Weder Wettkampf noch Wachstum

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Dieser Blog ist auch ein Bericht über meine persönliche Entwicklung im Glauben. Im Anfang habe ich daran gar nicht gedacht. Wie für die meisten Menschen erscheine ich mir als eine Person / Persönlichkeit, die in sich gefestigt und “fertig” geformt ist. (Allerdings möchte ich diese “Festigung” nicht festhalten, sondern ständig wieder aufbrechen.)

Rückblickend habe ich das letzte Thema des Scheiterns bereits einmal angetippt (im Blogeintrag “Annahme und Widerstand”). Darin formulierte ich eine spekulative Einsicht: Nimmt man störende, irritierende oder falsche Entwicklungen und Geschehnisse an als etwas, das zu einem selbst und somit zum eigenen Lebenslauf notwendig dazu gehört, leistet man Widerstand.

Ich schrieb damals als zentrale Botschaft folgendes:

Jemand, der annimmt, was ihm in Ungerechtigkeit geschieht, nimmt dem Ungerechten und Mächtigen seine Macht.

Passiv ist aktiv

Dies ist einerseits eine zutiefst biblische Erkenntnis. Denken wir nur an die absolut entwaffnende Frage Jesu an den Soldaten, der ihn geohrfeigt hatte: “Warum schlägst du mich?

Und andererseits ist sie in zahlreichen Beispielen von politischen oder gesellschaftlichen Kämpfen bewährt und in gewisser Weise bewiesen worden: von den Sit-ins der Studenten in den 68-er und 70-er Jahren bis zurück zu Gandhis “Satyagraha”-Widerstandsgedanke.

Ich denke auch an Tolstois – für mich als Jugendlicher besonders prägende – Satz aus seinem “Aufruf an das arbeitende Volk” (1909):

Und die Gewalt, welche die Regierung zu dem Zweck gebraucht, wird von euch selbst geliefert.

Der logische Schluss daraus ist, dass die Regierung, ja das Land und Volk aufhört zu existieren in dem Moment, da die Menschen sie oder es nicht mehr mittragen. Das ist ein sehr revolutionärer Gedanke: Würden wir alle zusammen uns weigern, das Milizsystem des Schweizer Militärs zu unterstützen, niemand könnte uns dazu zwingen. Dass dieser Umsturz  in der Geschichte erst ein paar Male passiert ist (und auch da ist es zweifelhaft, ob diese Bewegung “von unten” kam), schmälert die Wahrheit dieser Maxime nicht im Geringsten.

Doch geht es mir in erster Linie hier nicht um gesellschaftliche oder politische Befreiung oder Bewegung, sondern um eine inner-menschliche Bewegung und Befreiung. Diese von aussen gesehen passive Haltung widerstrebt den aktiven Ansprüchen und Erwartungen der äusseren Welt dermassen, dass sie eine aktive, widerständige Haltung ist.

Nicht nur nicht rennen…

Wisst ihr nicht, dass die Läufer im Stadion zwar alle laufen, aber dass nur einer den Siegespreis gewinnt? Lauft so, dass ihr ihn gewinnt!
Jeder Wettkämpfer lebt aber völlig enthaltsam; jene tun dies, um einen vergänglichen, wir aber, um einen unvergänglichen Siegeskranz zu gewinnen. Darum laufe ich wie einer, der nicht ziellos läuft, und kämpfe mit der Faust wie einer, der nicht in die Luft schlägt; vielmehr züchtige und unterwerfe ich meinen Leib, damit ich nicht anderen verkünde und selbst verworfen werde. (1 Kor 9, 24-27)

Dieser Haltung – und es ist Paulus, nicht irgendwer, der hier spricht – möchte ich sofort widersprechen. Es kann gerade nicht darum gehen, der Schnellste zu sein, der sportlich Leistungsfähigste.

Seit frühester Kindheit werden wir darauf konditioniert, im Wettbewerb zu stehen. Uns mit- oder vielmehr gegeneinander zu vergleichen und beweisen.

Gerade als Religionslehrer habe ich immer wieder das Gefühl, meine Chance gegenüber den Schülerinnen und Schülern ist es, ihre Individualität wahrzunehmen und zu schätzen. Und ihre Leistung, ihre emotionale oder kognitive Kompetenz mal “aussen vor” zu lassen. Dies verwirrt die Schülerinnen und Schüler immer wieder: Sie sind sich gewohnt, gemessen zu werden.

Ich aber messe nicht.

Oder besser: ich messe anders.

Mir geht es nicht um ein Gelingen – wie viele Religionsstunden scheitern für die Mehrheit der Teilnehmenden -, sondern sondern um ein Reifen. Und dieser Reifungsprozess kann weder beschleunigt noch gesteuert werden.

So fühle ich mich erst jetzt, mit 43 Jahren, als der Mann, zu dem ich werden kann.

So weiss ich längst, dass meine Gedichte durch Anstrengung oder Übung nicht besser werden.

So erfahre ich immer wieder, dass sich ergibt, was gelingen muss. Und was sich nicht ergibt, soll nicht gelingen.

Da könnten Sie jetzt einwenden: “Aber das ist ja Fatalismus.”

Diese ruhevolle, erwartungs-offene Haltung kann so interpretiert oder gesehen werden. Sie ist aber weit mehr: Sie rechnet mit den “untergründigen” Strömen von Bewusstsein und Haltung. Und sie nimmt diese Ströme als hilfreiche Impulse an. Oder wehrt sich dagegen.

Es ist eine aufmerksame oder (modisch ausgedrückt) achtsame Haltung. Sie will nicht Geschwindigkeit und Leistung, sondern ein Gelingen in Gleichmut und Gleichgewicht.

