Demenz: Person und Fremdbestimmung

Seit gut drei Jahren ist mein Vater nun schon an Alzheimer erkrankt. In diesem Jahr war er bereits dreimal im Krankenhaus, wegen Stürzen und Krankheit. Beim dritten Mal wurde er nun vom Spital als „fremdaggressiv“ diagnostiziert und in eine psychiatrische Anstalt überwiesen. Dort soll er „stabilisiert“ und „richtig eingestellt“ werden. Laut den Ärzten könne das zwei bis drei Wochen dauern. Im Anschluss würde mein Vater in ein Alters- und Pflegeheim überstellt, das eine Demenz-Abteilung hat.

Seit dem Eintritt in die psychiatrische Klinik hat sich die geistige Situation meines Vaters rapide und drastisch verschlechtert, die „Fremdaggression“ ist jetzt ausgeprägter. Das heisst, er reagiert auf alles Fremde (Mensch oder Ding) mit Aggression(en). Er versteht seine Situation nicht, vermag seinen Aufenthalts-Ort auch nicht zu begreifen; er weiss nicht, warum er in der Klinik ist. Die alten Menschen mit Demenz, die auf seiner Station eingewiesen sind, unterscheiden sich von ihm selbst nur darin, inwiefern sie ihrer eigenen Person noch zeitweise habhaft werden können.

In der Woche seit seiner Einweisung fiel die Person meines Vaters zunehmend auseinander. Seine Wünsche und Bedürfnisse werden kaum noch geachtet. Sei gelten nichts mehr, gelten nicht mehr als die flüchtigen Illusionen eines halluzinierenden Gehirns; Illusionen, die keinen Stand mehr in der Wirklichkeit, in der Möglichkeit der Verwirklichung haben dürfen, wie es mir scheint. (In einem Gespräch hat er mir z.B. gesagt, er würde gerne noch einmal mit mir und seiner Frau durch den Herbstwald spazieren. Dass er von „noch einmal“ gesprochen hat, scheint mir ein Zeichen dafür zu sein, dass er sich seiner endlichen und unausweichlichen Demise bewusst ist.)

In den Augen der Psychiater ist mein Vater keine rechtliche Person mehr, weil er seine (eigenen) Rechte und Pflichten nicht mehr wahrnehmen kann; er ist nicht mehr urteilsfähig. Das ermächtigt sie dazu, über seine Art zu leben (und zu sterben) zu entscheiden. Durch diese Macht sind die Angehörigen, zuvörderst meine Mutter, ebenfalls in gewissem Sinne entmächtigt worden. Für meinen Vater ist die Fremdbestimmung total.

Dass sie dies (zu seinem eigenen und anderer Schutze) sein muss, liegt u.a. daran, dass mein Vater seine Person immer weiter verliert. „Die Person als unteilbare Substanz eines vernünftigen Wesens“, wie sie Boethius definierte, kommt ihm im Laufe seiner unweigerlich und unhinderbar fortschreitenden Krankheit abhanden. Zwar nimmt er sich weiterhin als ein „Ich“ wahr, kanns ich dieses Ich (mit Kant zu sprechen) vorstellen und erhebt sich damit über Steine, dennoch hat er keinen Zugriff auf die Realität mehr. (In einem Gespräch mit einem untersuchenden Arzt hatte er genau diese Frage gestellt: „Ja, was ist denn Realität?“ Es hatte die Zuhörenden alle erstaunt und sie zum Lächeln gebracht, selbst den Arzt.)

Mit Zugriff auf die Realität meine ich letztlich, dass er sich nicht mehr orientieren kann. Seine Weltsicht ist dadurch schwankend und unsicher geworden. Was er wahrnimmt, kann er vermutlich noch beurteilen, einordnen. Aber er verliert in gewisser Weise das Wissen vom Handeln, von den Folgen des Handelns. Auf das Einordnen folgt keine Handlung; das Erkennen ist nicht mehr direkt mit dem Folgern verbunden.

