Glauben ohne Konfession XI: Glauben in der Überschau

Der Begriff des Glaubens ist in meinen Augen einer der schwierigsten. Dies ist er aus vielerlei Gründen.

Der Glauben als Lebens-Einstellung und das Glauben als aktive Seelen- oder Vernunftbewegung werden in den monotheistischen Offenbarungsschriften immer wieder als ursprünglich-instinktive, als gefühlsmässig-hörende oder -gehorchende Handlung und Haltung verstanden.

So sagt Jesus zur Frau mit dem Blutfluss: „Meine Tochter, dein Glaube hat dich gerettet.“ Und zum Synagogenvorsteher: „Fürchte dich nicht! Glaube nur!“ (Mk 5,34 und 5,36 in der EÜ)

Glauben als Vertrauen und Annehmen

Trotz meines Widerstands gegen den Begriff des Gehorchens – der in meinen Ohren zu dem des Aufmerkens und Hinhörens umformuliert werden sollte -, und trotz meines aufgeklärten, mündigen Verstandes, dem Wunderheilungen – und noch dazu durch blosses Glauben an die Heilung! – im Mindesten suspekt sind, trotzdem habe ich mir immer wieder von Neuem einen Reim darauf zu machen versucht.

Zuletzt habe ich „glauben“ mit „vertrauen“ einerseits und mit „annehmen“ andererseits gedeutet. Das meint, „vertrauen auf Heiling im zeitlichen Nun und Rettung im Bezug auf Letztes“. Das heisst, „in der Annahme von Schmerzen, „Anfechtungen“ oder „Versuchungen“, von Todesängsten und Krankheiten, als im Bejahen des Bösen, das dir geschieht, erweist du dich als gottnaher, gottwürdiger Mensch“. In diesem Sinne hat „annehmen“ grosse Ähnlichkeit mit Demut und Geduld, den beiden Seiten der gleichen Medaille. (Mit Gehorchen hat es dann nichts zu tun, wohl aber mit dem erduldenden, ertragenden Leiden im Wissen auf eine endliche Lösung oder Rettung hin.)

Dabei muss immer klar sein, dass sowohl die Haltung als auch die Bewegung namens „Glauben“ eine entwicklungsoffene, eine nie abgeschlossene ist. Der Gläubige, der seinen Glauben „gefunden“ hat und sich darin „einnistet“ (seines Glaubens und seines Gottes gewiss ist), der glaubt bereits nicht mehr – ist ein Kafir, ein Pharisäer.

Flieg auf, kleiner Vogel!

Im Gespräch über einige Predigten von Meister Eckhart nun glaube ich einen solchen Entwicklungsschritt getan zu haben – oder noch zu vollziehen. Verortete ich den Glauben / das Glauben bisher hauptsächlich in der Person der Glaubenden – also als eine Haltung und Handlung im Dienste der glaubenden Person -, so verstehe ich den Glauben und das Glauben nun als ein „Herausheben aus der Person“.

Was meine ich damit?

Wenn ich Eckhart „folge“, auf ihn „höre“, ist es mir als Geschöpf möglich, auf meinem „Seelengrund“ (in meinem „innersten Menschen“, wo ich nicht mehr Person bin) in der Leere vom Kreatürlichen zu Gott zu finden, „den Sohn einzugebären“; jedoch nur, wenn ich mich von Person und naturhaften Neigungen und Fähigkeiten „entblösst“ habe.

Laut Eckhart ist dies der Moment – eben das Nun -, in dem Gott sich zu mir Kreatur und Geschöpf herabneigt, herabkommt in mich hinein; der Moment, in dem ich mit Gott eins werde.

Und in diesem Nun nun, das über Zeit und Raum west und webt, stehe ich selbst über Raum und Zeit. Ich befinde mich in der „Fülle des Lebens“, im „Reich Gottes“, in der „Ewigkeit“ sogar.

Ich (nicht die weltliche, materielle Person) bin wie ein Falke, der sich hoch in die Lüfte schwingt und mit seinem geistigen, geistig geschärften Auge die ganze „Landschaft“ oder „Strecke“, den ganzen „Lauf“ seines Lebens, aller Leben aller Kreaturen oder Geschöpfe „über-schaut“.

Dieses aus sich selbst mit und in der Gnadenbewegung Gottes, der sich mir zuneigt, bei dem ich Wohlgefallen finde, Herausheben ist der Glaube, das Glauben.

