Ich bin vom unbewussten und heimtückischen Mechanismus der strukturellen Sünde überzeugt. Sie ist ein gesellschaftliches Hyperobjekt, dessen wichtiges, wandelfähiges und stetig in Bewegung befindliches Bauteil auch das Patriarchat ist.
Im Rahmen dieser systemischen Struktur kannst du nicht anders als sündig werden, Sünde auf dich laden.
Gewiss bin ich mir bewusst, dass ich als Mensch ein „Mängelwesen“ bin, ein Wesen voller Fehler und Schwächen. Und ich teile die Zweifel jener, die die Konzeption und Schöpfung eines solchen Wesens als fragwürdig verstehen – ebenso wie sie erkennen, um was für eine grossartige Geste es sich dabei handelt: einem Wesen mit Mängeln und Schwächen die Verantwortung für gutes und schlechtes Handeln zu verleihen, die Freiheit in Verantwortung wahrnehmen und ausleben zu dürfen.
Doch die Sünde, von der die meisten Religionen sprechen, die private, persönliche Form von Vergehen gegen Gott, findet nicht meine Zustimmung.
Im Rahmen jedoch diese systemischen Sünde kannst du durchaus und in vielfältigen Formen Schuld auf dich laden: sündig sein.
In meiner derzeitigen Lebensphase beschäftigt mich unter all den systemischen Sünden jene des Nicht-Hin-Hörens auf die andere am meisten.
Denn meistens bist du nicht von dir so erfüllt, dass die Worte oder Äusserungen gar nicht bis zu dir gelangen können. Du erwägst schon eine Entgegnung, bevor die andere ihren ersten Satz fertiggesprochen hat. Du legst in die Äusserung oder das Wort der anderen so viel an eigenem Vorverständnis, Vorurteil und Vorwegnahmen, dass die Aussage oder das Wort bei dir nur verstümmelt ankommen kann. Mit dieser Erwiderung schiesst du vermeintlich scharf zurück (denn Reden ist Krieg) und nimmst vor lauter Überzeugung nicht wahr, dass du ins Leere geschossen hast.
Du hörst nicht das, was die andere sagt. Was du hörst, stammt von dir
Ich selbst habe diese Form von Einweg- bzw. von Wegwerfkommunikation jahrelang praktiziert (und tue das immer noch viel zu häufig und intuitiv, scheinbar wehrlos der Sünde ausgeliefert). Seit einiger Zeit versuche ich, mich selbst bewusst auszubremsen, Geduld zu haben. Doch ich versuchen nicht nur auf das Aus-Sprechen der anderen zu warten, was wirklich manchmal, vor allem, wenn es sich um eine um Klarheit und Wahrheit bemühtes Ausdrücken handelt, das seine Zeit braucht, durchaus anstrengend sein kann. Ich versuche, wirklich und in der Tat auf die Botschaft zu lauschen, die bei mir ankommen will.
Und muss mich beherrschen, die Untertöne und Unterstellungen, die ich gewohnt bin in jeder menschlichen Äusserung zu hören, eben gerade weg- und nicht zu hören. Denn die Untertöne, die Unterstellungen sind Beigaben, Beigemüse zur menschlichen Rede, die aus dir selbst kommen – und nicht immer nur aus der anderen.
Das vorurteilsfreie An- und Zuhören ist etwas vom Schwierigsten, was es in meinen Augen für einen Menschen gibt. Von früh auf trimmst du dich auf gesellschaftliche Aufmerksamkeit. Von früh auf achten deine Ohren auf das Ungesagte und „unterschwellig“ Gemeinte – kurz, auf geheime Botschaften an dich, die dir helfen sollen, dich in Bezug und in Beziehung zu der anderen verhalten. Nur hin und wieder wird dir aufgrund einer Reaktion (Bestürzung oder Beleidigung) deutlich, dass das meiste, was du verstehst, von dir stammt – und nicht von der anderen.
Die Sünde von einer einzigen Frage entlarvt
Es gibt diesen wundervollen Fragesatz aus dem Johannes-Evangelium: „Warum schlägst du mich?“ (Joh 18,23)
Jesus sagt diesen Fragesatz, als er vor dem Oberpriester steht. Ein Soldat will ihn für eine vermeintliche Unbotmässigkeit oder eine anscheinende Frechheit züchtigen und hat ihn ins Gesicht geschlagen.
Jesus Frage trifft den Kern des oben gesagten: achte darauf, was gesagt wird und nicht darauf, was du verstehst (oder verstehen möchtest). In gewisser Weise trifft den Soldaten nur bedingt eine Schuld. Er verhält sich „systemisch„: reagiert also so, wie er es in seiner gesellschaftlichen Stellung gelernt hat, nämlich: im Sinne der Macht, die er repräsentiert, im Sinne der Gewalt, die ihm verliehen ist.
