An die Grenzen gemeinschaftlicher Glaubenspraxis 

Zweifel ist ein Katalysator für den Glauben. Das ist aber nicht immer deutlich. 

Die Beschäftigung mit kirchlichen Formen der Glaubensausübung und noch weit mehr mit kirchlichen Formen der Versprachlichung, Ritualisierung und damit auch mit kirchlicher Machtausübung treibt mich zurzeit ein wenig in den Wahnsinn. 

Ich verstehe sehr wohl die Formen, Gründe und Grundbedingungen für eucharistisches Feiern, für liturgische Prozesse. Als Historiker kann ich versuchen, ihre Ursprünge und Herkunft in die Gegenwart hineinzudenken und hineinzuverlängern. 

Nur sehe ich sams- oder sonntäglich immer wieder (und je genauer ich hinschaue und hinhorche), wie „wir“ Liturgiegestalter und Zelebranten die Adressaten, die zu lange nur solche sein durften, seit dem 2. Vatikanum aber weit mehr sein dürften und (vielleicht gar) müssten, kalt und gleichgültig, uninformiert und gelangweilt (zurück) lassen. Das beginnt bei der Sprache und endet beim Verständnis für die Riten und das eigentliche Liturgie-Geschehen. 

Kirche berührt nicht mehr. Weder sprachlich noch rituell. Und ich nehme hier Taufen, Erstkommunion oder Firmungen nicht aus! 

Selbst diese „Initiationsriten“ der katholischen Kirche sind verkommen in steifen und pseudo-kindlichen Floskeln und Gesten. Sie käuen unseren christlichen Glauben in einer Art und Weise wieder, die ihn nur in Ansätzen kenntlich und verständlich machen. Die vorbildliche mystagogische Arbeit der Religionspädagoginnen und -pädagogen verklingt im zeremoniellen Ritus der Eucharistie und geht verloren im nachfolgenden Familienfest mit all den Geschenken. 

Ich zweifle, ob wir die Kinder und Jugendlichen je dauerhaft und/oder nachhaltig prägen und ihnen auf diese Weise eine entwicklungsfähige Botschaft mitgeben. Entwicklungsfähig in dem Sinne, dass sie offen und klar genug sein muss, um in ihren Alltag eindringen und ihn im Idealfall durchdringen, sich aber auch in diesem Alltag „einnisten“ und sich weiter-formen / weiterbilden zu können.

Die Sprache der Kirche ist so formalisiert und ritualisiert, dass sie keinen Bezug zu unserer zeitgenössischen Gegenwart hat. Und manche Predigt erschöpft sich in abgegriffenen Worthülsen, die niemand berühren. Oh, allzu viele Predigten sind so: banalisierte Glaubensformeln und pseudo-reale Erzählungen aus einem vermeintlich gegenwärtigen Empfinden und Erleben. 

So hörte ich letzthin den Ausspruch eines Predigers vor Firmanden: Jetzt seid ihr nicht mehr alleine, denn Gott ist allezeit mit euch. Dabei sagte er nicht, wie und wann oder wo Gott mit ihnen ist; oder wie man ihn suchen könnte, um der Einsamkeit des Menschenlebens zu entgehen. Genau das aber hätten die Firmanden gebraucht: konkrete Beispiele eines gelebten Glaubens. Und keine möchtegern-verständnisinnige Schmalzprosa, die man sich sofort in der nächsten Toilette aus den Ohren waschen muss. 

Ich sehne mich nach Gottesdiensten und Eucharistien, die wirklich vollziehen und realisieren, was uns verheissen wurde. Und nach einer Sprache, die uns trifft und nicht nur betroffen zu machen versucht. Nach einer Glaubenssprache, die uns verletzt und erschüttert. 

Und so zweifle ich und transportiere / transponiere meinen Glauben bis an die Grenzen der Ablehnung jeglicher gemeinschaftlicher Glaubenspraxis. 

