Warum schlägst du mich? oder Die schlimmste Sünde

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Ich bin vom unbewussten und heimtückischen Mechanismus der strukturellen Sünde überzeugt. Sie ist ein gesellschaftliches Hyperobjekt, dessen wichtiges, wandelfähiges und stetig in Bewegung befindliches Bauteil auch das Patriarchat ist.

Im Rahmen dieser systemischen Struktur kannst du nicht anders als sündig werden, Sünde auf dich laden.

Gewiss bin ich mir bewusst, dass ich als Mensch ein „Mängelwesen“ bin, ein Wesen voller Fehler und Schwächen. Und ich teile die Zweifel jener, die die Konzeption und Schöpfung eines solchen  Wesens als fragwürdig verstehen – ebenso wie sie erkennen, um was für eine grossartige Geste es sich dabei handelt: einem Wesen mit Mängeln und Schwächen die Verantwortung für gutes und schlechtes Handeln zu verleihen, die Freiheit in Verantwortung wahrnehmen und ausleben zu dürfen.

Doch die Sünde, von der die meisten Religionen sprechen, die private, persönliche Form von Vergehen gegen Gott, findet nicht meine Zustimmung.

Im Rahmen jedoch diese systemischen Sünde kannst du durchaus und in vielfältigen Formen Schuld auf dich laden: sündig sein.

In meiner derzeitigen Lebensphase beschäftigt mich unter all den systemischen Sünden jene des Nicht-Hin-Hörens auf die andere am meisten.

Denn meistens bist du nicht von dir so erfüllt, dass die Worte oder Äusserungen gar nicht bis zu dir gelangen können. Du erwägst schon eine Entgegnung, bevor die andere ihren ersten Satz fertiggesprochen hat. Du legst in die Äusserung oder das Wort der anderen so viel an eigenem Vorverständnis, Vorurteil und Vorwegnahmen, dass die Aussage oder das Wort bei dir nur verstümmelt ankommen kann. Mit dieser Erwiderung schiesst du vermeintlich scharf zurück (denn Reden ist Krieg) und nimmst vor lauter Überzeugung nicht wahr, dass du ins Leere geschossen hast.

Du hörst nicht das, was die andere sagt. Was du hörst, stammt von dir

Ich selbst habe diese Form von Einweg- bzw. von Wegwerfkommunikation jahrelang praktiziert (und tue das immer noch viel zu häufig und intuitiv, scheinbar wehrlos der Sünde ausgeliefert). Seit einiger Zeit versuche ich, mich selbst bewusst auszubremsen, Geduld zu haben. Doch ich versuchen nicht nur auf das Aus-Sprechen der anderen zu warten, was wirklich manchmal, vor allem, wenn es sich um eine um Klarheit und Wahrheit bemühtes Ausdrücken handelt, das seine Zeit braucht, durchaus anstrengend sein kann. Ich versuche, wirklich und in der Tat auf die Botschaft zu lauschen, die bei mir ankommen will.

Und muss mich beherrschen, die Untertöne und Unterstellungen, die ich gewohnt bin in jeder menschlichen Äusserung zu hören, eben gerade weg- und nicht zu hören. Denn die Untertöne, die Unterstellungen sind Beigaben, Beigemüse zur menschlichen Rede, die aus dir selbst kommen – und nicht immer nur aus der anderen.

Das vorurteilsfreie An- und Zuhören ist etwas vom Schwierigsten, was es in meinen Augen für einen Menschen gibt. Von früh auf trimmst du dich auf gesellschaftliche Aufmerksamkeit. Von früh auf achten deine Ohren auf das Ungesagte und „unterschwellig“ Gemeinte – kurz, auf geheime Botschaften an dich, die dir helfen sollen, dich in Bezug und in Beziehung zu der anderen verhalten. Nur hin und wieder wird dir aufgrund einer Reaktion (Bestürzung oder Beleidigung) deutlich, dass das meiste, was du verstehst, von dir stammt – und nicht von der anderen.

Die Sünde von einer einzigen Frage entlarvt

Es gibt diesen wundervollen Fragesatz aus dem Johannes-Evangelium: „Warum schlägst du mich?“ (Joh 18,23)

Jesus sagt diesen Fragesatz, als er vor dem Oberpriester steht. Ein Soldat will ihn für eine vermeintliche Unbotmässigkeit oder eine anscheinende Frechheit züchtigen und hat ihn ins Gesicht geschlagen.

Jesus Frage trifft den Kern des oben gesagten: achte darauf, was gesagt wird und nicht darauf, was du verstehst (oder verstehen möchtest). In gewisser Weise trifft den Soldaten nur bedingt eine Schuld. Er verhält sich „systemisch„: reagiert also so, wie er es in seiner gesellschaftlichen Stellung gelernt hat, nämlich: im Sinne der Macht, die er repräsentiert, im Sinne der Gewalt, die ihm verliehen ist.

Jesus hat in Tat und Wahrheit „nichts Unrechtes“ gesagt (wie es in der Guten-Nachricht-Bibel steht). Er hat dem Oberpriester nur vor Augen geführt, wie unehrlich seine Frage war. Die Frage sollte nicht in einen Disput, in eine öffentliche Argumentation führen, sondern versuchen, Jesus mit seinen eigenen Worten zu fangen. (In die hineingelegt wird, was du verstehen willst.)

Dabei handelte es sich um Pharisäer, also Menschen, denen das Gesetz über alles stand: sie waren Buchstabentreue. Ihre Furcht war es, Jesus könnte eine politische Bewegung auslösen (nicht anführen), die die Römer zum Einschreiten gegen die Mächtigen im Land (Rat und Priesterschaft) zwingen würde. (Siehe dazu Joh 11,47-48.)

