Worte & Werke

Ich bin oft im Zug unterwegs und so den Gesprächen, Debatten, Witzeleien und tiefsinnigen Platitüden meiner Zeitgenossen ausgesetzt. Ich geniesse das auch. Es ist häufig ein Genuss, der mit einem Erkenntnisgewinn auf verschiedenen Ebenen verbunden sein kann.

Was mich dabei am meisten beschäftigt und mir nach und nahe geht, ist die allgemeine Verwirrung nicht nur der Gedanken, sondern vielmehr noch der Verhältnisse. Ich steige manchmal aus dem Zug und wundere mich über die Ordnung und Spiessigkeit meines eigenen wirren Lebens im Vergleich zu all dem Chaos und Harm und Durcheinander, wie die Leute ihr Leben und das ihrer Nächsten darzustellen lieben. Gewiss hat die Wirrnis, die da durchdringt, auch mit unserer sehr mitteleuropäischen Art der Skepsis und intuitiven Neigung zur Abwertung zu tun: Es gelingt uns immer wieder von neuem, selbst das Gewöhnlichste, Alltäglichste und vielleicht sogar gar nicht so Schlechte in brutalster Hässlichkeit und in all seiner möglichen… Schlechtigkeit zu präsentieren.

Das Leben um mich scheint dann voller Katastrophen und Havarien zu sein: Pfändungen, Ehebrüche und Scheidungskriege, unverdiente Prostitution, Bestechung, Drogensucht und Drogenhandel, Arbeitslosigkeit, Prekariat und praktische Hilflosigkeit, geistige und materielle Mittellosigkeit, familiäre Kälte und Zerwürfnisse, Erbstreitigkeiten, schwesterlich-brüderliches Unverständnis oder Nicht-verstehen-wollen, Eigenwilligkeit bis zur Verblendung, materieller Fetischismus, — ich komme mir ein wenig vor wie Paul im Galaterbrief…

Was jedoch die Gleichschaltung mit der herrschenden Weltordnung hervorbringt, ist offenbar: Das sind Missbrauch von Sexualität, Zu-Dreck-Werden des Menschen, Zügellosigkeit; das sind Dienst an den Götzen und Hantieren mit bösen Zauberkräften, Feindschaft, Streit, Eifersucht, Jähzorn, Konkurrenzdenken, Entzweiungen, Cliquenwirtschaft, Missgünsteleien; das sind Trinkereien, wüste Gelage und dergleichen. (Gal 5,19-21a; BigS)

Oder, wie es in der Einheitsübersetzung steht: „die Werke des Fleisches“… Ich zögere und stocke… Die Werke des Fleisches, die Gleichschaltung mit der herrschenden Weltordnung… Das „Fegefeuer“, denke ich mir verwirrt, ist gegenwärtig und immer…

Ich bin in solchen Momenten der Sättigung mit Zeitgeist und ausweglos-ausgelieferter Ergebenheit und Hingabe an die alltägliche Wirklichkeit im unausweichlich-machtvollen Jetzt vollkommen entgeistert. Schauen die Menschen, auch die mir Nahestehenden, denn weder nach hinten noch nach vorne um Rettung aus; geben sie nur die Oberfläche der Gegenwart in ihrer ganzen Weglosigkeit wieder und nie deren Unter- und vielleicht auch Abgründe?

Paul hat uns den Glauben vor den Werken gelehrt… Und ich denke täglich daran, wie schwierig es ist, diesen Glauben, der ja Vertrauen (nicht nur in Gott) ist, zu leben in einer widrigen und widerlichen Welt.

Als Lyriker bin ich zutiefst davon überzeugt, dass unsere Worte unsere Werke bestimmen; ein wenig so, wie unsere Selbstbilder von den Fremdbildern unserer Nächsten bestimmt, ja geformt werden (siehe Frischs „Andorra“): ein böses Wort führt zu einer bösen Tat.

Gottlosigkeit in Worten, möchte ich sagen, schliesst Barmherzigkeit, Güte oder Menschlichkeit aus. Wer sich in seiner Rede ans Fleisch hält (oder an die „herrschende Weltordnung“), könnte man mit Paul fragen: Kann die oder der in der Wirklichkeit seines Tuns, in der Wirklichkeit seines Wirkens gerecht sein?

Anders gefragt: dürfen uns die wirklichen, allgegenwärtigen Zustände ablenken von unserem Glauben, unserem Gottvertrauen; sollen wir uns von ihnen beeinflussen lassen? Wenn ja, wie beeinflussen diese Zustände unsere Worte und unsere Werke?

