Ein anderer Ort

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Seit ich in der staatlichen Schule das Fach „ökumenischer Religionsunterricht“ gebe, bin ich bemüht um eine genaue Umschreibung, nein: Definition dieses Fachs.

Diese scheint mir nicht vor dem Hintergrund der paar ex-christlichen Eltern, die sich auflehnen gegen die scheinbar unreflektierte Rede von Gott oder gegen einen vermeintlichen Kreationismus anlässlich der Schöpfungs-Geschichte, notwendig.

Genausowenig geht es mir um eine Selbstrechtfertigung oder gar Selbst-Legitimierung meiner Arbeit.

Nein. Ich versuche diesen Unterricht deshalb so genau wie möglich zu definieren, um seine Bedeutung in der heutigen Schule, Gesellschaft und Lebenswelt hervorzuheben. In vielerlei Hinsicht handelt es sich dabei um die „Herstellung“ eines anderen Orts: eines Raums, in dem über Zustände, Umstände, Verhältnisse und Beziehungen geredet und nachgedacht werden kann, die für jeden Menschen essentiell sind, von der Charakterbildung über die Weltsicht bis hin zu der Lebenseinstellung.

Ich möchte im Folgenden einige Punkte für die Bedeutung eines Religionsunterrichts als besonderen und besonders relevanten Ort im Schulbetrieb anführen.

Ein anderer Ort: Geschichten 

In diesem Blog habe ich schon mehrmals über die Bedeutung von Geschichten geschrieben – und werde es sicher noch mehrmals tun (müssen).

Geschichten als Lebensgestalter 

Dabei wird mir immer von Neuem klar, dass meine Lieblingsgeschichten jene Geschichten sind, die sofort „ankommen“. Jene Geschichten also, zu denen die Schüler*innen unmittelbar und unvermittelt den Zugang finden, die sie sofort verstehen. Das sind meist auch jene Geschichten, die sofort „Eingang“ in ihre Gedankenwelt finden. Und sich dort im besten mit ihren Lebensumständen und ihrer Sicht aufs Leben verbinden. Jene Geschichten, die fast natürlich zu einem Bestandteil ihres instinktiven Argumentariums werden für jene Momente, in denen sie in einer Krise, im Zweifel oder sonstwie im Lebenssinn bedroht sind.

Geschichten gegen die Geschichtenarmut 

Gleichzeitig weiss ich um die Geschichtenarmut unserer Welt. Diese Armut hat zwei Gesichter:

1. Fehlende Geschichten in der Familie: Viele meiner Schüler*innen wachsen in Familien auf, in denen das Erzählen (sei es am Bett oder am Mittags- oder Abendtisch) keine Bedeutung hat. Dass ein Erwachsener wie der Religionslehrer sog erne und enthusiastisch Geschichten erzählt, wirkt sich positiv aus: Die Schüler*innen erkennen, wie wichtig das Erzählen von Geschichten – auch aus dem eigenen Erleben – für die Selbstwerdung ist, für die Selbstwertung. Sie erkennen auch den gemeinschafts- und zusammenhaltsfördernden Wert des Geschichtenerzählens. Viele meiner Schüler*innen sind regelrecht „geschichtenhungrig“, kommen in meinen Unterricht, weil hier das Erzählen, das Imaginieren einen wirklichen (Stellen-) Wert hat.

2. Eigenes Erleben ist keiner Geschichte wert: In anderen Kulturen mag das Erzählen zur DNA eines erfüllten menschlichen Lebens gehören. Nicht so in einem mitteleuropäischen, zur Nüchternheit und Selbstentwertung neigenden Land wie der Schweiz: Das eigene Leben, die eigene Lebenserfahrung wird hier nicht als „erzählenswert“ verstanden. Und wer seine Erfahrung nicht erzählenswert findet, wird nicht erzählen lernen. Doch nur über das Erzählen – so meine Einsicht – wird Verarbeitung, Vertiefung und Verständigung möglich. (Als Beispiel kann folgende Überlegung dienen: Da wir keine Erzählungen von Flüchtlingen hören, fällt es uns schwer, ihre Lebenserfahrung integrativ in unsere eigene Weltsicht einzubinden.)

Manchmal wünschte ich mir fast, wir würden uns weg von einer visuellen hin zu einer oralen Gesellschaft entwickeln. Wünschte ich mir, Erzählen würde ein anerkanntes Schulfach.

