Mit einem Kind spielen

Gestern habe ich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder einmal mit einem Kind gespielt. Mit dem dreijährigen Sohn meines besten Freundes. Mit zwei identischen Feuerwehrautos aus HOlz, zwei Pastikfischchen, in denen Reste von Sojasosse waren, mit meinem Gedichtheft, seiner Trinkflasche, mit meinem Hut und zuletzt auch mit meinem gelben, geliebten Kugelschreiber. Dazu haben wir noch eine Restaurant-Quittung und ein angeklettes, aber ablösbares Schildchen bentutzt, auf dem die Gäste des Lokals auf die Selbstbedienung aufmerksam gemacht wurden; die beiden Dinge waren unsere Parkplätze.
Wir hatten uns in einem dieser Konsumtempel in der Züricher Europaallee, diesem Sinnbild für Gentrifizierung, niedergelassen. Es war kein Laden, obwohl überall reich bestückte Regale mit veganen biologischen Produkten standen; und es war kein Restaurant, denn es gab mehrere „Essensstände“, an denen du dir was dein Herz begehrt und deine Börse erlaubt bestellen und an einem der um eine Art Atriumtreppe gruppierten Tische verspeisen konntest. Wir hatten uns in der Nähe eines Spielbereichs für Kinder hingesetzt, in dem auch Frauen und Männer mit ihren Säuglingen und Kleinkindern sassen udn miteinander redeten; das Hand in Griffnähe für allfällige Schnappschüsse ihres Liebsten.
Ich fühlte mich zuerst unwohl, bedroht, obwohl wir ja zu viert unterwegs waren, wie ich mich immer fühle, wenn ich in der Umgebung von reichen und schönen Menschen bin. Ich fürchte sie sehr, denn ich weiss um ihre Selbstgewissheit, um ihr untrügliches Sicherheitsgefühl. Manche von ihnen haben tatsächlich vergessen, dass sie nichts besitzen, dass sie meilenweit über dem Abgrund des wirklichen Lebens seiltanzen. Ich halte mich lieber unten auf, schwinge mcih zur erschreckenden Erheiterung aber hin und wieder zu ihnen hinauf und tue, als sei ich einer von ihnen.
Mein Freund hatte sich kurz entfernt, um sich einen Kaffee zu holen. Ich hatte mir mein Gedichtheft gekrallt, um an einem im Zug begonnen Gedicht weiterzuschreiben. Ich schaffte drei Verse, dann wurde ich vom Sohn meines Freundes ins Spiel hineingeholt.
Ich könnte nicht sagen, wie lange das Spiel gedauert hat, zwei Stunden oder 15 Minuten. Ich erlebe so einen Zustand manchmal beim Schreiben, ein totales Konzentrieren auf einen kleinen Aus- oder Querschnitt der Welt. Herkömmlicherweise nennst du das vermutlich, „ich war auf einem anderen Planeten“, „ich bin voll abgedriftet“ oder „ich war vollkommen absorbiert“. Nur am Rand registrierten meine Ohren andere Geräusche von Kindern und Eltern, das zugewandte Gespräch meines Freundes mit meinem Sohn über dessen Ruderleidenschaft, ein Vater, der mit seinem anderthalbjährigen Kind zwischen den Regalen Verstecken spielte. Doch mein ganzes Wesen, meine ganze Aufmerksamkeit war auf diese beiden leicht klebrigen Tischplatten gerichtet, auf denen sich unser Spiel entwickelte.
Solche Spielverläufe sind schwierig nachzuerzählen, doch will ich es hier kurz versuchen: Am Anfang waren wir beide damit beschäftigt, mit den Feuerwehrautos die immer wieder auf der Trinkflasche ausbrechenden Brände zu löschen. Mit der Zeit kamen die beiden Sojafischchen hinzu; sie waren anfangs simple Feuerwehrmänner oder -Chauffeure, wurden dann aber in abwechselnden Rollen zu Ärzten, Doktoren; einer von ihnen verletzte sich (meistens der von mir geführte) und musste vom anderen geheilt werden. Später kam ein Krebs als Verletzungsursache hinzu (Daumen und Zeigefinger des Kleinen), ein aus meinem Heft herausgefallenes Blatt, das ich zu einem kleinen Papierflieger gefaltet hatte, wurde zu einer Taube. Es war ein angeregtes Verletzen, Jagen und Heilen. Bald wurde mein Hut zum Haus für eines der Feuerwehrautos, halb Feuerwehrposten und halt Spital oder Arztpraxis. Jetzt mussten die Verletzten klingeln und auf den Doktor warten. Der war einmal da und einmal nicht da, ganz wie ihm beliebte. Ganz am Ende kam noch der Kugelschreiber hinzu als Oberdoktor, der den Auftrag seines Jobs noch willkürlicher interpretierte. Inzwischen war auch mein Gedichtheft als Brücke oder Adler im Einsatz. Langsam begann das Spiel Endzeit-Dimensionen anzunehmen, selbst das Handeln der ansonsten stoischen Brücke, die von einem Tisch zum andern führte, wurde unvorhersehbar. Der Hut musste einiges erleiden, auch der Oberdoktor. Die Trinkflasche mutierte zum Löschinstrument. Jetzt war richtiges Wasser im Einsatz.
Das schliesslich war eine gute Zeit, um das Spiel zu beenden und aufzubrechen, und das Unwetter hatte sich auch gelegt. Die Feuerwehrautos wurden von meinem Spielgefährten ordentlich zurückgebracht, das kleine Publikum aus Kindern, die uns umstanden, löste sich auf, und wir verliessen den Konsumtempel.

