (wie die Reichen) werden das Gottesreich (ob weltlich oder himmlisch) anders erfahren als jene, die wenig Gutes erfahren haben.[9]

Da sind wir nun schon wieder bei der Endzeiterwartung gelandet…

Letztlich falle ich doch, jedes Mal, wenn ich über das gute Leben nachdenke, wieder auf den „Prediger“ zurück: „Es gibt kein Glück, es sei denn, der Mensch kann durch sein Tun Freude gewinnen.“ (Prediger 3, 22)

Das ist so einfach wie einleuchtend und – machbar.

[1] Vgl. https://www.tagesanzeiger.ch/leben/gesellschaft/Und-fuehre-uns-nicht-in-Versuchung/story/30278906, zuletzt abgerufen am 29.06.18.

[2]vgl. KKK 407-409.

[3] Ein Begriff geprägt von Arnold Gehlen, siehe https://de.wikipedia.org/wiki/M%C3%A4ngelwesen, zuletzt abgerufen am 02.07.18.

[4] vgl. KKK 705.

[5] vlg. KKK 1850.

[6] “Sie (die Sünde) verletzt die Natur des Menschen und die menschliche Solidarität.” (KKK 1849)

[7] Dobelli, Ralf: Die Kunst des guten Lebens, 2017.

[8] Vgl. den Turmbau zu Babel (Gen 11,1-9)

[9] Vgl. Lk 6,24 (“Doch weh euch, ihr Reichen; ihr habt euren Trost schon empfangen.”)