Ein anderer Ort: Imaginieren 

Auch das Imaginieren und die Wertschätzung für die Einbildungs- und Vorstellungskraft hat in unserer Gesellschaft kaum eine Bedeutung. Dabei ist es gerade für die Selbstwerdung und Selbstwertung unumgänglich, sich mit der Imagination (der eigenen und der anderer) auseinanderzusetzen.

Im Religionsunterricht findet sich immer wieder der Platz, die Vorstellungskraft der Schüler*innen einzusetzen. Selbst dann, wenn ihre Vorstellungskraft bereits von kapitalistisch-hollywoodianischen Vorbildern besetzt ist, kann es gelingen, dass die Schüler*innen eine „andere Weltsicht“, eine „andere Lebenshaltung“ imaginieren.

Denn wer nicht gelernt hat, sich ein „anderes Leben“, eine „andere Welt“ vorzustellen, wird sein Leben in einem Gefängnis von unreflektierten, nachgesprochenen oder unverdauten Ansichten fristen.

Ein anderer Ort: Werte und Urteile prüfen 

Betrachtet man die Auswirkungen von Geschichten und die imaginative Ermächtigung auf Schüler*innen genauer, wird man feststellen, dass sie dazu befähigt werden, Werte und Urteile zu hinterfragen und überprüfen.

Wer dies gelernt hat – die Kompetenz, hinter Werte und Urteile zu blicken -, wird im Leben unvoreingenommener und empathischer mit anderen Menschen in Beziehung treten.

Ein anderer Ort: Erfahrungen machen 

Ein Grossteil des schulischen Unterrichts dreht sich um den Erwerb von Kompetenzen, die mit Wissen und Wissensgewinnung zu tun haben: mathematische Lösungen oder Lösungswege finden, thematisches Wissen erarbeiten, Texte verstehen lernen, etc.

Dabei bleibt oft auf der Strecke, dass dabei nur die „Oberfläche“ gestreift wird. So sind Informationen oder Wissen über religiöse Feste, Bräuche oder Glaubensgrundsätze gut und recht. Doch das Verstehen ihrer Wurzeln, Gründe und Formen kann dieser sachorientierte Ansatz nicht vermitteln.

Erst die Erfahrung von Lebensumständen oder Lebensgeschichten jedoch wird jenes Wissen vermitteln, das unser Schüler*innen zu reiferen, nachdenklicheren Menschen formen kann. Was meine ich mit Erfahrung(en)?

Im Rahmen des übergreifenden Themas der „Gerechtigkeit“ habe ich die Schüler*innen zum Beispiel in ein Planspiel geschickt, in dessen Rahmen sie die Rolle verschiedener gesellschaftlicher Positionen (arm, reich, arbeitslos, angestellt, etc.) erleben: in einer kontrollierten, kurzfristigen und spielerischen Installation in der Religionsstunde. Dabei haben die Schüler*innen spielerisch, aber am eigenen Körper und Empfinden erfahren, was es heisst, in einer anderen gesellschaftlichen oder persönlichen Lage zu sein.

Diese Erfahrung hat manche Schüler*in sehr nachdenklich und weitaus empathischer gemacht für das Schicksal anderer Menschen.

Ziel: eine andere Welt ermöglichen 

Natürlich könnte ich noch viele andere Merkmale aufzählen, die den Religionsunterricht, wie ich ihn verstehe, kennzeichnen und als „anderen Ort“ charakterisieren.

Letztlich aber messe ich mein Unterrichten daran, ob und inwiefern es dazu führen kann, den werdenden Menschen andere Wege, andere Welten aufzuzeigen. Dies natürlich immer vor dem Hintergrund der Erzählungen von Menschen in Beziehung zueinander und zu Gott – dem grossen Fragezeichen und dem grossen Anderen.

 

 

 

Was, nicht wie

Bekenntnis-unabhängiger Religionsunterricht – oft auch “ökumenischer Religionsunterricht” genannt: eine Möglichkeit, Kinder für Glaubenssachen zu begeistern ohne sie zu indoktrinieren. Eine innovative Form des modernen Religionsunterrichts, der nicht das “Wie” einer Religion lernen will, sondern das “Was”. Keine Vermittlung von Glaubenspraxis, sondern von Fakten, Informationen und – religiösen Kompetenzen.