Als Vater von zwei Kindern (21 und 14) weiss ich, wie wichtig es ist, sich ganz auf den Menschen, der das Kind ist, – es ist bereits ein ganzer Mensch, dem Achtung, WErtschätzung und Würde gebührt, – sich ganz auf diese Person einzulassen: ihr Zeitgefühl zu respektieren, ihre Bedürfnisse wahrzunehmen und achten ohne sie jedoch immer zu befriedigen, etc.
Ich weiss, dass du als Vater oder Mutter im Dienst dieses Menschen stehst. Deine Verantwortung für diesen Menschen heisst aber nicht, dass du diesen Menschen besitzt. Du hast kein Anrecht auf diesen Menschen. Diese Person hat Anrecht auf deine ganze Anteilnahme.
Eltern (gute Eltern?) wissen darum, wie du dich auf einen Menschen einlässt, ihn oder sie ganz und gar ernst nimmst, sodass sie oder er sich entwickeln und werden kann, was er oder sie ist.
Nur sehe ich das in den Erwachsenenwelt viel zu selten gespiegelt. Die wenigsten von uns – und nehme dich bitte nicht aus! – gehen ohne Vorbehalt, Forderungen, Erwartungen und Ansprüche aufeinander zu. Die wenigsten von uns sehen den anderen als ebenbürtig und würdig an, die wenigsten sind bereit, sich auf jemand ganz und gar einzulassen, diese Person anzunehmen, ganz wie sie ist, ohne jeglichen Besitzanspruch; sie anzuschauen mit Anerkennung, sie anzuhören mit Zuneigung, ihr zu antworten in Freundlichkeit.
(Bei Katherine May las ich diesen wundervollen Satz über den Wald als Ort der Verzauberung: „Bring questions into this space, and you will receive a reply, though not an answer.“ – Das hat mich sehr ergriffen: Ja, du sollst nicht antworten, sondern erwidern in deinen Beziehungen.)
Denn das heisst ein Kind erziehen, werdenlassen; es ist das Gleiche wie einem Menschen begegnen: un versuche nicht, aus diesem kleinen Wesen etwas zu machen: führe es nicht in die Leistungsgesellschaft ein, lass es seine Kompetenzen selbstbestimmt und selbswirksam entwickeln, dein Kind muss kein multitalentiertes Genie sein. (Nebenbemerkung: Als ich geboren wurde, soll mein Vater in Lausanne einen Ratgeber gekauft haben, der den Titel trug: „Comment faire de votre enfant un genie“…) Dein Kind muss nur ein Dasein haben können, da sein dürfen. Das genügt vollauf.
Und was für ein Wunder, wie aus deinem Kind, dem du seine Kompetenzen zugetraut hast, eine Person wird, die sich entfaltet: ohne dein Dazutun fast, von alleine, weil du es angenommen, gewürdigt hast als vollständigen Menschen und ihm oder ihr immer zugeneigt bleibst. (Und manchmal scheint es schief zu gehen, doch dafür kannst du in meinen Augen meist nur sehr wenig.)

Ich sage all das vor einem schrecklichen Hintergrund, den ich nicht verleugnen und mir immer gegenwärtig halten möchte: der Praxis der weiblichen Geschlechtsverstümmelung (Female Genital Mutilation, FGM) in weiten Teilen des globalen Südens. Millionen von Mädchen werden verstümmelt und traumatisiert von diesem Eingriff. Ich fühle mich hilf- und machtlos vor diesem Fakt. Ich verstehe die Väter nicht und auch nicht (noch weniger?) die Mütter dieser Kinder.
Vor diesem Faktum will es mir die Sprache verschlagen, will ich kapitulieren. Denn was für eine vollkommen unverdiente Gnade ist es denn, im globalen Norden aufgewachsen zu sein und zu leben?