Mit seinen Worten einfangen: sie warteten darauf, ihre Interpretation in die Worte hineinlegen, die Jesus sagen würde. Sie waren bereit, seine Worte ebenso buchstäblich zu verstehen wie später Pilatus in seiner Frage: „Wahrheit – was ist das?“ (Joh 18,38a) Auch Pilatus will nur Aussagen, die eine Interpretation für ihn leicht machen: statt nach der Art des Königreichs zu fragen, will er wissen: „Du bist also doch König?“ (Joh 18,37)

Wenn ich jetzt die johannäische Gerichtsgeschichte lese, wird mir mehr denn je klar, wie Kommunikation in einem Machtgefälle nicht gelingen kann. Bis zur endgültigen Hinrichtung von Jesus liest du lauter vorsätzliche Interpretationen und voreingenommener Fragen. Das geht bis zum berühmten Ausspruch Pilatus: „Was ich geschrieben habe, habe ich geschrieben.“ (Joh 19,22)

Retrospektiv und mit meiner heutigen Lebenshaltung ist das schon fast ein Motto-Satz: „Was ich gesagt habe, habe ich gesagt“: Pilatus verweist implizit darauf, was er verstanden hat; niemand hat ihn eines anderen belehrt. Selbst Jesus redet nicht mit Pilatus. Fast schon verzweifelt fragt dieser: „Willst du nicht mit mir reden?“ (Joh 19,10)

In der ganze Passionsgeschichte, so scheint es mir jetzt, wird deutlich, wie vorgefasste Meinungen und buchstabentreue Vorurteile eine Kommunikation verhindern. Jesus scheint schliesslich sogar Wittgensteins Diktum: „Worüber man nicht sprechen kann, darüber soll man schweigen“ (Tractatus logicophilosophicus) in die Tat umsetzen zu wollen – als pure Geste der Verweigerung.

Die Sünde wider den heiligen Geist, von der Jesus in MK 12,32 so warnend spricht, ist vermutlich genau dies: Die schlimmste aller Sünden ist jene, die der Sprecherin die Macht über ihre eigenen Worte nimmt, indem alle Aussagen bereits mit vorgefertigten Bedeutungen übereinstimmen.

Sicher sind „Hülsenworte“ wie „Wahrheit“ (und letztlich auch „Macht“ oder „Sünde“) per se aussergewöhnlich gefährlich, weil sie eben gerade sich jeder „Füllung“ anbieten.

Befreiung von eigener Deutungshoheit und geduldiges Hinhören als Rezept?

„Sprache ist immer auch Gewalt“, habe ich vor kurzem geschrieben. Dies sehe ich auch weiterhin so. Im Rahmen der systemischen oder strukturellen Sünde wäre es unglaublich wichtig, dich aus dieser gewohnten und eingeübten Deutung von Worten und Aussagen zu befreien einerseits und andererseits der anderen ihren Raum für ihr Sprechen zu lassen.

Vielleicht, so denke ich, hat Jesus gerade deshalb geschwiegen statt sich zu verteidigen, weil er um dieses System der Selbsterfüllung wusste. Und im Schweigen auch gewusst: selbst dieses Schweigen kann / muss falsch verstanden oder „gelesen“ werden (mindestens in zweifacher Hinsicht: als Zustimmung zur Anklage oder als Protest dagegen). Sogar von seinen eigenen Nachfolgerinnen.

Trotz aller Einwände gegen das Sündigsprechen des einzelnen Menschen muss ich dennoch davon reden, dass du dich wehren kannst. Du kannst in kleinen Schritten versuchen, dem andern Sprechen Raum zu geben und nachzuhorchen, was da in der Tat gemeint ist / sein könnte: Nachfragen, hinhören statt erwidern und entgegnen. Damit würdest du Teil einer Minderheit, die hoffentlich immer stärker wird, einer Minderheit, die aus der Struktur der Sünde ausbrechen will. Und die schlimmste Sünde nicht länger begehen will.

Wer sich impft, übernimmt gesellschaftliche Verantwortung

Eine Betrachtung unter dem Gesichtspunkt der Menschenrechte

Mit herzlichem Dank an TheDigitalArtist für das Bild

(Ich bedanke mich herzlich bei J. M. für das erste Gespräch und besonders bei M. Leemann für die klärende, vertiefende Diskussion, aus der einige Gedanken in das Fazit dieses Beitrags eingeflossen sind. Ich bedanke mich auch bei meiner Tochter, die mein Interesse an den Menschenrechten und den damit verbundenen philosophischen Fragen wieder geweckt hat.)

Ich habe schon viele Diskussionen mit verschiedensten Menschen meines näheren und ferneren Umfelds geführt über die herrschende Impf-Skepsis, Impf-Unwilligkeit, Impf-Angst. Eine Lehrerkollegin hat mich gebeten, einen Gedankengang, der mir im Gespräch mit ihr gekommen war, schriftlich festzuhalten. Das will ich hier versuchen.

Es handelt sich dabei keineswegs um einen neuen oder aussergewöhnlichen Gedanken, aber hin und wieder lohnt es sich, für sich und andere festzuhalten, was gedacht worden ist: Das hilft in der Festigung des Reifungsprozesses als Mensch.

Und natürlich kann ich nicht auf die Argumentation der Impfgegner und Corona-Skeptiker eingehen, obwohl ich mir das von unseren Philosophen dringend wünschte: Sie befinden sich längst jenseits der Fakten, die die Wissenschaft wieder und wieder bestätigt und verifiziert hat. (Das betrifft insbesondere die Vorwände und Ängste der Impfgegner, was Nebenwirkungen betrifft.) Ich setze also die Fakten voraus.

Ist mein Recht wichtiger als das Recht des andern?

Die Corona-Skeptiker sind lauter als diejenigen, welche die Gefahr erkannt haben und gegen sie handeln. Die Corona-Skeptiker haben sogar versucht, beim Bundeshaus Krawall zu machen und den Sicherheitszaun niederzureissen. Die Schweiz ist so ein neutrales Land, dass daraus kein öffentlicher Aufschrei entstanden ist, obwohl der Fakt dieser versuchten Handlung durchaus aufrütteln hätte müssen. Ebenso wie jener, dass der Finanzminister des Landes sich mit einer der ärgsten rechtslastigen Gruppen des Landes gemein macht, die den Begriff der Freiheit derart gepachtet hat, dass sie ihn nicht mehr auf andere anwendet.

