Ist das wirklich passiert?

Geschichten helfen helfen; Bild von Comfreak

… das Wahrscheinliche ist, entgegen der Idee, die sich der Lügner davon macht, ganz und gar nicht das Wahre.

(Proust, La Prisonnière)

Ein Thema, das mich als jemand, der gerne (und gut) erzählt, immer wieder fasziniert und beschäftigt, sind die Fragen von Kindern am Ende einer Erzählung. Ich habe anderswo schon darüber gesprochen, wie wichtig ich das lokale Verankern und persönliche Verorten für gut erzählte (nicht nur) Bibel- oder Koran-Geschichten halte.

Im Falle meiner besten „funktionierenden“ Geschichten gelingt es mir immer wieder, die Kinder in ihren Sicherheiten und Vorstellungen zu verunsichern und zu irritieren. (Es versteht sich von selbst, dass mir sehr oft ähnliches mit Erwachsenen passiert, denen ich etwas erzähle.)

Fragen nach der Wahrheit, der Wirklichkeit einer Geschichte

Meist folgt auf meine Erzählung (egal ob Märchen, Dilemmageschichte oder Bibelstory) eine Frage: „Sie, Herr Füglister, ist das wirklich passiert?“ Oder in Abwandlung, mit der gleichen Stossrichtung: „Sie, Herr Füglister, ist das wirklich wahr?“ Hin und wieder werden die beiden Fragen (in verschiedenen anderen möglichen Varianten) auch verneint gestellt, also: „Sie, diese Geschichte ist doch nicht wirklich passiert, oder?“ oder „Sie, aber diese Geschichte ist doch nicht wirklich wahr?“

Und jedes Mal ist es mir ein Anliegen, diese Frage(n) ernst zu nehmen; die Fragenden ernst zu nehmen und nicht mit halben Antworten abzuspeisen, wie sie das als Kinder ja nur zu oft von Erwachsenen erfahren (im Sinne von Antworten wie „Ach, das verstehst du noch nicht, dafür bist du noch zu jung / zu klein“).

Doch muss ich gleichzeitig auch zugeben, dass ich keineswegs der Meinung bin, eine abschliessende, zufriedenstellende Antwort gefunden zu haben. (Gesetzt der Fall, eine Antwort soll gefunden werden; oft bringen uns ja nur schon die Fragen selbst weiter, und Antworten sind oft todbringend.)

Ich möchte im Folgenden sowohl darlegen, wie ich das bisher mache, aber auch darüber hinaus denken: Was bedeutet diese Frage für mich als Erzählenden? Gibt es bessere „Erklärungsansätze“?

Eine erste Antwort: „Wirklich“ und/oder „Wahr“

Nach einer ersten Rückfrage („Weshalb fragst du das?“), die meist dazu führt, dass der oder die Fragende die Geschichte in seine Lebenswelt und seine Meinungen, Ansichten gestellt und darauf (besonders wenn es sich um theologisch grundierte Geschichten geht) versucht hat, Rückschlüsse auf sein eigenes individuelles und gesellschaftliches Handeln und dessen Folgen zu ziehen – nach einer ersten Rückfrage also schreibe ich zwei Begriffe an die Wandtafel: „Wirklich“ und „Wahr“.

Die Schüler*innen ergründen darauf die beiden Begriffe dahingehend, wie sie selbst von ihrem Leben erzählen:

  • Heisst das, dass alles, was du erzählst, wirklich genau so passiert ist, wie du es erzählst?
  • Heisst das, dass alles, was du erzählst, auf für andere eine Bedeutung hat, also eine gewisse Wahrheit beinhaltet, aus der zu lernen wäre?

In der darauf folgenden Debatte wird meist mehr oder minder deutlich, dass Erzählen

  1. Immer eine verfälschende Wirkung auf das Erzählte mit sich bringt (sprachlich oder in der Bewertung), das Erzählte also nur selten mit „wirklich genauso passiert“ oder gar mit „wahr“ zusammenfällt;
  2. Meistens nur eine Sichtweise oder Perspektive (die eigene oder die des Erzählenden) mit sich bringt, womit das Erzählte kaum oder nur mit Einschränkungen „wirklich“ oder „wahr“ behaupten kann.