Jesus hat in Tat und Wahrheit „nichts Unrechtes“ gesagt (wie es in der Guten-Nachricht-Bibel steht). Er hat dem Oberpriester nur vor Augen geführt, wie unehrlich seine Frage war. Die Frage sollte nicht in einen Disput, in eine öffentliche Argumentation führen, sondern versuchen, Jesus mit seinen eigenen Worten zu fangen. (In die hineingelegt wird, was du verstehen willst.)
Dabei handelte es sich um Pharisäer, also Menschen, denen das Gesetz über alles stand: sie waren Buchstabentreue. Ihre Furcht war es, Jesus könnte eine politische Bewegung auslösen (nicht anführen), die die Römer zum Einschreiten gegen die Mächtigen im Land (Rat und Priesterschaft) zwingen würde. (Siehe dazu Joh 11,47-48.)
Mit seinen Worten einfangen: sie warteten darauf, ihre Interpretation in die Worte hineinlegen, die Jesus sagen würde. Sie waren bereit, seine Worte ebenso buchstäblich zu verstehen wie später Pilatus in seiner Frage: „Wahrheit – was ist das?“ (Joh 18,38a) Auch Pilatus will nur Aussagen, die eine Interpretation für ihn leicht machen: statt nach der Art des Königreichs zu fragen, will er wissen: „Du bist also doch König?“ (Joh 18,37)
Wenn ich jetzt die johannäische Gerichtsgeschichte lese, wird mir mehr denn je klar, wie Kommunikation in einem Machtgefälle nicht gelingen kann. Bis zur endgültigen Hinrichtung von Jesus liest du lauter vorsätzliche Interpretationen und voreingenommener Fragen. Das geht bis zum berühmten Ausspruch Pilatus: „Was ich geschrieben habe, habe ich geschrieben.“ (Joh 19,22)
Retrospektiv und mit meiner heutigen Lebenshaltung ist das schon fast ein Motto-Satz: „Was ich gesagt habe, habe ich gesagt“: Pilatus verweist implizit darauf, was er verstanden hat; niemand hat ihn eines anderen belehrt. Selbst Jesus redet nicht mit Pilatus. Fast schon verzweifelt fragt dieser: „Willst du nicht mit mir reden?“ (Joh 19,10)
In der ganze Passionsgeschichte, so scheint es mir jetzt, wird deutlich, wie vorgefasste Meinungen und buchstabentreue Vorurteile eine Kommunikation verhindern. Jesus scheint schliesslich sogar Wittgensteins Diktum: „Worüber man nicht sprechen kann, darüber soll man schweigen“ (Tractatus logicophilosophicus) in die Tat umsetzen zu wollen – als pure Geste der Verweigerung.
Die Sünde wider den heiligen Geist, von der Jesus in MK 12,32 so warnend spricht, ist vermutlich genau dies: Die schlimmste aller Sünden ist jene, die der Sprecherin die Macht über ihre eigenen Worte nimmt, indem alle Aussagen bereits mit vorgefertigten Bedeutungen übereinstimmen.
Sicher sind „Hülsenworte“ wie „Wahrheit“ (und letztlich auch „Macht“ oder „Sünde“) per se aussergewöhnlich gefährlich, weil sie eben gerade sich jeder „Füllung“ anbieten.
Befreiung von eigener Deutungshoheit und geduldiges Hinhören als Rezept?
„Sprache ist immer auch Gewalt“, habe ich vor kurzem geschrieben. Dies sehe ich auch weiterhin so. Im Rahmen der systemischen oder strukturellen Sünde wäre es unglaublich wichtig, dich aus dieser gewohnten und eingeübten Deutung von Worten und Aussagen zu befreien einerseits und andererseits der anderen ihren Raum für ihr Sprechen zu lassen.
Vielleicht, so denke ich, hat Jesus gerade deshalb geschwiegen statt sich zu verteidigen, weil er um dieses System der Selbsterfüllung wusste. Und im Schweigen auch gewusst: selbst dieses Schweigen kann / muss falsch verstanden oder „gelesen“ werden (mindestens in zweifacher Hinsicht: als Zustimmung zur Anklage oder als Protest dagegen). Sogar von seinen eigenen Nachfolgerinnen.
Trotz aller Einwände gegen das Sündigsprechen des einzelnen Menschen muss ich dennoch davon reden, dass du dich wehren kannst. Du kannst in kleinen Schritten versuchen, dem andern Sprechen Raum zu geben und nachzuhorchen, was da in der Tat gemeint ist / sein könnte: Nachfragen, hinhören statt erwidern und entgegnen. Damit würdest du Teil einer Minderheit, die hoffentlich immer stärker wird, einer Minderheit, die aus der Struktur der Sünde ausbrechen will. Und die schlimmste Sünde nicht länger begehen will.