Rund 5 Jahre habe ich als “Katechet” gearbeitet. Das heisst, ich habe mich mit der konfessionellen Seite von Religiosität – in meinem Fall der katholischen Seite – befasst. Ich habe dabei versucht, Kindern unterschiedlicher Altersstufen Glaubensinhalte der katholischen Kirche zu vermitteln. Von der Sakramentenlehre (Taufe und Erstkommunion) bis zu dogmatisierten Glaubensinhalten (Dreifaltigkeit). Weshalb ich das nicht mehr tun will / werde, lesen Sie in dem Blogeintrag “Abschied von einer Institution”.

Ängste und Befürchtungen gegen Neugier und Interesse

Seit bald einem Jahr nun unterrichte ich an einer Primarschule in Basel-Stadt. Diese Schule hat eine vielfältige, im besten Sinne diverse Schülerschaft. Die Kinder kommen nicht nur aus verschiedenen Kulturen, sondern bringen auch ganz unterschiedliche Religionen in den Religionsunterricht mit.

Dies tun auch die Eltern. Befürchtungen und Ängste sind viele zu hören. Die Angst vor der christlichen Indoktrination bei muslimischen Eltern auf der einen Seite; die Furcht vor dem Verlust der christlichen Werte und Geschichte bei christlichen Eltern auf der andern Seite. Wieder andere Eltern wollen ihre Kinder ganz und gar laizistisch erzogen wissen: aber auch sie glauben daran, im Religionsunterricht würden ihre Kinder mit Glaubensinhalten gefüttert und mit falschen theologischen Lehren, die auf keinerlei wissenschaftlichen Fakten basieren.

Ich aber erlebe die Schüler*innen als grundsätzlich neugierig, wissensbegierig. Sie wollen hinter die Maske der Religionen schauen können, unbefangen Fragen stellen dürfen. Und sie wollen Geschichten hören – von der Wüstenwanderung Moses über die Auferstehung Jesu bis zur Himmelfahrt Mohammeds.

Kompetenzen erwerben

Der zeitgemässe Religionsunterricht ist kompetenzorientiert. Genauso wie der Lehrplan 21. Grundsätzlichen handelt es sich dabei um religiöse und gesellschaftliche Kompetenzen oder Fähigkeiten. Die Schüler*innen erwerben diese im Religionsunterricht. Folgendes ist dabei besonders hervorzuheben:

  • Diese Kompetenzen oder Fähigkeiten ermöglichen ihnen in ihrem jetzigen und zukünftigen Umfeld, kompetent mit der modernen weltanschaulichen Pluralität umzugehen.
  • Sie erkennen die Bedeutung von Toleranz und Differenz und können sich selbst begründete Urteile über andere Perspektiven oder Positionen bilden.
  • Dies tun sie in einer friedlichen, friedfertigen Haltung.
  • Die christlichen Werte und Geschichten werden als Aussagen über die menschliche Existenz und Identität gelesen und gedeutet.
  • Die Schüler*innen können ihre eigene Religiosität finden und ausdrücken.

Gleichzeitig geht es in meinem eigenen Unterricht um drei Arbeitsfelder:

  1. Religiöse Ausdrucksformen (er) kennen und achten. So lernen wir nicht nur christliche, sondern auch jüdische und muslimische Rituale kennen. Dabei erkennen die Schüler*innen nicht nur die Parallelen zwischen den drei grossen Religionen, sondern die Gründe für Unterschiede und Gemeinsamkeiten. Sie verstehen die Bedeutung von Ritualen und religiösen Ausdrucksformen als menschliches Bedürfnis, das allen Menschen gemeinsam ist.
  2. Glaubenswelten erforschen. Spielerisch, mit Anschauungsmaterial und Anwendungsbeispielen werden andere Religionen erforscht. Schüler*innen erfahren und erleben Glaubensgrundsätze anderer Religionen und lernen sie in ihre eigene Lebenswelt einzuordnen.
  3. Fragen stellen, argumentieren und urteilen. Dies ist für mich fast die wichtigste Facette meines Unterrichts. Schon Erstklässler haben wichtige Fragen: “Wo ist Gott zuhause?”, “Wo gehen die Toten hin?” oder “Weshalb darf man Gott nicht darstellen?”. In gemeinsamer Debatte und Diskussion erörtern wir mögliche Antworten. Dass es manchmal keine abschliessende Antwort auf eine Frage gibt, sondern nur Haltungen und/oder persönliche Einsichten, ist ein zusätzlicher Gewinn solcher Augenblicke. (Denn in einer Welt voller eindeutiger Angebote und abgründiger Versuchungen gibt es nichts, was so wertvoll wäre wie das Wissen darum, dass nicht alles abschliessend zu erklären und begründen ist. Ja, dass manchmal sogar die eindeutigen Antworten schlichtweg Lügen sein können.)