Gleichzeitig verstehen oder erkennen die Schüler*innen in der Diskussion aber auch, dass eine Erzählung, so individuell (aus der Perspektive) und eigen (aus der Sprache) heraus sie sein mag, oft und häufig eine tiefere Wahrheit enthält. Dies demonstriert sich besonders leicht an Märchen wie demjenigen vom „Schlaraffenland„:  Die Zuhörenden können sich köstlich erfreuen ob diesem „Land des Überflusses“, über die Vorliebe seiner Einwohner für Rüpel und Unbelehrbare, Lügner und Faulpelze – letztlich erkennen sie in der Diskussion darüber, dass ein solches Land und ein solches Dasein, so nah es an unser schweizerisch-heiles und paradiesisches Leben (wenigstens in materieller Hinsicht) herankommt, nicht wirklich wünschenswert ist, eine Utopie bleiben soll:

  • Dass ein solches Land insofern „wirklich“ ist, als es bei uns, in unserem Wohlstandsland Schweiz, durchaus schon fast realisiert ist;
  • Dass ein solches Land insofern von einer „Wahrheit“ spricht, als es unseren Wünschen und Bedürfnissen einen Spiegel hinhält – und wir danach auch offen aussprechen können, dass wir davon doch lieber ein Zuwenig als ein Zuviel möchten.

Darf man das den Kindern (denn) zumuten? Über Fantasie und magisches Denken

Inzwischen habe ich einige angeregte, vehemente Debatten mit Eltern von Schulkindern hinter mir. In einigen dieser Debatten wurde und wird die Art und Weise, wie ich Geschichten erzähle, in Frage gestellt. Die Eltern hören zuhause von ihren Kindern von den Geschichten. Die Kinder benutzen dabei keine erzählerischen Distanzmittel, wie ich sie anwende; so erzähle ich z.B. häufig aus der Perspektive und mit der Stimme einer Person, einer Figur, die meist auch noch in Form eines Maskottchens anwesend ist. Vor allem säkuläre oder eben: konfessionslose Eltern sind dann meistens entsetzt, dass ich angeblich so unverstellt von Gott und seinen Taten erzähle. Sie sind sich meist nicht bewusst, dass Geschichten (auch eigene, selbst erlebte) im Kopf oder Herz jedes Menschen, insbesondere aber in jenem der Kinder, ein Eigenleben entwickeln.

Hinzu kommt: Als erfahrener Erzähler weiss ich auch genau, wie gewisse Details und Informationen auf die Kinder wirken werden. Und scheue mich nicht davor, diese einzusetzen, meine Geschichten realitätsnah und glaubwürdig zu erzählen.

Bei der Mehrzahl der Kinder (und Erwachsenen!) löst eine gut, d.h. glaubwürdig erzählte Geschichte eine mehr oder weniger lang anhaltende Verwunderung aus. Bei einigen der Kinder jedoch geht dieses Erstaunen oder diese Erschütterung tiefer. Sie sind derart von der Erzählung in den Bann geschlagen worden – und häufig sind das die so skeptischen und coolen Buben! -, dass die Erzählung in ihnen einen Impuls auslöst; sie beginnen ihre Lebensweise und Lebenswelt, ihre Gedankenwelt für eine gewisse Zeit und unter dem Eindruck der Geschichte umzumodeln, anzupassen, zu überdenken.

Das hat in meinen Augen mit der Fantasiefähigkeit zu tun. Aber auch damit, wie unverschüttet das magische Denken noch ist.