Was bedeutet es, wenn jemand die Freiheit „gepachtet“ hat, wie ich das genannt habe? Denn es ist dies ein Phänomen, das weltweit zu beobachten ist und zutiefst beunruhigen sollte.

Deine Freiheit – sich impfen oder nicht impfen zu lassen – wirkt sich unmittelbar auf die Freiheit eines anderen, einer anderen aus. Dadurch, dass du dich nicht impfst, gefährdest du die Gesundheit eines anderen Menschen. (Wenn du keine Maske trägst, gefährdest du die Gesundheit eines andern Menschen.)

Du verletzt oder gefährdest damit sein Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person (Artikel 3 der Menschenrechte).

Damit stellt sich die Frage: Ist mein Recht (auf Meinungsäusserung und Freiheitssphäre) mehr Wert als das Recht des andern?

Diese Frage trifft unsere Gesellschaft ins Mark. Denn von früh auf sind wir uns gewohnt, das eigene Wollen und Wünschen für aussergewöhnlich und wichtig zu halten. Wir berufen uns dabei u.a. auch auf den Artikel 12 der Menschenrechte, auf das Recht auf den Schutz und die Bewahrung der Freiheitssphäre jedes einzelnen.

Doch plötzlich werden wir vor eine Frage gestellt, in der unser Wollen und Wünschen andere gefährdet oder gefährden kann. In der das Recht auf freie Meinungsäusserung, das vermutlich auch das freie Handeln mit meint und einschliesst, das Recht auf Sicherheit der Person gefährdet. Mehr noch, in der dieses Recht das Recht auf eine Freiheitssphäre des einzelnen (Artikel 12 der Menschenrechte) beschneidet oder zumindest in Frage stellt.

Das Recht auf eine Freiheitssphäre endet dort, wo es das Recht eines andern Menschen verletzt oder gefährdet

Ohne ein Jurist zu sein, ist mir klar, dass alle Menschenrechte in der Balance gehalten werden müssen. Keines darf das andere beschneiden oder gefährden. Keines darf stärker als das andere gewertet werden. Und alle werden vom allerersten Recht regiert: Dem Recht auf Gleichheit, Freiheit und Würde (Artikel 1 der Menschenrechte).

Das gilt letztlich auch für das Leben eines Menschen, wenn ich es auf einer universellen Ebene betrachte. Ein Beispiel: Wenn jeder Mensch ein Recht auf ein würdevolles Leben hat, dann darf ich selbst niemals einem andern Menschen dieses Recht absprechen oder verweigern. Wenn ich diesen Grundsatz konsequent durchdenke, muss ich sagen: ich muss so gut ich kann vorurteilsfrei, gewaltfrei und gerecht handeln gegen meinen Mitmenschen.

Vor diesem Hintergrund will ich die Frage nochmals stellen: Habe ich das Recht, mit meinem Verhalten die Sicherheit und Gesundheit des andern zu verletzen oder gefährden?

Ich kann im Rahmen meiner eigenen Freiheit und Würde sicherlich entscheiden, mich nicht impfen zu lassen. Das würde auch übereinstimmen mit dem Recht auf Freiheitssphäre, die der Staat nicht beschneiden darf. (Deshalb scheut sich der Bundesrat und andere Regierungen auch, ein Impfobligatorium einzuführen.) Wenn ich mich jedoch im öffentlichen Raum (Strasse, Bahnhof, etc.) oder im halböffentlichen Raum (Restaurant, Bar, Bibliothek, Kino, etc.) bewege, setze ich dadurch, dass ich mich nicht impfen habe lassen – selbst wenn ich mich regelmässig testen lasse und alle hygienischen Verhaltensregeln einhalte – die andern Menschen der Gefahr der Ansteckung oder Übertragung aus. Dies selbst dann, wenn diese geimpft sind. Denn neue Studien haben gezeigt, dass Geimpfte u.U. den Virus weitergeben können. In einem solchen Fall könnte man von einer Kettenreaktion sprechen.

Ist das Leben anderer nicht schützenswert?

Ein weiterer Punkt, der mich an der ganzen Diskussion und Aufregung fasziniert, ist die Frage, weshalb Menschen die Freiheitssphäre so stark gewichten, dass sie dabei ihr eigenes Leben nicht schützen wollen, indem sie sich einer Ansteckung aussetzen oder diese in Kauf nehmen. Denn damit gefährden sie ein anderes Recht: Das Recht auf Gesundheit  – ein untergeordnetes Recht des Artikels 25.1 (Recht auf Wohlfahrt) – bedeutet letztlich, dass alle ein „Recht für alle auf ein erreichbares Höchstmass an körperlicher und geistiger Gesundheit“ haben und beinhaltet insbesondere „die Verfügbarkeit von quantitativ ausreichenden und qualitativ genügenden öffentlichen Gesundheitseinrichtungen sowie den diskriminierungsfreien Zugang zu den vorhandenen Gesundheitseinrichtungen“.

Das ist wichtig, denn die Behörden und Gesundheitsinstitutionen machen uns seit Anfang der Pandemie darauf aufmerksam, dass das Gesundheitssystem zunehmend an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit gerät (Betten und Operationen). Will heissen, wer sich für seine Freiheit (Gewährleistung der Freiheitssphäre) anzustecken bereit ist, gefährdet gleichzeitig die Gewährleistung des Rechts auf Gesundheit. Was würdest du sagen, wenn dein von dir belegter Corona-Spitalplatz eine wichtige Operation verunmöglicht, mit der ein Bein, ein Daumen, ein Herz oder eine Niere gerettet werden könnten? Hat dieser andere Mensch denn kein Recht auf Gesundheit?