 

Fragen nach dem Was

Religionen haben schon immer verführt. Sie bieten mehr oder minder feste Glaubens-Systeme an. Abweichler oder Andersdenkende werden verteufelt oder vertrieben oder gedemütigt.

Die Schüler*innen bringen viel Wissen aus ihrem Lebensalltag mit. Das meiste aber haben sie unreflektiert (von Jugendlichen oder Erwachsenen) übernommen oder gehört. Als Religionspädagoge bin ich für sie eine Fachperson, die ihnen kompetente Antworten oder Hinweise geben kann. 

Darüber zum Beispiel, weshalb es vollkommen falsch ist, eine Mitschülerin als „haram“ zu bezeichnen. Darüber, dass der Glauben deines Vaters oder der Atheismus deines Vaters nichts mit deinem eigenen Atheismus oder Glauben zu tun haben muss; dass du dir selbst einen eigenen Zugang zu der überlieferten Religion eröffnen sollst.

Umso wichtiger ist es vor diesem Hintergrund für die Schüler*innen, die Hintergründe von Religion zu erfahren, das “Was”. Ich bringe den Schüler*innen nicht bei, wie sie glauben sollen, sondern was die Menschen der verschiedenen Religionen glauben. Oder an was.

Denn das “Wie” des Glaubens ist eine Sache, die sie entweder bei sich in Familie und Gemeinde erfahren oder für sich selbst entdecken (sollen) – auf dem Weg zu einer selbstständigen, mündigen Religiosität. Aber nicht mit mir in der Schule.

Das Beispiel “Gebet”

Wenn ich mit Schüler*innen also z.B. über das Beten spreche, werden wir nie gemeinsam beten. Sogar Erstklässler wissen heute schon, wie gross der Unterschied zwischen christlichem und muslimischem Beten ist.

Nein, wir werden

  1. Herkunft und Ablauf eines Gebetsrituals erkunden und
  2. unseren eigenen Ausdruck für Gefühle, Hoffnungen und Wünsche formulieren lernen.

Bereits im ersten Punkt wird deutlich, dass die Schüler*innen am Ende eines solchen Lernprozesses vergleichen und urteilen können. Vorurteile werden verhindert oder abgebaut.

Im zweiten Punkt dann können die Schüler*innen Ausdrucksformen für ihre eigenen Sorgen, Wünsche und Gefühle finden. Dies ist in meinen Augen ein wesentliches Ziel religiöser Bildung: Nicht nur die Suche nach einem “Du” in Not und Bedrängnis, Freude und Glück, sondern auch das Finden einer Sprache für ein Gespräch mit diesem “Du”.

Und vor allem – das Gemeinsame finden und sich selbst kennen lernen

In dieser Form von Religionsunterricht liegt letztlich die Chance darin, dass Schüler*innen lernen, wie viel mehr Gemeinsames als Trennendes die verschiedenen Religionen haben. Immer wieder stosse ich auf Erstaunen, wenn ich Jugendlichen und Erwachsenen erzähle, dass für Muslime Jesus ebenso ein Prophet ist wie Moses. Oder in einem anderen Beispiel: Wie spannend ist es doch, das “letzte Abendmahl” vor dem Hintergrund des Seder-Abends zu betrachten?

Sie merken, ich bin ein vehementer Vertreter von Interreligiosität. Wenn wir über Gründe und Hintergründe unserer Existenz nachdenken, über Schöpfungsmythen und Erzväter-Erzählungen, begegnen wir uns immer wieder uns selbst. Und was anderes ist in der heutigen komplexen und unübersichtlichen Welt wichtiger als das Wissen von uns und über uns selbst?