Gerecht sein — das wäre der ethische Impuls, der aus dem Judentum ins Christentum eingewandert ist. Gerechtigkeit aber wurzelt im Glauben (Hab 2,4, danke Paul!). Gerechtigkeit führt zum heilvollen Handeln am Nächsten, entweder zur Abkehr von der aktuellen Welt (dem Fleisch verfallen, danke Paul!) oder zu einer Verwandlung der aktuellen Welt aus einer einsichtigen Umkehr heraus (danke, ihr Niniviter!).

Auch wenn es um mich nur so von ungerechten Worten und unaufrichtigen Taten wimmelt, glaube ich, dass die meisten Menschen gerecht handeln und gerecht zu handeln verstehen. Höre ich die Sprüche und Flüche, die Verdammungen und die Auslassungen, höre ich die Menschen wie die Welt sprechen.

Müssen sie das nicht notwendigerweise tun? Haben sie eine andere Wahl? Könnte man z.B. nur uneigentlich sprechen? In Bildern wie Jesus? In komplexen theologischen Erörterungen wie Paul?

Niemand verstünde es. Es wäre nur halb so lustig hienieden…

Aber indem wir so reden, indem wir es so reden lassen durch uns, entfernen wir uns vom Gottesreich, das im Denken beginnt, in der Sprache wirkt (Pfingsten!) und schliesslich auch unsere Werke erfassen kann.

Und so sehr ich auch von dieser „herrschenden Weltordnung“ geprägt bin, so wünsche ich mir doch etwas anderes: eine Befreiung von dieser „herrschenden Weltordnung“, von der Herrschaft des Fleisches. Und glaube gleichzeitig daran, dass es „eigentlich“ ganz einfach sein sollte: das Denken ändern, das dann die Worte ändert, worauf auch die Taten anders werden.

Nicht wahr?

Ach, wären wir  nur schon befreit! Hätten wir nur den Mut zur Befreiung, zu diesem Schritt aus der Wirklichkeit heraus, die uns so bestimmt und beherrscht, dass wir so reden, wie wir es tun?

Und dadurch handeln, wie wir es tun?

Die Toten und die Toten

Ich wage mich hier einmal auf Glatteis.

Als Lyriker kenne ich das Gefühl, dass etwas im Unterbewusstsein wächst und grösser wird – und plötzlich ausgewachsen vor einem steht: als Gedicht oder halt nur als Gedanke.

Und manchmal, das habe ich bei André Breton gelernt, handelt die Wirklichkeit an einem, und nicht umgekehrt. Das ist dann, wenn „zwei mal zwei“ plötzlich fünf gibt. Das ist dann, wenn Dinge auf einen zukommen, die ansprechen, womit man sich gerade beschäftigt. Und es hat nichts mit der so genannten selektiven Wahrnehmung zu tun…

Schon bevor ich die Stelle in Dostojewskis „Verbrechen und Strafe“ gelesen hatte, wollte ich einen Blogeintrag über die Toten machen. Und die von meinem Blogeintrag „Gottesnärin Sofia“ ausgehende Thematik der Auferstehung hat dies noch verstärkt. Hier also meine Gedanken.

Die Stelle, um die es mir geht, steht genau vor meiner (immer noch) Lieblingsstelle im Evangelium, die ich sicher auch einmal noch thematisieren werde, der Austreibung der Legion Dämonen in dem Besessenen von Gadara (oder, bei Markus, Gerasa).

Es geht hier um die Nachfolge Jesu. Einer der Jünger möchte, bevor er Jesus definitiv nachfolgt, doch noch seinen Vater begraben. Jesu Antwort ist schockierend:

Folge mir nach, und lass die Toten ihre Toten begraben. (Mt 8,22; BigS)

Seit ich sie kenne, fasziniert mich diese Stelle. Aber ich sah nur immer das Eigentliche: die wirklichen Toten. Genau wie die Judäer in Joh 6,52 auf Jesu Aussage, das Brot, das von ihm komme, sei sein Fleisch, erstaunt antworten:

Wie kann er uns dieser seinen Köper zu essen geben?

Und sieht man in den „Toten“ die wirklichen Toten, unsere Verstorbenen, ist die Aussage Jesu auch wirklich unmöglich – oder, wie die Jünger als Antwort auf Jesu Brotrede in Joh 6,60 sagen:

Was er sagt, ist unerträglich. Wer kann das anhören? (EÜ)

Doch selbst, wenn man den Spruch ins Uneigentliche wendet, erscheint er unverständlich, unlogisch.

Welche Toten meint Jesus denn? Sollen die vielleicht schon verstorbenen Brüder oder Onkel des Vaters diesen begraben? Eine Art Geister-Bestattung?