Noch blitzen wohl Teile seiner Person auf. So, wenn er plötzlich in Gedichtrezitation ausbricht. Oder wenn er in eine altbekannte Tirade gegen die anderen ausbricht. (In letzterer zeigt sich die Einsamkeit und bewusste Entfremdung von seinem oder gar einem gesellschaftlichen Leben, wie es z.B. mit Freunden möglich ist.) Doch sehe ich gut, wie seine Äusserungen von äusserlichen Reizen angestossen werden, – wie der herbstschöne Jura vor den Fenstern der Klinik den Gedanken an einen Herbstspaziergang im Wald hervorrufen kann. Die Reize wecken Wünsche, deren unmögliche Verwirklichung ihm nicht bewusst ist.
Dennoch frage ich mich, und es ist eine allseits schmerzliche Frage, die sich jeder Angehörigen eines dementen Menschen stellt, mit welchem Recht mein Vater in so kurzer Zeit entmündigt wurde, entmündigt werden musste (zu seinem und meiner Mutter Schutze).

Äussert er doch mit einiger Dringlichkeit zum Beispiel den Wunsch, meine Mutter zu sehen, weint, wenn sie kommt vor Freude oder Erlösung, will mit ihr nach Hause.

Allen ist klar, dass das nicht möglich ist (ausser ihm). Dennoch: ist dies nicht ein letzter Teil seiner Person, aus den 50 Jahren Eheleben mit meiner Mutter gewonnen? Ein letzter Teil seiner Person, der unbedingt respektiert und gewürdigt werden sollte?

Selbst dieser innigste, ja zutiefst menschliche Wunsch eines dementen Menschen muss ignoriert werden, als handelte es sich dabei um ein unvernünftiges Kind, das immer wieder Ausflüchte und Ausreden findet, um noch ein weniger aufbleiben zu dürfen?

Für Tausende von Menschen mit Alzheimer und Demenz gilt das Recht auf Selbstbestimmung nicht mehr, das wir in unserer Gesellschaft fast zu einem Gott erhoben haben (man denke nur an die Sterbehilfe-Organisationen). Schleichend haben sie dieses Recht ohne eigene Schuld eingebüsst, wird es ihnen allmählich entzogen. Mit ihnen verlieren es auch in gewissem Masse die Angehörigen: jetzt entscheiden Fachleute (die Ärzte) über ihr eigenes Schicksal und das ihrer Liebsten.
Und mit der Selbstbestimmung verlieren sie auch den letzten Rest an menschlicher Würde.

Ich sehe meinen Vater auf der Schwelle seines Zimmers stehen, mit einem grossen Schmerz im Gesicht, der halb aus Unverstehen stammt, leicht vornübergebeugt, als müsse er gleich losrennen, um uns einzuholen, die Hände hängen an seiner Seite hinunter, ein Abschied ist nicht möglich. Er versteht nicht, wohin wir gehen, warum wir gehen müssen. Es ist ihm nicht mitzuteilen. Die wenigen Augaufschlänge lang, da er durch uns wieder weiss, wer er ist, sind vergangen.

Ist er denn nur noch eine Art von Körpermaschine, der man keine Person zugestehen vermag, ein Insekt, das man lenkt? Sein ganzes Gesicht erzählt noch von ihm, seine Stimme, seine Bewegungen, aber seine Person ist zerfallen.

Verfügt er wirklich über keine Person mehr?

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Danke an geralt für das Foto.

„Aufhören zu siegen“

Ich bin nicht gerade ein Liebhaber der Radiopredigt, wache aber sonntags meist mit ihr auf. Heute hat sie mich speziell angesprochen und beeindruckt.

Sie erzählt von der Hoffnung, sich der Liebe und der Endlichkeit übergeben und damit leben zu können.

Hier der Link zur Radiopredigt von Theologin Adrienne Hochuli Stillhard.