Perfekt will ich nicht sein

Herr ich bin nicht perfekt und will es nicht sein.
Meine Fehler sind ich. Ich nehme sie an.
Immer könnt ich fliehen fürchten mein Sein.
Herr ich bin nicht perfekt und will es nicht sein.
Immer wär ich im Schein und immer nah dran —
Lief ich lang oder kurz ich käme nie an.
Herr ich bin nicht perfekt und will es nicht sein.
Meine Fehler sind mir  — ich tu’ was ich kann.

Zweite Naturen

Lehrer sind mehr denn andere Berufsleute am Puls der gesellschaftlichen Entwicklung. Man möge mir den Gemeinplatz verzeihen, den ich auch gleich übertreffen möchte. Religionslehrer sind mehr denn andere Berufsleute am Puls der religiösen Entwicklung.

In meiner täglichen Arbeit als Religionslehrer habe ich viel Freude, weil immer wieder der heilige Geist eingreift, mich oder die Kinder oder alle zusammen erfasst und zu wundervollen Erkenntnissen führt.

In allen Fällen und Stunden aber beobachte ich immer wieder (nicht zu meinem Erstaunen, das sei dann doch gesagt), wie zugebuttert die ursprüngliche menschliche Natur bereits ist – von konsumistischen, auf Unterhaltung ausgehenden Gedanken und unausgedachten, unausgegorenen Empfindungen, von der Erwartung nach schneller Befriedigung der Reize bis hin zum Sprücheklopfen der SVP-Narren.

(In einer Stunde musste ich mich doch ernsthaft anhören, dass man alle Albaner und Kosovaren einfach vergasen sollte. Das in einem Dorf, wo keine Kosovaren oder Albaner wohnen.)

Ich hüte mich davor, diese Entwicklungen zu bewerten. Ich ordne sie ein. (Auch das mag eine Wertung sein, gewiss.)

Aber ich sprach von der zweiten Natur.

Bei Pascal ist das, soweit ich mich erinnere, die Gewohnheit, die sich über die ursprüngliche Natur des Menschen stülpt. In dieser Hinsicht wäre die zweite Natur eine zivilisatorische Errungenschaft: denn die Gewohnheit (wenigstens in Westeuropa) verbietet dem Menschen Selbstjustiz und andere Akte der Ungerechtigkeit.

Bei Rousseau, meinem anderen Liebling, ist die zweite Natur gesellschaftlich. Der Mensch ist beim ollen Jean-Jacques eigentlich ein Einzeltier, ein Einsiedler. Alle Konflikte stammen daher aus der „Vergesellschaftung“ des Menschen.

Diese beiden Konzepte haben sich bei mir zur Rede von der zweiten Natur verschmolzen. Was meine ich damit, wenn ich von meinen Schülern sage, ihre ursprüngliche Naturen seien „zugebuttert“?

Sind sie wie Brotschnitten, die  ohne Butter besser schmeckten?

Vielleicht…

Ich sehe einfach, dass sie in Gesellschaft nicht fähig sind, sowohl zu sich zu stehen als auch menschliche Regungen (von Schwäche z.B.) zu zeigen oder zuzugeben. Sie befinden sich in einer Art Schutzmodus, in einer Dialektik der Selbstabwehr. (Dazu fällt mir ein, ich muss dringend Pascals Begriffe des „amour propre“/Eigenliebe und „amour de soi“/Selbstliebe vertiefen; sie können zu diesem Thema u.U. noch was beitragen…)

Kurz, es ist ihnen nur sehr selten möglich, sich selbst zu sein. Einerseits, weil sie gelernt haben, dass man in Gesellschaft etwas „darstellen“ muss; man ist also sozusagen ein Schausteller seiner selbst. Andererseits aber, weil sie, da fast immer in Gesellschaft, nie richtig zu sich durchdringen gelernt haben.

Ich gebe zu, dass dies bei mir auf ein sehr pessimistisches Menschenbild schliessen lässt, das dem Menschen grundsätzlich skeptisch gegenüber steht, ihm seine Menschlichkeit (Menschhaftigkeit & Menschsein) nicht wirklich zuzutrauen bereit ist. Mangelt es mir da etwa an Vertrauen?

Das glaube ich nicht. Sehr oft habe ich bereits erlebt, dass die gleichen trägen, gleichgültigen, abgebrühten Kinder aus dem heiteren Himmel wundervolle Diskussionen losgetreten oder wirkliche religiöse Einsichten gehabt haben. Als habe man sie umgestülpt wie eine Socke oder einen Handschuh.

Womit wir wieder bei der zweiten Natur wären.

Wir alle brauchen sicherlich diesen Panzer der zweiten Natur, um überleben zu können. Vieles an diesem Panzer ist und bleibt uns / unserer Persönlichkeit sicherlich äusserlich. Einiges aber verschmilzt aber mit der Zeit – und mit mangelndem Sinnen und mangelnder Glaubensübung – mit der eigenen Persönlichkeit.

Was das mit Glauben, mit Religion zu tun hat?

Jesu Impuls war ein Impuls zur Befreiung. Diese Befreiung durch und im Glauben / Vertrauen findet in der Welt statt, nicht ausserhalb von ihr. Wir sind alle in der Welt, aber wir können uns auch befreien von ihr.

Wir müssen uns (als Christen) befreien von der Welt, von ihren Mechanismen und Machenschaften. Ohne jedoch uns von ihr ganz abzutrennen.

Das können wir, so bin ich überzeugt, nicht andauernd, aber ausdauernd. Immer wieder ansetzen, die zweite Natur abzustreifen versuchen. Zum Menschen in sich vorstossen wollen.

Ich selbst habe eine Neigung zur Innerlichkeit. Diese Neigung ist bei mir keine zweite Natur. Sie ist primär, ursprünglich.

Diese Neigung weiss ich auch in meinen Schülern. In allen Menschen. Und andere auch.

Wie hat es Erofeiev in seinem grandiosen „Moskau-Petuschki“ so schön gesagt (ich zitiere frei aus dem Gedächtnis):

Allgemeine Kleinmütigkeit… Was wäre das für eine Welt, in der allgemeine Kleinmütigkeit herrschte! Keine Kriege mehr…

Kurz: auf dass jede und jeder hin und wieder tief in sich die eigentlichen Eigenschaften suche, erforsche und entdecke, und sie „nach oben“ hole, um die Welt an ihrem Geheimnis teilhaben zu lassen. Fern jeder verkrusteten Verhaltensmuster und „so haben wir das schon immer gemacht“…

Ich plädiere dafür: wir sind alle Freaks. Stehen wir dazu und seien wir ehrlich. Hin und wieder.

Nicht zu oft: wo kämen wir denn da hin…

PS: Eine spannende Frage, die sich im Schreiben dieses Blogs gestellt hat: Ist nicht das „neue Gewand“ der Paulus-Briefe eine Art „zweite Natur“?