Ich glaube heute, dass wir dieses Wort in Zusammenhang mit der oben zitierten Stelle aus dem Johannes-Evangelium verstehen können. Und noch eine Stelle hilft uns dabei – paradoxerweise, aber wesentlich:

Gott aber ist nicht Gott von Toten, sondern von Lebenden: für ihn sind alle lebendig. (Lk 20,38; BigS)

Halt, Halt!

Will ich mir hier weis machen, dass der Spruch von Mk 8,22 mit der Auferstehung der Toten zu tun hat?!

Will ich hier etwa zu glauben beginnen, dass Jesu Auferstehung uns alle zu Auferstehenden (Auferstehensfähigen) macht?

Ja, es sieht danach aus. Denn schauen wir nochmals auf die Stelle im Johannes-Evangelium zurück:

Amen, amen, ich sage euch: Wer glaubt, hat das ewige Leben. Ich bin das Brot des Lebens. Eure Väter haben in der Wüste das Manna gegessen und sind gestorben. So aber ist es mit dem Brot, das vom Himmel herabkommt: Wenn jemand davon isst, wird er nicht sterben. Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel herabgekommen ist. Wer von diesem Brot isst, wird in Ewigkeit leben. Das Brot, das ich geben werde, ist mein Fleisch, (ich gebe es hin) für das Leben der Welt. (Joh 6,47-51; EÜ; Kursiv von mir)

Und für die „Verstockten“ präzisiert er mehrmals, damit es auch ja klar ist, worum es hier geht. Auf das oben erwähnte Erstaunen antwortet der Rabbi noch einmal, jetzt sehr deutlich:

Der Geist ist es, der lebendig macht; das Fleisch nützt nichts. (Joh 6,63; EÜ)

Das ist, mit Verlaub, schon fast paulinisch! Hören wir Paulus selbst:

Sie (die Unrecht handelnden Menschen) kennen die gerechte Ordnung Gottes genau, nach der diejenigen, die so handeln, der Macht des Todes ausgeliefert sind. (Röm 1,23; BigS)

Will heissen: Wer vertraut in Gott, tut das, was Gott in der Tora, in den Weisungen festgelegt und geheissen hat – von sich aus, ohne die Tora näher zu konsultieren. Und wer dies tut, steht nicht in der „Macht des Todes„. Er hat das ewige Leben im Glauben, wenn man so will.

Was für ein weites Feld! Mir dreht sich der Kopf. Ich bin ein wenig wie ein Hund, der seinen Schwanz jagt.

Lassen wir nochmals Paul ran und versuchen einen Abschluss…

Oder wisst ihr nicht, dass alle, die wir in den Messias Jesus hinein getaucht wurden, in seinen Tod hineingetaucht wurden? Durch das Untertauchen sind wir mit ihm zusammen in den Bereich des Todes begraben. Jetzt können auch wir in erneuertem Leben unseren Weg gehen, genauso wie der Messias von den Toten aufgeweckt wurde durch die Gegenwart Gottes. (Röm 6,3f.; BigS; Kursiv von mir)

Das Leben ist ein Traum. Das wussten die Barock-Dichter und -Künstler alle. In Fülle malten sie es aus und wussten um seine Unwirklichkeit. Je unwirklicher, umso heller musste die Gegenwelt des Messias strahlen. Je detailverliebter und wirklichkeitsverliebter die „reale Welt“, in der gestorben wird, umso deutlicher wurde die Gegenwelt. Nicht wahr?

Die Toten aber, die ihre Toten begraben sollen? Das sind wir.

Wir, denen der Glaube nicht leicht fällt, die um Gerechtigkeit wissen, sie aber nicht umsetzen.

Die Toten, das sind diejenigen, die nicht in die Auferstehung des Messias vertrauen.

Die Toten, das sind jene, die an die Wirklichkeit des Fleisches glauben, an die Wirklichkeit(en) der Wirklichkeit, an die Realität(en) dieser Welt.

Die Toten, das sind jene, die schlafen, wenn sie leben.

Das Leben aber haben jene, die nicht an die Gesetze dieser Welt glauben, weil sie an die Gesetze Gottes glauben.

Und darin – befreit sind.

Oh ja, sollen doch die Toten ihre Toten begraben!

(Und als kleines Augenzwinkern: hatte ich nicht im letzten Blogeintrag genau diese Stelle erwähnt im Johannes-Evangelium – Joh 6,27 -, und in einem ganz anderen Zusammenhang? Ja, das ist kein Zufall, das ist schon fast Zeichen. André Breton sei gegrüsst.)