Umkehrung der Geschichten

Das Leben lässt sich nicht bezwingen. Auch der Tod ist unbezwingbar. Das Leben oder den Tod herausfordern, das ist klassisches Tun des Menschen: die Möglichkeiten ausreizen, die Grenzen ergründen, die Probleme überwinden.

Jetzt reden alle von Ueli Steck, dem Schweizer Bergsteiger, der im Himalya verunfallt ist. Bis in die Tagesnachrichten wird über ihn geredet, sein Lebenslauf wird nachgezogen, Experten befragt, usw. usf.

Was lässt sich aber jenseits dieser Betroffenheit und Erschütterung über das, was dieser Mann geschaffen oder erreicht hat, sagen?

Er sei sehr leistungsorientiert gewesen, habe ich letzthin gehört. Er wollte von dem Bergsteigen leben und brauchte daher seine Sponsoren, was ihn wieder dazu „zwang“, sein Bergsteigen der zeitgenössischen Lust an Sensation und Rekorden anzupassen. (So soll er behauptet haben, die Eigernordwand in „sensationellen“ 28 Stunden bestiegen haben, dies aber nicht dokumentieren können.)

Die Frage, die ich mir dann stelle, ist jene nach der Freiheit – des Menschen im allgemeinen und des Individuums im besonderen. Dieser Mann hatte eine Berufung, eine Begabung, und er wollte sie fruchtbar machen. Nicht nur fruchtbar machen, sondern davon leben, sich finanzieren.

Ich nehme jetzt an, dass er sich der Gefahren des Bergsteigens jederzeit bewusst war. Bereit war, gegen ein tödliches Risko „anzutreten“. Anders ausgedrückt, er spielte Roulette und versuchte, das Risiko so klein wie möglich zu halten im Wissen, dass das Risiko gross war.

Mir selbst ist diese Art Leistungsdenken und -handeln, wenn ich ehrlich bin, zuwider. Ich verstehe die Motivation dahinter, aber ich kann das nicht „sympathisch“ finden. Ich bin sehr versucht, hier moralisch zu werten: diesen Menschen als Spitze des Eisbergs unserer Leistungsgesellschaft zu deuten.

So soll er im Nepal mehrfach in Konflikt mit nepalesischen Treck-Mannschaften und Bergführern geraten sein, weil diese nicht verstehen konnten, weshalb er so leistungs- und geschwindigkeitsversessen war – und sich auch dagegen wehrten, wie er bergsteigen wollte.

Das liess mich daran denken, wie wertvoll die Langsamkeit ist. Weshalb denken wir heute nicht häufiger, dass Hochleistungsergebnisse auch langsam erreicht werden können? Alles muss knall auf fall gehen und so effizient wie möglich sein. Für die Nepalesen ging es, so stelle ich mir vor, auch um den Respekt vor dem (nahezu göttlichen) Berg und damit um einen respektvollen und nachhaltigen Umgang mit Umwelt, Natur und (eigenem) Körper. (Ich musste unwillkürlich an die Art und Weise denken, wie Indianer oder die Indigenen von Pandora im Film „Avatar“ den Tod der erjagten Beutetiere zu begütigen versuchen: die Toten in Achtung und Würde verabschieden – und nicht mechanistisch und leistungsorientiert „abschlachten“.)

Daher der Gedanke: Einen Berg besteigen – kann man das nicht auch langsam? Und daraus einen Weltrekord machen?

Am Beispiel Ueli Stecks wäre also darüber nachzudenken, ob nicht die wahren, die letzten, die ultimativen Herausforderungen, denen wir uns stellen können oder sollten, jene sind, die mit Langsamkeit und Geduld zu tun haben.

Und wie wichtig es wäre, alle zeitgenössischen Erzählungen (aus Medien, Wirtschaft, Schule oder Politik) „gegen den Strich“ zu bürsten – und „umgekehrt“ zu erzählen wären. Auch jene von Ueli Steck. Und diese Geschichte von der Bezwingung des Lebens.