Klingt nicht nur fatalistisch, sondern gerade esoterisch. Da hole ich mir doch einfach meinen Liebling, den Prediger, als Stichwortgeber und Hilfe her. Wie sagt er so schön?

Wiederum habe ich unter der Sonne beobachtet: Nicht den Schnellen gehört im Wettlauf der Sieg, nicht den Tapferen der Sieg im Kampf, auch nicht den Gebildeten die Nahrung, auch nicht den Klugen der Reichtum, auch nicht den Könnern der Beifall, sondern jeden treffen Zufall und Zeit. (Pred 9,11)

…sondern auch nicht wachsen

Ein anderes Mantra, das wir heutzutage und vor allem in der Privatwirtschaft und inzwischen sogar im “Service public” zu hören bekommen, ist dasjenige vom “Wachstum”. Dabei geht es um Zahlen: mehr Umsatz, mehr Gewinn, mehr Kunden, etc. Es ist letztlich die gleiche Mentalität, die ich oben bei Paulus kritisiert habe.

Wir Menschen sind Geschöpfe, die immer nahe an der Hybris, an der Gottähnlichkeit leben und begehren. Doch unsere Leben, auch unsere merkwürdigsten Handlungen entstehen, weil Gott uns geschaffen und gewollt hat. Als freie Wesen wohlverstanden, nicht als Effizienz- oder Produktivitäts-Steigerungs-Automaten, Geld-Maschinen oder Arbeitstiere.

Als Geschöpfe, denen das Schöpfen zwar auf den Weg, aber nicht als Möglichkeit zur Entfremdung von sich selbst mitgegeben wurde, steht all unser Handeln im Rahmen dieser Geschöpflichkeit.

Das heisst, wir stehen unter dem Gesetz der “creatio continua”: Gott ist immer noch “am Werk” und präsent in Geschichte und Gegenwart.

All unser Tun und Lassen steht damit unter seinen Fittichen und liegt in seiner Hand.

Anders gesagt: Was wir wollen, kann gelingen – wenn es gelingen soll.

Und wenn wir wachsen, dann handelt es sich damit nicht um einen Prozess der Steigerung, sondern um einen Prozess der Veränderung. Das Wachsen in und unter Gottes Angesicht und Auge ist ein Wachsen zur Seite, weder in die Höhe noch in die Weite.

Wundervoll hat es ja Jesus selbst formuliert:

Seht euch die Lilien an, wie sie wachsen: Sie arbeiten nicht und spinnen nicht. Doch ich sage euch: Selbst Salomo war in all seiner Pracht nicht gekleidet wie eine von ihnen. (Lk 12,27)

Diese innere Entwicklung im Rahmen der “fortwährenden Schöpfung” ist genauso eine freiwillige Entscheidung wie diejenige für mehr Wachstum und mehr Lust oder Genuss.

Es ist eine bewusster Verzicht auf die eigene Erwartung und die eigene (zu hohen) Ansprüche.

Natürlich habe ich auch weiterhin (noch und nöcher) Ziele und Ansprüche, aber ich “lasse kommen”: ich weiss mich geborgen in einer Zuneigungswelt und -haltung, die aus diesem Glauben an Gottes Präsenz und Handeln im Jetzt stammt.

Ich weiss, dass ich aus diesem Glauben heraus reife. Ich bin so gut und genug wie ich bin. Allerdings nur, wenn ich mich für einen Weg, für eine Aufgabe entscheide. Aus meinem mir von Gott geschenkten freien Willen.

Mit Gott gehen

Dieser Weg ist einer in Ergebenheit. Er schliesst nicht aus, dass ich ihn selbst zu beherrschen und bewältigen suche. Aber ich weiss, dass ich ihn nur als Geschöpf Gottes bewältigen und beherrschen kann. Alles andere wäre nicht nur Selbstüberschätzung oder Liebe zur Machbarkeit, sondern auch Hybris, Selbst-Entfremdung.

Grundvoraussetzung für das Gehen auf diesem Weg ist jedoch die Gelassenheit und die Ergebenheit: keine Ansprüche stellen, sondern verwirklichen, was in mir wahr werden will.

Dieser Weg muss nicht in “Nachfolge Jesu” gelebt werden. Wichtig ist nur, dass ich nicht (be-) herrschen und vollmächtig sein will. Dass ich annehme, was kommt, und daraus forme, was kommen wird.

Und diese Grundhaltung ist eine demütige, und als solche sehr unzeitgemäss:

Nehmt keine Vorratstasche mit auf den Weg, kein zweites Hemd, keine Schuhe, keinen Wanderstab; denn wer arbeitet, ist seines Lohnes wert. (Mt 10,10)

Befreiung

Die Befreiung ist nie zu Ende. Es ist nicht die Sklaverei, die wir mitschleppen; wir wollen Heimat. Beziehungen sind uns Eigenheime. Immobilien – der unrührbare Stein – geben uns in der Materie (im Fleisch, wie mein Freund Paul sagen würde) ein Gefühl von Findung. 

Die Befreiung ist nie zu Ende: immer ein Schritt von der Mündigkeit entfernt – und ihr doch näher gekommen mit jedem heroisch-minimen Akt der Lösung aus Bindungen und Findungen, jedem durstigen armen Schritt weiter in die Wüste der Freiheit hinein, in die nächste Versuchung und ins nächste Anklammern an eine neue Form von Sklavenhaft.

Die Befreiung ist nie zu Ende. Jede Tat ist wichtig – Freiheit kann kann auch hinter uns liegen, kann in der Lücke der Zeit ihr Zelt aufschlagen. Bewegung ist alles.

Bewegung ist alles – und der erste Beweger ist immer da, wo wir ihn nicht vermuten; ist immer dort, wo wir noch nicht waren…