  • Magisches Denken ist ein Zustand, in dem das Kind imaginäre Personen oder Gegenstände wirklich sucht. Es nimmt an, dass es mit Gedanken und Worten die reale Umwelt wirklich beeinflussen kann. Bei Primarschulkindern hat jedoch das rationale Denken schon in vielerlei Hinsicht eingesetzt. Dennoch kann im Rahmen einer Geschichte eine Geste der Erzähler*in („oh schaut einmal diesen schönen Baum dort!“) dazu führen, dass sich eine ganze Klasse erstaunt in die Richtung des Zeigefingers umdrehen. Dennoch kann ein Kind am Ende der Geschichte davon erzählen, dass es gemerkt hat, wie es im Zimmer dunkel wurde, weil in der Geschichte ein Gewitter niedergegangen ist.
  • Fantasie ist eine kreative Eigenschaft, die uns Menschen erlaubt, sich Dinge und Personen, die nicht anwesend sind oder die es nicht gibt, vorzustellen, diese Personen und Dinge in gewisser Weise zu vergegenwärtigen – in die eigene Lebenswelt hereinzuholen. So gibt es viele Kinder, die bis zur Schule mit „imaginären Freunden“ Umgang pflegen. (Bei mir noch bis weit in die Sekundarschule hinein.) In Zeiten einer übervisualisierten Umwelt brauchen Kinder heute zur Begleitung einer Geschichte eine Bildebene; ob das ein neues Phänomen ist, sei hier dahingestellt. Was jedoch ebenso deutliche Wirkung auf das erzählte Geschehen hat, ist die Fantasiefähigkeit der Kinder: Manche Kinder können sich das Erzählte sehr gut vorstellen, während die Mehrheit eher auf die Unterstützung durch Bilder und klare Figurenzeichnung angewiesen ist.

Erzähle ich also Geschichten, bin ich mir der oben genannten Faktoren bewusst und lasse mir von ihnen für eine maximale Glaubwürdigkeit und Wirkmacht der Geschichte von ihnen helfen. Denn eine Geschichte soll ja nicht nur unterhalten, sondern auch verändern.

Und hier setzt ja meist die Kritik der konfessionslosen und religionskritischen Eltern auch an: Die Geschichten aus der Religion sollen informieren, aber nicht verändern; sie sollen unterhalten, aber nicht beeinflussen. Die Kritiker*innen von anspruchsvollem Erzählen verlangen also von dem Erzählenden, was per se nicht möglich ist: eine Berieselung, eine Entleerung von Sinnhaftigkeit. Denn selbst wenn ich mit einer Geschichte nicht beeinflussen möchte, geht die glaubwürdig erzählte Geschichte in den Fantasie-Erfahrungsschatz der Zuhörer über. In dem Moment, wo ich eine Geschichte erzähle, gehört sie mir – dem Erzähler – bereits nicht mehr.

Vor diesem Hintergrund stelle ich mir immer wieder die Frage: Darf man also den Kindern und Jugendlichen glaubwürdige Geschichten zumuten? Darf man sich auf ihre Vorstellungskraft und ihre Reste von magischem Denken verlasse, sich darauf berufen und diese zu Hilfe nehmen?

Denn Kinder sind ja beeinflussbar, die meisten nehmen sich Erwachsene als Referenz- und Bezugspersonen, nach deren Aussagen und Ideen sie sich richten.

Meine Antwort hat viel mit dem zu tun, was ich in einem älteren Post namens „Ein anderer Ort“ beschrieben habe:

  • Weil die Kinder im Schulunterricht – insbesondere im Fach NMG – faktenbasiert und empirisch unterrichtet werden, ist es mir ein Anliegen, in anderen, nicht-empirischen und nicht-faktischen Geschichten aufzuzeigen, dass auch diese Wahrheitsgehalt und Seinsberechtigung in einer vieldimensionalen Welt haben. Mehr noch: diese „Anderwelten“ gehören unmittelbar zu unserem ethisch grundierten Handeln dazu.
  • Die Übung in „Anderwelten“ ist intrinsisch notwendig für ein gesundes Menschsein, weil sie über die Wirkmacht von Geschichten die eigene Haltung, das eigene Denken und Empfinden mitbeeinflusst und so den Menschen bildet.