Gesellschaftliche Verantwortung

Ich komme zurück auf die im ersten Teil dieser Betrachtung festgehaltenen Maxime: Dein Recht darf das Recht eines andern Menschen nicht verletzen. Rosa Luxemburg zitierend könnte ich sagen: Dein Recht ist immer auch das Recht des andersdenkenden. Oder wie es die Philosophin Bini Adamczak in einem Beitrag von Deutschlandfunk Kultur gesagt hat:

(…) die Entwicklung eines Gemeinwesens, das nicht herrschaftlich organisiert ist, muss immer mit allen gemeinsam geschehen – und das heißt eben auch, mit denen, die eine andere Meinung haben.

Bini Adamczak, Zitat aus erwähnter Sendung

Denn letztlich dienen alle diese Menschenrechte nur einem: der Vermeidung von „Akten der Barbarei“, von der die Erklärung der Menschenrechte in der Präambel spricht. Akte der Barbarei aber haben immer eine gesellschaftliche Tragweite.

Rechte haben ihre Grenzen dort, wo sie die offene, freiheitliche Gestaltung und Entfaltung einer Gesellschaft verhindern. Das gilt auch für das Recht auf Freiheitssphäre und alle anderen Prinzipien der Menschenrechte.

Wer dieses Recht nur für sich in Anspruch nimmt, tritt damit das Recht seines Mitmenschen.

Will heissen, die von Adamczak erwähnte „andere Meinung“ kann und wird oft auch die Mehrheitsmeinung sein, die du zu respektieren hast. (Das sollte jeder Schweizer*in klar sein, denn wer wählt, kann unterliegen – und muss dann das Resultat der Abstimmung akzeptieren, weil es in Gesetz gegossen werden wird.)

Gesellschaftliche Verantwortung übernehmen heisst also, seine Rechte derart und in Freiheit auszuüben, dass dadurch keinerlei Rechte von andern Menschen gefährdet oder beschädigt werden.

Indem mich impfen lasse, tue ich genau das: ich ermögliche das freie Funktionieren der Gesellschaft ohne Restriktionen.

Fazit: Gesellschaftsvertrag in Gefahr

Der Gesellschaftsvertrag wird in unserer Gesellschaft vorausgesetzt: dass alle sich an die Regeln, Gesetze (Rechte) und Pflichten dieser Gesellschaft halten. Denn Rechte gehen einher mit Pflichten. Wenn du auf freier Meinungsäusserung bestehst, so darf deine Meinungsäusserung nicht dazu führen, dass die anderer beschnitten oder ihnen die argumentative, eigenständige Findung einer Meinung abgesprochen wird.

Anders gesagt: kein Rechtssystem besteht nur aus Ansprüchen. Das Gegenstück zu den Ansprüchen, die über Rechte einzufordern sind, sind die dadurch bewirkten, damit verbundenen Pflichten.

Im Gegensatz zum Fall der eingeschränkten Freiheitsrechte im Rahmen des „Kriegs gegen den Terrorismus“ sind wir jetzt in einer Situation – der Pandemie -, wo alle unmittelbar und nicht mittelbar bedroht sind: es kann jede und jeden von uns treffen. Das Virus ist in der Mitte der Gesellschaft; das war der Terrorismus nur in den Augen einiger konservativer Hitzköpfe.

Wir erleben eine Gesellschaft, in der Interessengruppen oder Echokammern sich den Meinungen anderer verschliessen. In der diese Meinungsgruppen (so z.B. die bereits erwähnten „Freiheitstrychler“) ihre Rechte absolut zu setzen begonnen haben. Doch kein Recht kann oder darf absolut gesetzt werden: alle menschlichen Handlungen betreffen andere Menschen.

Ich wiederhole mich, aber dieser Punkt scheint mir sehr wichtig: dem Recht auf Freiheit sind dort Grenzen gesetzt, wo es das Recht auf Freiheit (auf eine offene, funktionierende Gesellschaft und Wirtschaft) einschränkt.

In der postrationalen Gesellschaft droht das gesamtheitliche Vertragswerk eines Gesellschaftsvertrags ausser Kontrolle zu geraten. Die oben erwähnten Echokammern behaupten eine Ausschliesslichkeit ihrer Meinung und Haltung, die zudem jeglicher rationaler Argumentation verschlossen ist.

Damit gefährden sie das Wohl unserer gesamten Gesellschaft, weil einige wenige (immer zahlreicher werdende) Gesellschaftsmitglieder ihr eigenes Wohl oder Dafürhalten absolut setzen.

Unmögliches darstellen

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Glauben hat viel damit zu tun, das Unmögliche bildlich und sprachlich darzustellen.

„Das Unmögliche“, das meint: jene Zustände, die alle Menschen für ein erfülltes Leben brauchen, aber nur im „globalen Norden“ wenigstens erreichen können.

Und in letzter Konsequenz muss diese Darstellung, diese Benennung nur ein Schritt hin zur Verwirklichung sein.

Eine gerechte Welt darstellen? 

So habe ich in den letzten Wochen mit meinen 4. und 5. Klassen über Gerechtigkeit nachgedacht. Ein Thema, das alle trifft. Doch selten ist es, dass eine Schüler*in eine ungerechte Handlung einsieht. Meistens sind es die andern, die Ungerechtigkeit üben.

Anhand des Bilderbuches „Malalas magischer Stift“ habe ich eine Ungerechtigkeit besonders herausgegriffen: die Ungleichheit der Geschlechter, genauer: die Ungleichbehandlung der Geschlechter. Und natürlich die ungleiche Verteilung der Chancengerechtigkeit von Schüler*innen auf weltweiter Ebene.

In einem Kreativ-Impuls im Anschluss an die Geschichte sollten die Schüler*innen versuchen, eine gerechte(re) Welt zu visualisieren. Also: wie sieht eine Welt ohne all die Ungerechtigkeiten, die vor der eigenen Tür oder in Kandahar passieren, aus?