Denn im Überflug, in der Vogelschau gelingt es mir (erst?), den ganzen Lauf und die ganze Breite meines vergangenen, vergessenen, verlorenen, gegenwärtigen und künftigen Lebens zu betrachten und verstehen: ich erkenne, wie viele Mäuse ich zu Elefanten erklärt habe, zu unüberwindlichen Bergen oder unergründlichen Schluchten.

Und in diesem absichtslosen Aufflug hinunter und gleichzeitig hinauf zu Gott glaube ich ganz und gar, und meine Leiden, Krankheiten und Versuchungen fallen wie Schuppen von mir ab, denn von dort oben und von hier unten sehe und weiss ich mich ganz und gar ungefährdet und im Guten.


(Image by Beto from Pixabay.)

Sonntagsstelle: Eingebären

Seit etwa einem Jahr kommt die Mystik mir näher, nähere ich mich der Mystik an. Ich lerne sie als eine Form der Annäherung kennen, die mir die HEILIGE in anderen Weisen näherbringt. Ich lerne die Mystik – und vor allem das mystische Sprechen – als eine neue Form des Ausdrucks kennen, die mich in die Einfluss-Zone der WEISHEIT einführt.

(Dass ich diese Entwicklung, dieses Anpirschen nicht alleine mache, hilft mir sehr, einerseits geerdet und andererseits angespornt oder herausgefordert zu sein und bleiben. Viele der Gedanken, die ich hier zu erfassen versuche, stammen aus den Diskussionenen mit meinen Freundinnen Y.F. und C.T. Ihnen verdanke ich steten Anstoss und Anregung, die mich in Bewegung halten.)

In der heutigen Sonntagsstelle will ich nachdenken über ein komplexes Verhältnis-Gebäude, das Meister Eckhart aufgebaut hat.

Ganz so sollte der Mensch dastehen, der für die allerhöchste Wahrheit empfänglich werden und darin leben möchte ohne Vor und ohne Nach und ohne Behinderung durch alle Werke und alle jene Bilder, deren er sich je bewusst wurde, ledig und frei göttliche Gabe in diesem Nun empfangend und sie ungehindert in diesem gleichen Lichte mit dankerfülltem Lobe in unseren Herrn Jesus Christus wieder eingebärend.

Meister Eckhart, Predigt 1, Intravit Jesus in templum et coepit eicere vendentes et ementes; Hervorhebung von mir

Ich möchte hier versuchen, diese komplexe Bewegung des Menschen hin zu G_TT in meinen eigenen Worten, in meiner eigenen Sprache zu verstehen.

Werke und Bilder

Meister Eckhart befindet sich mit dem Gedanken, sich von der irdischen, der körperlichen Welt und Ebene/Zustand zu lösen, in guter neuplatonischer Gesellschaft.

Als Mensch der Moderne denke und lese ich viel stärker innerweltlich. Das heisst, G_TTes Botschaft und G_TTes Anwesenheit ist bereits in der Immanenz, in der diesseitigen Welt. Auch ihre Offenbarung meint in meinen Augen, bezieht sich in meiner Sichtweise explizit und handlungsantreibend auf die körperliche Welt, das Diesseits. HASCHEM ist keine entrückte, transzendente Gestalt, sie ist allgegenwärtig und allkenntlich. Eine figurative, eine spiritualisierende Lesart von G_TTes Wort führt leicht in eine Denken und Handeln, das mit dieser Welt, für die wir von Ihr geschaffen wurden, rein gar nichts mehr zu tun hat. Und somit uns befreit von Engagement und Zivilcourage.

Dennoch verstehe ich, was Eckhart in dieser Predigt darlegt, sehr gut. Er verbindet die Werke, die wir im Diesseits tun, mit unserer „Ich-Bindung“. (Eckart nennt dies „eigenschaft“.) Diese Werke, mit denen du vielleicht sogar für die HEILIGE zu wirken glaubst, bin dich zurück an das Geschaffene, an das Diesseitige. Das Gleiche passiert mit den Bildern, die du „empfangen“ hast durch dein Leben im Diesseits: Sie sind sehr leicht zu verabsolutieren, zu verallgemeinern.

(So das Bild von einem männlichen, einem patriarchalen Gott; das ich in diesem Text zum ersten Mal radikal verneine, indem ich vielfältige, biblisch oder koranisch gegründete Gottesnamen gebrauche, die ich in Majuskeln schreibe, genauso wie ich das Leser-Du als sowohl männlich als auch weiblich lese und anspreche.)

Beide Wirklichkeitsformen helfen dir wohl, in der Wirklichkeit zurechtzukommen, darin ein „erfolgreiches“ Leben zu führen. Doch bist du als Mensch nur dazu geschaffen?