Fiktion ist nicht Lüge

In Zeiten von „fake news“ ist uns allen bekannt und vielen ist es auch schmerzhaft dringlich, dass auch erfundene Nachrichten eine starke Ausstrahlungs- und damit Überzeugungskraft haben. Häufig habe ich schon erlebt, wie Kinder heftig diskutiert haben, ob ein Youtube- oder Tiktok-Video „wahr“ oder „wirklich“ sei, ob sein Inhalt wirklich „echt“ sei. Einige besonders „aufgeklärte“ Kinder gehen dann sogar soweit, dass sie behaupten, alles auf Youtube sei erstunken und erlogen und nur das, was du wirklich erlebst, was du beweisen kannst, ist auch wirklich geschehen.

Und schon sind wir wieder mitten in der Frage nach Wahrheit und/oder Wirklichkeit. In solchen Fällen begleite ich die Diskussion, sofern es der Begleitung bedarf, damit, dass ich die Kinder auffordere, hinter die Geschichten zu blicken. Was sollen die Aussagen der Geschichten bei dir auslösen? Sollen sie etwas Gutes, Hilfreiches, Tätiges auslösen oder sollen sie dich verwirren, ablenken, machen sie jemand oder etwas schlecht?

Der Einwand jedoch, dass Geschichten erfunden sind oder erfunden sein können, diesen Einwand nehme ich meistens sehr ernst; er erbost mich sogar. Die Blindheit, mit der manche Menschen geschlagen sind und mit der sie alles einer scheinbaren objektiven und empirischen Überprüfung unterziehen, erschüttert und beleidigt mich (oder besser: ihren Verstand und ihre Empathie).

Gewiss würden die meisten zustimmen, dass selbst die „am schlimmsten erfundenen Geschichten“, nämlich diejenigen aus der Hollywood-Maschine, unterhalten können; auch ich würde mich da anschliessen. Einige dieser Machwerke haben sogar eine mehr oder minder billige „Moral“: Held*innen werden in Widrigkeiten geschaffen oder gestählt, meistens erkennen sie erst spät, was für eine Verantwortung sie tragen (und ihr gerecht werden müssen), etc. Doch handelt es sich hierbei mehr um Plattitüden als um Einsichten.

Doch zurück zu jenen, die erfundenen Geschichten nicht trauen oder trauen zu können meinen.

Erbost bin ich deshalb, weil jede Geschichte, selbst eine, die du selbst erlebt hast und die dich daher zutiefst betrifft, wenn du sie erzählst, eine Eigendynamik annimmt. Nicht nur, weil du oft sprachlich nicht die richtigen Wendungen und Worte findest, das Geschehen nicht exakt oder stimmig genug beschreiben kannst: du willst ja deine Zuhörer*innen auch bei Laune halten und eben: unterhalten. Das Schlimmste für jemand, der etwas erzählt, ist es ja, nicht wahrgenommen zu werden. Und je öfter du die Geschichte erzählst, umso freier wirst du – auf jeden Fall erlebe ich es so – in ihrer Ausschmückung und Gestaltung, probierst Erzähltricks und Täuschungsmanöver.

Ernst nehme ich  diesen Einwand deshalb, weil ich selbst bereits oft in Fiktion Dinge beschrieben oder erfunden habe, die dann Wirklichkeit geworden sind. Das kann ungeheuer schockierend sein, fast als hätte man die Wirklichkeit erfunden. Und denke nur an die Science Fiction oder an Horror-Geschichten: wie vieles davon wird früher oder später Wahrheit und realisiert!

Und dann musste ich plötzlich sagen: Ja, das ist wirklich passiert!

Also Obacht mit der Abwertung von Fiktion!

Lüge ist nicht Fiktion

Dass die Lüge im Schafspelz der Fiktion eine Wunderwaffe ist im Kampf gegen die empirische Wirklichkeit, erlebst du ja auch täglich an all den Verschwörungstheorien (von der Weltregierungstheorie der Antisemiten bis zu den Coronaleugnern): weil jeder von uns in einer eigenen kleinen Weltblase lebt, fällt es uns furchtbar leicht, sich in eine Gegenwelt und in eine Anderwelt hineinzuflüchten, damit wir der Wirklichkeit nicht mit Verantwortungsbewusstsein und Empathie begegnen müssen.