In „Malalas magischer Stift“ heisst es dazu so schön: „Zuerst würde ich Kriege, Armut und Hunger ausradieren.“ Die meisten Schüler*innen haben genau das getan: sie haben das Unrecht visualisiert und dann durchgestrichen (wie auf einem Verbotsschild).

Doch der Schritt hin zu einer Darstellung der so nötigen gerechten Welt kann nicht gelingen durch die Anerkennung des ungerechten Zustands, in dem leben. Auch ich habe mehr einen Wunsch dargestellt als eine ideale Welt: Auf meinem Bild stehen Donald Trump, Xi Jinping und Umar al-Baschir hinter Gittern und schreien um Vergebung und Hilfe und pinkeln sich voll vor Angst.

Tarnung hinter abstrakten Begriffen

Die Darstellung oder die Erzählung einer gerechten, friedfertigen Welt kann also nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie so lange nicht möglich ist, als wir nur das, was ist, vor Augen haben.

Als Lektor von Lyrik kämpfe ich immer wieder gegen so genannte „Hülsenwörter“ an (Herz, Seele, Leidenschaft, Zuversicht, Hoffnung, etc.). Diese Wörter sind so etwas wie „Platzhalter“ für allgemeine menschliche Zustände. Für den in der Gegenwart und besonders betroffenen Menschen aber sind sie nur leere Floskeln: beschreiben aussergewöhnlich ungenau seinen Zustand. Und dies ausgerechnet in dem Moment, da dieser sehr genau, konkret und spezifisch ist.

In der oben erwähnten Übung hat mich erstaunt, wie früh auch schon Schüler*innen mit solchen „Pseudo-Abstrakta“ umgehen und sich und ihre Gefühle tarnen. Gar nicht anders als wir Erwachsenen.

Natürlich ist es für mich nicht neu, dass Schüler*innen lernen, das zu sagen, was der Religionslehrer*in zu hören erwartet. Das führt ja immer wieder zu erheiternden Momenten. In diesem Fall handelt es sich meines Erachtens um etwas anderes: hinter Begriffen wie „Streit“, „Ungerechtigkeit“ oder „Krieg“ verbergen die Schüler*innen (und nicht minder wir Erwachsenen selbst) Zustände, die sie selbst vielleicht sogar schmerzlich betreffen.

Ich dringe in solchen Situationen immer auf Konkretion, auf konkrete Beispiele. Häufig erhalte ich in einer Klasse abstrakte, allgemein gehaltene Antworten auf genaue Fragen, in der ich gerade vor wenigen Minuten just „Streit“ und „Ungerechtigkeit“ (Mobbing und ähnliches) festgestellt habe. Spreche ich sie dann darauf an, stosse ich auf Verlegenheit oder aber auf Aussagen wie „Ja, aber das ist etwas anderes“.

(Diese oben gemachten Reflexionen lassen sich übrigens ebenso gut auf eine andere wichtige Debatte anwenden: die Klimawandel-Debatte. Wir können noch lange mit dem „Klimawandel“-Wort herumfuchteln – es wird sich erst etwas ändern, wenn jede/r nur noch konkrete Beispiele macht, um auszudrücken, was sie/er damit meint.)

Nicht glauben, konkret sein versetzt Berge! 

Im Visuellen flüchten Menschen hinter die vermeintliche faktuelle Feststellung des Ist-Zustands. Im Sprachlichen flüchten Menschen hinter abstrakte Begriffe.

Kein Wunder, fällt es uns Menschen schwer, eine Veränderung der Welt entweder in der Vorstellung / Fantasie oder in der eigenen unmittelbaren Wirklichkeit herbeizudenken oder herbeizuführen.

Wenn Jesus im Matthäus-Evangelium zweimal davon redet, dass Glauben Berge versetzen könne (Mt 17,20 und 21,21), so tut er das in der Zukunftsform: Es ist ihm bewusst, dass in den Menschen „dieser Welt“ und „dieser Generation“ der Zweifel dem Glauben die Waagschale hält.

(Und auch in diesen beiden Aussprüchen zeigt sich der unerschütterliche Optimismus Jesu: während ich sicher den Konjunktiv gewählt hätte, spricht er von etwas, das immerhin im Bereich des Zukünftigen liegt.)

Inzwischen bin ich nicht nur als Lektor von Lyrik, sondern auch als Religionspädagoge und gläubiger Mensch überzeugt davon: Erst wenn wir als Menschen lernen, dem Schlechten und Bösen nicht auszuweichen (bildlich und sprachlich), sondern es konkret zu benennen, werden wir auch sein so dringend benötigtes Gegenteil allmählich zu visualisieren lernen.

Und doch erscheint uns das Bild aus Jesaja von dem Kalb und dem Löwen, die gemeinsam und einträchtig nebeneinander weiden, fast lachhaft unrealistisch. Da beisst sich die Schlange in den Schwanz: denn dem Menschen ist das Böse und das Gute eigen, und er ist frei in der Wahl. Das wollte Gott von Anfang an so, wie es uns Bibel und Koran erklären.

Der Mensch ist eine schwankende Waagschale zwischen diesen beiden Polen. Es ist ihm gleichzeitig unmöglich, einen der beiden Pole auszuhalten. Genauso wie es ihm unmöglich ist, wunschlos glücklich wie wunschlos unglücklich zu sein, genauso ist es ihm unmöglich, von der umgebenden Wirklichkeit abzusehen und „aus ihr herauszudenken“.

Ob da der Glaube helfen wird? Da bin ich gewohnheitsmässig skeptisch.

Die Toten und die Toten

Ich wage mich hier einmal auf Glatteis.

Als Lyriker kenne ich das Gefühl, dass etwas im Unterbewusstsein wächst und grösser wird – und plötzlich ausgewachsen vor einem steht: als Gedicht oder halt nur als Gedanke.