Ledig und frei

Die Predigt Eckharts ist eine Fasten-Predigt. In der Fastenzeit versuchen die Gläubigen, ihr Leben von all dem Nötigen, das nur scheinbar nötig ist, von all dem Dringlichen, das nur scheinbar dringlich ist, von alle dem Diesseitigen, das nur zu diesseitig ist, zu befreien, um der WAHRHEIT näher zu kommen.

Dieser Prozess der Loslösung ist ein Schritt in Richtung der Transzendenz. „Ledig“ meint hier „ungebunden“ (vom Diesseitigen); „frei“ ist der Zustand, der in dieser „Ungebundenheit“ angestrebt und/oder erreicht wird.

In diesem Zustand der „Leere“, der „Entleerung„, die nicht nur die Mystikerin, sondern auch die Betende kennt, kannst du dich sowohl als Geschaffener als auch als Mehr-als Geschaffene verstehen.

Im Auge des Mystikers kannst du erfahren und begreifen, dass du in Tat und Wahrheit „gottfähig“ bist: Mehr als den Engeln ist es dir geschenkt – durch die Gnade und die Liebe der G_TTIN -, zu Gott durchzudringen, hinaufzulangen und hinaufzufahren. Mit diesem „Durchdringen“, was nicht „verstehen“ meint, verwirklichst du den anderen Teil deiner geschaffenen Existenz: den spirituellen, den seelischen Part deiner Menschheit.

(Denn als die erste Aufgabe unserer Berufung als und zum Menschen verstehe ich jene, die uns die Propheten aufgezeigt und vorgelebt haben: im Diesseits als Mensch ganz und gar für das Gute einzustehen.)

Eingebären

Die Aufgabe der Ich-Bindung und der (buddhistisch gesprochen) Anhaftung an die Werke und an die irdischen Bilder und Realität führt nun zu einem anderen Zustand: du kehrst in den Mutterbauch der HEILIGEN zurück.

(Diese Bildlichkeit ist spezifisch christlich. Sie nimmt explizit Bezug auf die junge Frau Maria / Miriam / Meriem, die Jesus empfängt und gebiert – egal, ob du jetzt Jesus als SOFIA oder als Propheten verstehst…)

Die Mystikerin erkennt sich in dieser Bewegung der Rückkehr, der Nichts-Werdung nicht nur als göttlich (oder gottebenbildlich), sondern als „eins mit Gott“.

Der Mystiker befreit sich in der Eingeburt von der Last des irdischen Menschseins. Es ist ein Zustand des „Nu(n)“: von intensiver, aber aussergewöhnlich kurzer Dauer.

Die Rückkehr, die vielleicht sogar „Einkehr“ heissen muss, ist eine Möglichkeit, die die GERECHTE für den Menschen will. Es ist an dem Menschen, diese – „ledig und frei“ – zu wollen. Es ist eine der Berufungen, für die du geschaffen bist.

Religionen sind nur Hilfestellungen

In meiner Beschäftigung mit theologischem und mystischen Gedenkengut habe ich immer wieder erfahren, wie überflüssig religiöse Institutionen, wie unerheblich religiöse Vorgaben oder Gesetze sind, wenn du dich eingehender, mystisch mit der Transzendenz, mit der ERBARMERIN beschäftigst.

Dabei ist die menschliche Bewegung in Bezug auf das Übernatürlich zweifach:

  • Verankerung im Diesseits: Deine Aufgabe, deine Berufung ist es, in der immanenten, in der ausweichlich körperlichen Welt Gutes zu tun – im Sinne des GÜTIGEN.
  • Loslösung und Einkehr im Jenseits: Das Jenseits ist ein Zustand, in dem du als Mensch mit G_TT eines Sinnes und eines Willens sein kannst, was deine geschaffene, an das Etwas gebundene Existenz jedoch auf die Dauer gefährdet, ja zerstört, auflöst, weil du als Geschaffener nichts im Nichts, im Ungeschaffenen verloren hast.

Diese beiden Bewegungen finde ich in allen Religionen. Sie sind allgemein-menschlich, universell.

Wenn du Gesetze brauchst, wenn du konkrete Erscheinungsformen des Transzendenten brauchst (wie den Namen „VATER“), dann orientiere dich an den institutionalisierten Religionen.

Doch wisse, dass die „Orte Seiner Herrschaft“ (Ps 103, 27) mannigfach und mannigfaltig sind – und immer über diese irdische, werk- und bildgebundene Gefängniswelt, in der du leben musst, erhaben.