Jemand, der Geschichten erzählt, muss sich davor hüten, diese Heimat in der Geschichte zu gemütlich, zu einfach einzurichten. (Das hat Jesus sehr wohl gewusst; wie viele seiner Gleichnisse und Parabeln sind scheinbar einfach zu deuten, aber beim näheren Hinblicken und Nachdenken fast schon heimtückisch vertrackt.) Die berühmte „Moral von der Geschichte“ soll aufrufen dazu, das Leben zu verändern; auch hier ganz im jesuanischen Sinne.

Eine platte Lüge jedoch soll dich täuschen und ablenken vom eigentlichen Geschehen oder vom wirklichen Befund.

Lüge ist deshalb keine Fiktion, weil sie vorgibt, die Wahrheit zu sagen und darzustellen.

Mit Schrecken und Scham dachte Bastian an seine eigenen Lügen. Die erfundenen Geschichten, die er erzählt hatte, rechnete er nicht dazu. Das war etwas anderes. Aber einige Male hatte er ganz bewusst und absichtlich gelogen – manchmal aus Angst, manchmal um etwas zu bekommen,  das er unbedingt haben wollte, manchmal auch nur, um sich aufzuspielen.

(Michael Ende, Die Unendliche Geschichte)

Ein Geschichtenerzähler*in ist eine Held*in

Die Verantwortung ist also gross für die Geschichtenerzähler*innen dieser Welt.

Und nichts gibt grössere Macht über die Menschen als die Lüge. Denn die Menschen, Söhnchen, leben von Vorstellungen. Diese Macht ist das Einzige was zählt.

(Michael Ende, Die Unendliche Geschichte)

Auch wenn das obige Zitat von Lüge redet, spricht es von den Erzählungen, mit denen du als Erzähler*in die Menschen „umgarnst“, indem du ihre Vorstellungen und ihre Vorstellungskraft anregst.

Oder um es mit dem Werwolf Gmork zu sagen, der Atreju in der Spukstadt umgarnt:

Nur ruhig, kleiner Narr (…), sobald die Reihe an dich kommt, ins Nichts zu springen, wirst auch du ein willenloser und unkenntlicher Diener der Macht. Wer weiss, wozu du ihr nützen wirst. Vielleicht wird man mit deiner Hilfe Menschen dazu bringen, zu kaufen, was sie nicht brauchen, oder zu hassen, was sie nicht kennen, zu glauben, was sie gefügig macht, oder zu bezweifeln, was sie erretten könnte.

(Michael Ende, Die Unendliche Geschichte)

Die Erzähler sollen also verantwortungsvoll darauf achten, dass ihre Geschichten nicht dem Konsum dienen oder dem Hass oder dem Unglauben: ihre Geschichten sollen also nicht den Lügen gleichen, die verwirren und täuschen sollen. Ihre Geschichten sollen nachdenken, zweifeln, nachforschen, ändern, fragen und helfen helfen.

Direkt ins Herz. Teil 1

Gioacchino_Assereto_-_Esau_sells_his_birthright

(Esau verkauft sein Erstgeburtsrecht; Giovanni Assereto, ca. 1645)

Im Beitrag „Wirkliche Geschichten“ habe ich über den Zusammenhang von biblischen oder koranischen Geschichten und den Lebenswelten, besser: den Lebenswirklichkeiten der Menschen, insbesondere der Kinder, spekuliert.

Damals ging es mir darum, die abwehrende Haltung vieler Menschen gegenüber Glaubens- und Lebensgeschichten aus Bibel und Koran zu hinterfragen. Darum, dass es „eben nicht nur eine Geschichte“ ist, sondern tief an unsere Erfahrungen rührt und in unsere Weltanschauung leuchtet.

Ich möchte hier nun zwei Geschichten kurz vorstellen, die sowohl mich als die Kinder meistens direkt in das Herz treffen. Und natürlich anführen, weshalb sie das tun. Und warum das wichtig ist.