Und manchmal, das habe ich bei André Breton gelernt, handelt die Wirklichkeit an einem, und nicht umgekehrt. Das ist dann, wenn „zwei mal zwei“ plötzlich fünf gibt. Das ist dann, wenn Dinge auf einen zukommen, die ansprechen, womit man sich gerade beschäftigt. Und es hat nichts mit der so genannten selektiven Wahrnehmung zu tun…

Schon bevor ich die Stelle in Dostojewskis „Verbrechen und Strafe“ gelesen hatte, wollte ich einen Blogeintrag über die Toten machen. Und die von meinem Blogeintrag „Gottesnärin Sofia“ ausgehende Thematik der Auferstehung hat dies noch verstärkt. Hier also meine Gedanken.

Die Stelle, um die es mir geht, steht genau vor meiner (immer noch) Lieblingsstelle im Evangelium, die ich sicher auch einmal noch thematisieren werde, der Austreibung der Legion Dämonen in dem Besessenen von Gadara (oder, bei Markus, Gerasa).

Es geht hier um die Nachfolge Jesu. Einer der Jünger möchte, bevor er Jesus definitiv nachfolgt, doch noch seinen Vater begraben. Jesu Antwort ist schockierend:

Folge mir nach, und lass die Toten ihre Toten begraben. (Mt 8,22; BigS)

Seit ich sie kenne, fasziniert mich diese Stelle. Aber ich sah nur immer das Eigentliche: die wirklichen Toten. Genau wie die Judäer in Joh 6,52 auf Jesu Aussage, das Brot, das von ihm komme, sei sein Fleisch, erstaunt antworten:

Wie kann er uns dieser seinen Köper zu essen geben?

Und sieht man in den „Toten“ die wirklichen Toten, unsere Verstorbenen, ist die Aussage Jesu auch wirklich unmöglich – oder, wie die Jünger als Antwort auf Jesu Brotrede in Joh 6,60 sagen:

Was er sagt, ist unerträglich. Wer kann das anhören? (EÜ)

Doch selbst, wenn man den Spruch ins Uneigentliche wendet, erscheint er unverständlich, unlogisch.

Welche Toten meint Jesus denn? Sollen die vielleicht schon verstorbenen Brüder oder Onkel des Vaters diesen begraben? Eine Art Geister-Bestattung?

Ich glaube heute, dass wir dieses Wort in Zusammenhang mit der oben zitierten Stelle aus dem Johannes-Evangelium verstehen können. Und noch eine Stelle hilft uns dabei – paradoxerweise, aber wesentlich:

Gott aber ist nicht Gott von Toten, sondern von Lebenden: für ihn sind alle lebendig. (Lk 20,38; BigS)

Halt, Halt!

Will ich mir hier weis machen, dass der Spruch von Mk 8,22 mit der Auferstehung der Toten zu tun hat?!

Will ich hier etwa zu glauben beginnen, dass Jesu Auferstehung uns alle zu Auferstehenden (Auferstehensfähigen) macht?

Ja, es sieht danach aus. Denn schauen wir nochmals auf die Stelle im Johannes-Evangelium zurück:

Amen, amen, ich sage euch: Wer glaubt, hat das ewige Leben. Ich bin das Brot des Lebens. Eure Väter haben in der Wüste das Manna gegessen und sind gestorben. So aber ist es mit dem Brot, das vom Himmel herabkommt: Wenn jemand davon isst, wird er nicht sterben. Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel herabgekommen ist. Wer von diesem Brot isst, wird in Ewigkeit leben. Das Brot, das ich geben werde, ist mein Fleisch, (ich gebe es hin) für das Leben der Welt. (Joh 6,47-51; EÜ; Kursiv von mir)

Und für die „Verstockten“ präzisiert er mehrmals, damit es auch ja klar ist, worum es hier geht. Auf das oben erwähnte Erstaunen antwortet der Rabbi noch einmal, jetzt sehr deutlich:

Der Geist ist es, der lebendig macht; das Fleisch nützt nichts. (Joh 6,63; EÜ)

Das ist, mit Verlaub, schon fast paulinisch! Hören wir Paulus selbst:

Sie (die Unrecht handelnden Menschen) kennen die gerechte Ordnung Gottes genau, nach der diejenigen, die so handeln, der Macht des Todes ausgeliefert sind. (Röm 1,23; BigS)

Will heissen: Wer vertraut in Gott, tut das, was Gott in der Tora, in den Weisungen festgelegt und geheissen hat – von sich aus, ohne die Tora näher zu konsultieren. Und wer dies tut, steht nicht in der „Macht des Todes„. Er hat das ewige Leben im Glauben, wenn man so will.

Was für ein weites Feld! Mir dreht sich der Kopf. Ich bin ein wenig wie ein Hund, der seinen Schwanz jagt.

Lassen wir nochmals Paul ran und versuchen einen Abschluss…

Oder wisst ihr nicht, dass alle, die wir in den Messias Jesus hinein getaucht wurden, in seinen Tod hineingetaucht wurden? Durch das Untertauchen sind wir mit ihm zusammen in den Bereich des Todes begraben. Jetzt können auch wir in erneuertem Leben unseren Weg gehen, genauso wie der Messias von den Toten aufgeweckt wurde durch die Gegenwart Gottes. (Röm 6,3f.; BigS; Kursiv von mir)

Das Leben ist ein Traum. Das wussten die Barock-Dichter und -Künstler alle. In Fülle malten sie es aus und wussten um seine Unwirklichkeit. Je unwirklicher, umso heller musste die Gegenwelt des Messias strahlen. Je detailverliebter und wirklichkeitsverliebter die „reale Welt“, in der gestorben wird, umso deutlicher wurde die Gegenwelt. Nicht wahr?

Die Toten aber, die ihre Toten begraben sollen? Das sind wir.