Glauben ohne Konfession VIII: Keine Instrumente der Bekehrung

(Mit Dank an LubosHouska für das Bild.)

Lässt sich Mystik, lässt sich Spiritualität auch unabhängig von einem Glaubensgebäude denken?

Muss ich als glaubende Person nicht offen genug sein, eine glaubensunabhängige Mystik und/oder Spiritualität zu akzeptieren? Und zwar, ohne diese abwertend als nicht vollkommen, nicht „auf dem rechten Weg“, im schlimmsten Fall gar als „zu bekehren“ zu deuten, also ganz explizit offen für ihre Gleichwertigkeit?

In unserer Gesellschaft stehen sich mehr denn je zwei Extreme gegenüber:

  • Eine stark in kulturellen Traditionen verankerte Orthodoxie des Glaubens (ob jetzt muslimisch oder freikirchlich-sektiererisch) und
  • Die bewusste Konfessionslosigkeit, die sich (auch für ihre Kinder) auf die Freiheit der Glaubenswahl und -gestaltung abstützt.

Dabei machen die konfessionslos Glaubenden inzwischen bald die Mehrheit der Gesellschaft aus. Sie halten sich bewusst von tradierten Glaubensgerüste und angestammten Glaubensgemeinschaften fern. Sie nehmen sich aber aus diesen situativ heraus, was sie gerade brauchen und bedürfen.

In einer klassischen Lesart – aus einem tradierten Glauben heraus – sind sie daher Ungläubige: Menschen, die sich weder an Allah noch Jesus noch an G_TT orientieren; Menschen, die sich einen „eigenen“ Misch-Glauben aneignen.

Diese Menschen nun aus der Perspektive eines Gläubigen als „nicht recht“ Glaubende zu bezeichnen, als vielleicht sogar von der Herrlichkeit Gottes oder dem Paradies ausgeschlossen zu verstehen, ihnen die Erlösung durch ein barmherziges Gottesgeschehen abzusprechen, sie also nicht zum „Volk Gottes“ zu zählen, das finde ich eine Freveltat.

Denn wer sich ernsthaft und ehrlich um den eigenen Glauben und die damit verbundenen Entwicklungsprozesse bemüht, die von Gott geschenkte Fähigkeit der Unterscheidung zwischen Gut und Böse nutzt, die ja auch eine Befähigung zum Zweifeln ist, wird sich kein Urteil anmassen gegenüber anderen Menschen und Andersgläubigen. Denn eine solche Person weiss sehr wohl um die Fragilität und Verletzlichkeit des eigenen Glaubensgebäudes – und das nicht nur in Zeiten der Anfechtung, in Momenten der Prüfung.

Eine so glaubende Person weiss nämlich sowohl um die Sicherheit eines tradierten Glaubensgebäudes als auch um die Enge eines solchen. Im besten Falle fühlt sich diese Person in diesem Glauben geborgen, vielleicht gar beheimatet.

Um wie viel schwerer ist da die Aufgabe für die konfessionslose Person! In der Wahlfreiheit kann sie sich kaum gemütlich einrichten (wie jemand in seinem „gewissen“ und tradierten Glaubensgebäude). Ihr angeborenes oder geschenktes Bedürfnis nach Transzendenz führt sie immer wieder an diesen Abgrund der Sinnfrage. Natürlich kann sie sich für die Ablenkung, die Betäubung oder die Realitätsflucht entscheiden – in der Jagd nach Konsumgütern Aspekte der Transzendenz erhaschen, in der Flucht in Verschwörungstheorien und im Glauben an eine „geheime“ Maschinerie oder Elite Halt finden oder sich von Betäubungs- und Suchtmitteln Erlösung versprechen…

Doch wer bin ich, der „gesicherte Gläubige“, die „überzeugte Gläubige“, diesen Personen die Erlösung, den Anteil an Transzendenz abzusprechen, die Gott (in meinen Augen) allen Menscen (allen Lebewesen?) zugesagt hat?

Vor diesem Hintergrund kann ich derzeit Folgendes in den Raum stellen:

  • Mystik wie auch Spiritualität stehen allen Menschen (und Lebewesen) offen.
  • Mystik und Spiritualität sind nicht an einen einzigen Glauben, an eine einzige Offenbarung gebunden.
  • Mysitk und Spiritualität sind keine Instrumente, die in ein „Glaubensgebäude“ zurückführen sollen. Sie sind keine Instrumente der Bekehrung.