 Jakob und Esau – Brüder und Rivalen 

Die Geschichte aus Gen 25, 19-26 erzählt von zwei ungleichen Zwillingen. Esau ist der Sohn seines Vaters Isaak, ein Mann ohne Wenn und Aber. Jakob ist der Sohn seiner Mutter Rebekka, ein Muttersöhnchen. (Ich übertreibe, aber nur wenig.)

In der Bibel werden ihre Konflikte als Kinder angedeutet (Gen 25, 37-43), sie brechen erst recht aus, als es um das Erbe ihres Vaters geht (Gen 27, 1-45).

In meinem Unterricht benutze ich die Geschichte nach Laubi[2], besonders den dort geschilderte Konflikt vor dem berühmten „Linsengericht“.

Diese Rivalität zwischen fast gleichaltrigen Geschwistern (ob Mädchen oder Jungen) trifft die meisten Kinder enorm. Sie können sowohl die Rivalität zwischen den beiden Brüdern als auch die ungerechte bzw. ungleiche Behandlung vonseiten der Eltern sofort nachvollziehen.

Manchmal sitzt auch ein Zwilling oder ein Zwillingspaar im Kreis. Ihre eigene Erfahrung, sofern sie diese zu teilen bereit sind, kann die Geschichte von Jakob und Esau noch lebhafter, noch lebensnaher machen. So sorgt oft nur schon die Erwähnung, dass der eine oder die eine der beiden 2 Minuten vor dem andern geboren worden ist, für eine zusätzliche Glaubwürdigkeit der erzählten Geschichte.

Die Erzählung rund um das Linsengericht, die zwar für die Ungerechtigkeit der Behandlung von Esau essentiell ist, wird angesichts heutiger Lebenswelten meist nicht verstanden. Natürlich lässt sie sich erklären und darlegen, aber sie wirkt niemals so unmittelbar wie die Schilderung der Beziehung zwischen den beiden.

Das Brüderpaar Esau und Jakob kann also sehr schön versinnbildlichen, wie eng und nah die Bibel auch heute noch an den Lebenswelten von Kindern oder eben Menschen erzählt.

Dagegen fällt der rechtliche, gesellschaftlich-regelnde Teil des Betrugs um das Erstgeburtsrecht weitaus schwerer zu vermitteln. Hier erscheint es zudem als unwahrscheinlich, dass ein Vater seine beiden eigenen Söhne nicht auseinanderzuhalten vermag, obwohl er alt und blind ist.

Während also die eigentliche Thematik geschwisterlicher Rivalität um die Elternliebe oder um den Vorrang auch heutige Lebensbefindlichkeiten trifft und anspricht, kann die Handlung rund um den väterlichen Segen keine ähnliche Glaubwürdigkeit beanspruchen.

Dass diese Geschichte eines Betrugs aber dennoch erzählt zu werden hat, steht ausser Frage.

Esau aufwerten!  Ein persönliche Auslegung

Wie mit vielen Geschichten in der Bibel, insbesondere im alten Testament, fühle ich mich zu den Bösen, den vermeintlich Schlechten und auch den Frevlern hingezogen. Nicht umsonst ist mein Lieblingskönig im Alten Testament nicht Salomo, sondern Saul.

Ich sehe es auch christlicherweise als meine Aufgabe, die „Liebe zum Feind“ immer wieder fühlbar zu machen: dass jemand „Böses“ durchaus auch eine Vorgeschichte und damit vielleicht gar „Gründe“ für sein So-Böse-Sein haben könnte, dass ihr oder ihm das Leben einfach zur Hölle geworden sein kann.

Vor diesem Hintergrund geht es mir in dieser Geschichte darum, Esau als positive, ja geradezu kindlich-unschuldige Person darzustellen. Auch Kinder denken selten über den Moment hinaus. Genau wie Esau, als er sich um das „Erstgeburtsrecht“ foutiert – solange er nur was Warmes zu essen kriegt.[3] (Ein ähnliches Phänomen ist das selbst bei vielen meiner 4. Klässlern noch nicht erloschene „magische Denken“.)