Wir, denen der Glaube nicht leicht fällt, die um Gerechtigkeit wissen, sie aber nicht umsetzen.

Die Toten, das sind diejenigen, die nicht in die Auferstehung des Messias vertrauen.

Die Toten, das sind jene, die an die Wirklichkeit des Fleisches glauben, an die Wirklichkeit(en) der Wirklichkeit, an die Realität(en) dieser Welt.

Die Toten, das sind jene, die schlafen, wenn sie leben.

Das Leben aber haben jene, die nicht an die Gesetze dieser Welt glauben, weil sie an die Gesetze Gottes glauben.

Und darin – befreit sind.

Oh ja, sollen doch die Toten ihre Toten begraben!

(Und als kleines Augenzwinkern: hatte ich nicht im letzten Blogeintrag genau diese Stelle erwähnt im Johannes-Evangelium – Joh 6,27 -, und in einem ganz anderen Zusammenhang? Ja, das ist kein Zufall, das ist schon fast Zeichen. André Breton sei gegrüsst.)

Es spricht nicht…

Zur Freiheit hat uns der Messias befreit, steht also aufrecht und lasst euch nicht wieder unter das Joch der Sklaverei fangen. (Gal 5,1; BigS)

Vor ungefähr einem Jahr hat mich dieses 5. Kapitel des Galater-Briefs regelrecht angesprungen, angeschrieen. Die Botschaft ist direkt und „grädi-use“: die Freiheit durch Jesus ist eine Tatsache, daran lässt sich gar nicht rütteln.

Diese Sätze beglücken sofort. Sie wirken befreiend.

Ja, aber wirken sie nach? In unser Leben hinein, in unser Handeln hinaus?

Ich habe diese Woche wieder einmal eine kleine Erweckung gehabt. In einem Vortrag an der Uni wurde die Befreiungstheologie vorgestellt. Dabei wurde folgende Anekdote vorgestellt:

Die Spanier treffen in Peru auf den (letzten) Inkakönig Atahualpa. Sie präsentieren ihm die Bibel mit den Worten: „Das ist das Wort Gottes“. Atahualpa ergreift das Buch und hält es sich ans Ohr und lauscht am Buch. Dann sagt er: „Es spricht nicht!“, und er wirft die Bibel auf die Erde in den Staub.

Es spricht nicht…!

Ich musste daran denken, wie oft der Spruch fällt, dass die Bibeltexte in ihrem historischen Umfeld verstanden werden müssten. Damit werden sie entschärft und können schlecht auf die Zustände heute angewandt werden. Oder die Kinder und Jugendlichen verstehen die Bibeltexte nicht, weil sie nicht gelernt haben, symbolische Aussagen zu verstehen und im Alltag, in der Wirklichkeit anzuwenden; weil sie im Alltag und in ihrer Wirklichkeit, so denke ich böse, keinen Anlass zum uneigentlichen Sprechen oder Denken haben.

So verklingt das Wort selbst in der Kirche während des Gottesdienstes „ungehört“. Das Wort hat nicht gesprochen, wenn man so will.

Wie sagt Jesus immer wieder?

„Die Ohren haben zu hören, sollen genau hinhören!“ (z.B. Mk 4, 9; BigS)

Wie aber klingt das Wort? Genauer: wie erklingt das Wort für uns Westler, für uns Agnostiker, Skeptiker und Zyniker? Können wir die Unmittelbarkeit der Schrift, der „guten Botschaft“ wirklich wieder fühlen und fühlbar machen?

Lauter Fragen.

Die Befreiungstheologie redet von dem Dreischritt VER-JUZGAR-ACTUAR, also (An-) Schauen, Urteilen, Handeln. Sie sieht die Schrift wirklich noch als Grundlage für unser Urteilen und Handeln.

Ich will jetzt gar nicht auf ihre anderen Botschaften eingehen, auf die strukturelle Sünde oder die Option für die Armen. Diese gehen für mich (und für uns als Menschen des Nordens) in Richtung eines ethischen Verhaltens (Fairtrade, Umweltschutz, etc.).

Nein, mir geht es direkt um die Wirkung der Schrift. Trauen wir uns, ihre Botschaft hinauszutragen, Gott in unserem Alltag zu verwurzeln und in unserem Wort? Lesen wir die Bibel auf ihre befreiende, gerechte Botschaft und vor allem: auf ihre Wirksamkeit, ihre Anwendung hin?

Danach sehne ich mich; danach strebe ich, erklang es gestern in mir. Und was hindert dich daran, fragte ich mich. Ja, was? Für einen Freak gehalten zu werden, weil man das Wort Gottes anzuwenden versucht und es aus-spricht?

Ich bin gespannt, wie die Befreiungstheologie in unsere Welt des Nordens und Überflusses, des relativen Reichtums und der Ansprüche von Leistung und Nutzen hineinzutragen ist. Bis dahin halte ich mich (schon wieder!) an meinen Paulus:

Gesät werden Menschen in eine zerstörbare Welt, wahrhaft Lebendige stehen auf. (1 Kor 15,42; BigS)

Ein dunkler Gott?

In grosser Wut durchschreitest du die Erde,

im Zorn zertrittst du die Völker. (Hab 3, 12)

Ich liebe dieses Klage- und Zornlied des Propheten Habakuk! Diese poetische Verve, die hier anklingt; die Bilder-Kraft und die Macht dieses Gottes! Da ist ein Schöpfergott sehr wütend…

Das ist der Gott des Alten Testaments, würden viele sagen oder denken. Ein boshaft-eifersüchtiger Gott, ein Gott der Vergeltung, der Übertretungen der Tora, der göttlichen Weisungen, streng und sofort bestraft. Und doch ein Gott des Erbarmens sein kann. Gleichzeitig.