 

Was hat denn das mit Gott zu tun? (Erster Teil)

Diese Frage taucht immer wieder auf. Sie ist der Grundton meiner Arbeit als Religionslehrer. Die Kinder sind es sich gewohnt, Geschichten über die Gestalten der Bibel zu hören. Geschichten von einer Beziehung des Menschen mit Gott. Ohne Aufforderung und Vergegenwärtigung bleiben diese Geschichten jedoch nur das: Geschichten. 

Ich versuche immer, den Bogen weiter zu spannen als nur diese Geschichten. Ich versuche, die Kinder in ein ethisches Denken hineinzunehmen. Sie herauszulocken aus dem normierten Denken und in die freie Welt des selbstständigen Nachdenkens, Bedenkens und in letzter Konsequenz des „Zurückbindens“ an Gott (religare). 

Dann kommt diese Frage. Sie kommt, weil die Kinder (und nicht nur sie) es sich gewohnt sind, relativ schnell eine Lösung oder den Ansatz einer Lösung zu sehen oder erfahren. Oder einfach, weil sie häufig eine Antwort erhalten, ohne (nach-) denken zu müssen.

Doch was antworte ich darauf?

Es gibt viele Antworten, eine perfekte habe ich noch nicht gefunden. Meine Lieblingsantwort aber ist weiterhin:

Alles. 

Und hier brach mein erster Erklärungsversuch ab. Sehr treffend: „eine perfekte Antwort habe ich noch nicht gefunden“.

Seit Wochen trage ich nun diese Frage mit mir herum, denn ich WILL eine Antwort geben können, die theologisch begründet ist und auch dem Laien und vor allem den Kindern einleuchten kann.

Einfach „alles“ sagen, das wäre dann doch zu einfach.

Und da lese ich doch zurzeit das Johannes-Evangelium.

„Am Anfang war das Wort“.

Ja, und?

Alles schon bekannt.

Ist es nicht. Drewermanns Kommentar zum Johannes-Evangelium hat mich zum ersten Mal darauf gestossen, und eine erste Ausprägung war ja hier im Blogeintrag „Lichtwerden“ schon zu lesen.

Setzen wir also nochmals an…

(Fortsetzung folgt)

Zweite Naturen

Lehrer sind mehr denn andere Berufsleute am Puls der gesellschaftlichen Entwicklung. Man möge mir den Gemeinplatz verzeihen, den ich auch gleich übertreffen möchte. Religionslehrer sind mehr denn andere Berufsleute am Puls der religiösen Entwicklung.

In meiner täglichen Arbeit als Religionslehrer habe ich viel Freude, weil immer wieder der heilige Geist eingreift, mich oder die Kinder oder alle zusammen erfasst und zu wundervollen Erkenntnissen führt.

In allen Fällen und Stunden aber beobachte ich immer wieder (nicht zu meinem Erstaunen, das sei dann doch gesagt), wie zugebuttert die ursprüngliche menschliche Natur bereits ist – von konsumistischen, auf Unterhaltung ausgehenden Gedanken und unausgedachten, unausgegorenen Empfindungen, von der Erwartung nach schneller Befriedigung der Reize bis hin zum Sprücheklopfen der SVP-Narren.

(In einer Stunde musste ich mich doch ernsthaft anhören, dass man alle Albaner und Kosovaren einfach vergasen sollte. Das in einem Dorf, wo keine Kosovaren oder Albaner wohnen.)

Ich hüte mich davor, diese Entwicklungen zu bewerten. Ich ordne sie ein. (Auch das mag eine Wertung sein, gewiss.)

Aber ich sprach von der zweiten Natur.

Bei Pascal ist das, soweit ich mich erinnere, die Gewohnheit, die sich über die ursprüngliche Natur des Menschen stülpt. In dieser Hinsicht wäre die zweite Natur eine zivilisatorische Errungenschaft: denn die Gewohnheit (wenigstens in Westeuropa) verbietet dem Menschen Selbstjustiz und andere Akte der Ungerechtigkeit.

Bei Rousseau, meinem anderen Liebling, ist die zweite Natur gesellschaftlich. Der Mensch ist beim ollen Jean-Jacques eigentlich ein Einzeltier, ein Einsiedler. Alle Konflikte stammen daher aus der „Vergesellschaftung“ des Menschen.