Gleichzeitig kann Esau durchaus noch einen weiteren Unschuldsfaktor zulegen, wenn daran gedacht wird, dass die Jäger und Sammler der Steinzeit – wie jüngst zum Beispiel bei Hariri zu lesen (Eine kurze Geschichte der Menschheit) – durchaus glücklich und satt waren. Und darüber hinaus ein stressfreieres, gesünderes und vermutlich damit erfüllteres Leben führten.

Im Gegensatz dazu lässt sich Jakob zwar weiterhin als der Überlegenere, der Schlauere, Vorbedachtere darstellen. Zudem – Achtung, machistische Vorurteile oder Deutungsmuster einer patriarchalen Gesellschaft? – ist ja wiederum eine Frau für die Hinterlist eines Mannes verantwortlich! Und mythologisch steht Jakob dann auch für den Übergang von der eher nomadischen Jägerkultur in die eher sesshafte Kultur der Jungsteinzeit.

Eine treffende Geschichte 

Zusammenfassend liesse sich etwa Folgendes sagen über diese Geschichte:

  • Sie findet in der Lebenswelt der Kinder nicht nur Entsprechungen, die Lebenswelt der Kinder spiegelt sich in der Geschichte von geschwisterlicher Rivalität und Zusammenleben.

  • Die Geschichte eröffnet zudem den Dialog über Persönlichkeit (wer bin ich?),  Vorurteile und Prägung (was macht mich aus?); eine Diskussion, die in unserer Zeit der Frühleistung und der Abklärung und Bestimmung von Verhaltensmustern bzw. Verhaltensauffälligkeiten wichtig bleiben wird.

  • Und wie häufig mit Bibelgeschichten ist sie eine Einladung an die Kinder und mich, darüber nachzudenken, was anders geschehen könnte, was zu ändern wäre – im Verhalten der Protagonisten und – übertragen auf unsere Situationen – in unserem eigenen Verhalten (gegenüber unseren Mitmenschen, unseren Nächsten).

Und die Religion in all dem? 

Und wie immer stellt sich die logische Frage: Was hat das (noch) mit Religion zu tun?

Für mich als Religionslehrer sind die biblischen und koranischen Geschichten ein Bild von Menschenwelten, ein Abbild von Menschenerfahrung. Ein unglaublicher Schatz an Erfahrung sogar: von Leid und tief reichendem Schmerz über Freud, von Niederlagen bis zu grossen Erfolgen. Sie zeigen auf, wie Menschen handeln (können).

Es wäre in meinen Augen sträflich, dieses Potenzial an Situationen und menschlicher Erfahrung nicht zu nutzen als Erzähl- und Reflexions-Stoff.

Und ich kann oder muss mir eingestehen, dass mich der „Glaubens-Inhalt“, das „von Gott angeleitet oder gelenkt sein“, das „auf Gott verwiesen sein“ in all diesen Geschichten nicht annähernd so stark interessiert wie dieser menschliche Erfahrungsreichtum.

Und ich erkenne, dass ich in vielen Dingen ein ebenso säkularisierter Mensch bin wie alle um mich her:

  • Religion ist eine der möglichen Wurzeln für ethisches Handeln,

  • Glauben hilft gewiss beim guten Handeln (vorausgesetzt, du glaubst an die Notwendigkeit des Guten in der Welt),

  • aber in den Geschichten aus den Religionen finden wir Hinweise darauf, was im Leben gelingt und was missglückt (gelingen oder missglücken kann), mit und auch ohne den Glauben an Gott oder Allah.

 

 


[1]

Laubi, Werner: Geschichten zur Bibel. Abraham, Jakob, Josef, Zürich/Einsiedeln/Köln 1985 (1), S. 50-54.

[2]

Laubi, Werner: Geschichten zur Bibel. Abraham, Jakob, Josef, Zürich/Einsiedeln/Köln 1985 (1), S. 50-54.

[3]

So leben die Schüler*innen häufig so stark im Moment, dass sie die herrschende gesellschaftliche oder schulische Ordnung vergessen oder verlassen. Ihr Erstaunen ist oft gross, wenn sie trotz mehrfacher Vorwarnung mit einer „logischen Folge“ leben müssen…