Ja, gleichzeitig:

Ich aber will mich über Gott freuen –

ich will jubeln über die Gottheit, die mich rettet. (Hab 3, 18)

Vergeltung und Erbarmen, Strafe und Verzeihen – das sind die beiden Extreme, zwischen denen dieser gerechte Gott hin und her pendelt. Dass das Erbarmen dabei nur jenen zugemessen ist, die selbst gerecht sind (die Tora beherzigen), mindert in keiner Weise seine Kraft und seine Wut, es macht sie für den Christen, der so gerne an einen überaus milden, linden, „lieben“ Gott glauben möchte, nur noch schwerer verständlich.

Wie kann ein Gott denn strafen und verzeihen, ein Gott, der doch nur durch Vertrauen schon „gerecht spricht“, wie das Paulus in seiner gewundenen Theologie in den westlichen Glauben eingebrannt hat (Röm 1, 17)?

Doch kehren wir nochmals zu meiner Freude über dieses Strafgedicht zurück. Die Macht dieses Gottes hat daran einen wesentlichen Anteil. Ein mächtiger Gott ist eine stärkere Stütze als ein gütiger Gott, könnte man meinen. Ich würde dem entgegenhalten: nur ein gütiger Gott, der auch mächtig ist, kann eine wirkliche Hilfe für den Glaubenden darstellen. Darstellen – ja, darstellen.

Wir mögen uns unterschiedliche Bilder von Gott machen, ihn uns und den andern verschieden darstellen – und dabei immer wieder nur eine Ecke seiner Person (oder Persönlichkeit?), einen Bitzen seines Schleiers zu charakterisieren vermögen.

Gott aber ganzheitlich zu sehen, meint m. E. gerade etwas anderes: seine Vielfalt, seine Libellenaugengestalt, seine unsichtbaren Fremdheiten in den eigenen Glauben hineinzunehmen versuchen. Eine Bibellektüre zu üben, die alle Spielarten dieses vielgestaltigen Gottes möglich macht.

Meine Freude über Gottes Vergeltung, über den „bösen“ Gott hängt sicher einerseits damit zusammen, dass das Böse immer spannender ist als das linde und gutmenschige Gute. Die Freude kommt auch daher, dass unser Leben keineswegs der Spaziergang übers Feld ist, den uns die Kirche und ihre Lehrmeinung immer wieder gehen lassen möchten: sei brav, sündige nicht usw. usf., dann wird Gott dich anschauen… Diese Weltsicht hat keinen Platz für unsere Verfehlungen, ohne die wir nicht jene sind, die wir sind: Menschen. Diese katholische Weltsicht hat auch mich geprägt: gut sein, dann wird schon alles gut.

Die dunkle Seite an Gott zu erkennen und bestmöglich anzunehmen versuchen, heisst auch, nicht ständig an der Theodizee zweifeln zu müssen, daran, dass es Schlechtes gibt auf der Welt, viel zu viel Schlechtes. Ein Gott, der dunkel sein kann und zugleich auch hell, entspricht weit mehr dem alltäglichen Erfahrungshorizont, der alltäglichen Wirklichkeit der Welt.

Und wie sehr brauchen wir Menschen dann auch gleichzeitig das Gefühl, doch zu den guten, den gerechten, ja zu den auserwählten zu gehören! (Ob jetzt theologisch, politisch, sozial oder ökonomisch gesprochen – ist ja alles eins.)

In diesem Lied des Habakuk wird genau dies ausgedrückt, so scheint mir, und in vielen Psalmen auch: die andern sind schlecht, auch ich bin schlecht, aber schau an, Gott, ich mühe mich ja, schau mich an und erlöse mich aus diesen andern, die nicht besser sind als ich!

Lass mich, sagt dieses Lied, zuerst das Schlechte malen und darstellen, und mich dann herauszuheben – gestützt auf das Vertrauen in dich, Gott.

Und letztlich ist es ja doch so, wie mein anderer Liebling, Kohelet, sagt:

All das widerfährt allen gleichermassen: Ein und dasselbe Schicksal ereilt die Gerechten ebenso wie diejenigen, die das Recht brechen… (Koh 9, 2)

Das hat nichts Häretisches oder Willkürlich-Bösartiges – als wäre Gott ein willkürlicher, halb abwesender, halb aufbrausender, unentschlossener und wankelmütiger Herrscher… Es ist Eingeständnis, dass jeder das Verhältnis zu ihm selbst finden muss, selbst erkennen kann, was „gut“, was „gerecht“ ist in den Augen dieses mächtig-gleichgültigen und gleichzeitig gütigen Gottes. (Ein Wortspiel: Gott ist gleichgütig.)

Natürlich bleibt die Frage im Raum, ob ein solcher gegensätzlicher Gott eine Person sein kann, ob es sich da um eine Schizophrenie handelt. Ob ein solcher Gott sich überhaupt einmischt. Ob ein solcher Gott Tsunamis schickt oder doch nicht; ob ein solcher Gott zulässt statt zu gestalten.

Habakuk hätte vermutlich dem alten Deutungsmuster zugeneigt, wonach Gott straft: alle Unbill, alles Unglück ist Ausdruck seines Missfallens. Wir modernen Menschen haben uns emanzipiert von diesem Gottesbild, bleiben aber, wie ich, von ihm fasziniert.

Ein solches schizophren-vielfältiges, schizophren-vielstimmiges Gottesbild hilft mir (uns) dabei, einen Dialog mit Gott zu führen. Ein einseitiger Gott, ein festgelegter Gott kann nicht dialogisch verstanden werden. Nur ein Gott, der wie wir Menschen selbst eine Persönlichkeit hat, die Schatten und Licht kennt, kann ein Gesprächspartner sein. Nur ein Gott, der anklagbar, angreifbar und (letztlich) umstimmbar ist, kann ein lebender Gott sein.

Und nochmals sagte er: Mein Herr zürne nicht, wenn ich nur noch einmal das Wort ergreife. Vielleicht finden sich dort {in Sodom} nur zehn {Gerechte}. (Gen 18, 32)