Diese beiden Konzepte haben sich bei mir zur Rede von der zweiten Natur verschmolzen. Was meine ich damit, wenn ich von meinen Schülern sage, ihre ursprüngliche Naturen seien „zugebuttert“?

Sind sie wie Brotschnitten, die  ohne Butter besser schmeckten?

Vielleicht…

Ich sehe einfach, dass sie in Gesellschaft nicht fähig sind, sowohl zu sich zu stehen als auch menschliche Regungen (von Schwäche z.B.) zu zeigen oder zuzugeben. Sie befinden sich in einer Art Schutzmodus, in einer Dialektik der Selbstabwehr. (Dazu fällt mir ein, ich muss dringend Pascals Begriffe des „amour propre“/Eigenliebe und „amour de soi“/Selbstliebe vertiefen; sie können zu diesem Thema u.U. noch was beitragen…)

Kurz, es ist ihnen nur sehr selten möglich, sich selbst zu sein. Einerseits, weil sie gelernt haben, dass man in Gesellschaft etwas „darstellen“ muss; man ist also sozusagen ein Schausteller seiner selbst. Andererseits aber, weil sie, da fast immer in Gesellschaft, nie richtig zu sich durchdringen gelernt haben.

Ich gebe zu, dass dies bei mir auf ein sehr pessimistisches Menschenbild schliessen lässt, das dem Menschen grundsätzlich skeptisch gegenüber steht, ihm seine Menschlichkeit (Menschhaftigkeit & Menschsein) nicht wirklich zuzutrauen bereit ist. Mangelt es mir da etwa an Vertrauen?

Das glaube ich nicht. Sehr oft habe ich bereits erlebt, dass die gleichen trägen, gleichgültigen, abgebrühten Kinder aus dem heiteren Himmel wundervolle Diskussionen losgetreten oder wirkliche religiöse Einsichten gehabt haben. Als habe man sie umgestülpt wie eine Socke oder einen Handschuh.

Womit wir wieder bei der zweiten Natur wären.

Wir alle brauchen sicherlich diesen Panzer der zweiten Natur, um überleben zu können. Vieles an diesem Panzer ist und bleibt uns / unserer Persönlichkeit sicherlich äusserlich. Einiges aber verschmilzt aber mit der Zeit – und mit mangelndem Sinnen und mangelnder Glaubensübung – mit der eigenen Persönlichkeit.

Was das mit Glauben, mit Religion zu tun hat?

Jesu Impuls war ein Impuls zur Befreiung. Diese Befreiung durch und im Glauben / Vertrauen findet in der Welt statt, nicht ausserhalb von ihr. Wir sind alle in der Welt, aber wir können uns auch befreien von ihr.

Wir müssen uns (als Christen) befreien von der Welt, von ihren Mechanismen und Machenschaften. Ohne jedoch uns von ihr ganz abzutrennen.

Das können wir, so bin ich überzeugt, nicht andauernd, aber ausdauernd. Immer wieder ansetzen, die zweite Natur abzustreifen versuchen. Zum Menschen in sich vorstossen wollen.

Ich selbst habe eine Neigung zur Innerlichkeit. Diese Neigung ist bei mir keine zweite Natur. Sie ist primär, ursprünglich.

Diese Neigung weiss ich auch in meinen Schülern. In allen Menschen. Und andere auch.

Wie hat es Erofeiev in seinem grandiosen „Moskau-Petuschki“ so schön gesagt (ich zitiere frei aus dem Gedächtnis):

Allgemeine Kleinmütigkeit… Was wäre das für eine Welt, in der allgemeine Kleinmütigkeit herrschte! Keine Kriege mehr…

Kurz: auf dass jede und jeder hin und wieder tief in sich die eigentlichen Eigenschaften suche, erforsche und entdecke, und sie „nach oben“ hole, um die Welt an ihrem Geheimnis teilhaben zu lassen. Fern jeder verkrusteten Verhaltensmuster und „so haben wir das schon immer gemacht“…

Ich plädiere dafür: wir sind alle Freaks. Stehen wir dazu und seien wir ehrlich. Hin und wieder.

Nicht zu oft: wo kämen wir denn da hin…

PS: Eine spannende Frage, die sich im Schreiben dieses Blogs gestellt hat: Ist nicht das „neue Gewand“ der Paulus-Briefe eine Art „zweite Natur“?