Doch schmälert dies das zuvor gesagte keineswegs: es gilt für alle Menschen auf dieser Welt, für alle Kinder.
Kinderrechte sind Menschenrechte. Kinder sind Menschen.
Lasst sie spielen und Kind sein. Seid selbst Kind.
Was wäre das für eine herrliche Welt, in der wir alle Kinder wären.
Ich sehne sie herbei, als wäre sie Gottes Reich.


(Mit herzlichen Dank an 12257183 für das herzige Bild.)

Auslöschen und anfachen

Zum in die Gunten gumpen ermächtigen! (Danke für das Bild an Victoria_Borodinova!)

Diesen Blogeintrag will ich schon lange, schon sehr lange schreiben. Doch habe ich bisher keinen einfachen, positiven „Dreh heraus“ gefunden; bisher hätte ich einfach das „Auslöschen“ behandelt, aber nicht auch das Anfachen. Das will ich nun versuchen.

Zuerst aber zwei Beobachtungen.

Das Kind auf dem Schulweg

Jeden Morgen, wenn mein Sohn und ich an der Bushaltestelle stehen (gegen 07.30 Uhr), sehen wir diesen Jungen auf dem Schulweg. Als wir ihn zum ersten Mal gesehen haben, das war vor 2 Jahren, war er ein Erstklässler. Jetzt ist er sicher in der 3. Klasse.

Von Anfang ist uns aufgefallen, dass er sich „komisch“ benahm („komisch“ hier positiv gemeint). Er redete laut mit sich selbst – oder seinem imaginären Freund. Er stieg auf die Steinmauern an den Gärten, balancierte darauf an stacheligen Büschen vorbei, manchmal auch singend. Seine wuscheligen Haare flatterten im Wind.

Ganz offensichtlich war er nicht auf dem direkten Weg in die Schule. Um 07.30 Uhr bist du schon ein wenig früh unterwegs, ausser du willst dich noch mit deinen Freunden auf dem Pausenplatz unterhalten und Pokémons oder Panini-Bilder vergleichen und tauschen. Doch der Junge würde gerade so rechtzeitig kommen, weil er eine riesige Schlaufe von etwa anderthalb Kilometern machte, um zur Schule zu kommen. Vor allem in seinem „Tempo“.

Nicht nur, dass mich der Junge an mich als Schulkind erinnerte – auch ich redete, wenn ich nicht in Begleitung war, mit meinen imaginären Freunden und spann lange, komplizierte Geschichten aus -: selbst wenn sein bewusst länger gewählter Schulweg vielleicht damit zu tun hatte, dass die Mutter oder der Vater ihn früher hinausschickten, weil sie auf Arbeit mussten, selbst dann war mir die Bedeutung seines Verhaltens wichtig.

Denn dieser Junge hatte die Möglichkeit, in seiner eigenen kindlichen Welt zu leben. Er hatte gelernt, die Welt in seiner eigenen Geschwindigkeit anzugehen. Noch gehorchte ihm Zeit und Weg, noch war er nicht in die Hektik und Scheinkomplexität der Erwachsenenwelt eingebunden (oder nur teilweise). Der Wert dieser Möglichkeit, dieser Gelegenheit ist in der heutigen leistungsdirektiven Umwelt nicht zu unterschätzen.

Einen solchen Schulweg, eine solche introvertierte, fantasievolle Innenwelt wünsche ich allen meinen Schüler*innen. Von ganzem Herzen.

Das Kind in den Pfützen

Auf dem Heimweg von der Schule habe ich gestern einen etwa 11- oder 12-jährigen Jungen gesehen, der seiner Mutter auf dem Trottinett weit voraus rollte. Dabei vermied er gekonnt keine einzige der vielen Pfützen. Als ihn seine Mutter zurückrief (und in ihrer Stimme klang sehr viel Ermahnung mit), schoss er auf dem gleichen Weg zurück. Bei besonders tiefen „Gunten“ sprang er manchmal auf. Aber er war eh schon ganz und gar durchnässt bis über die Knie.

Das hat mich daran erinnert, wie ich als Hausmann mit meinem Sohn auf ein Schulfest meiner Tochter gegangen bin. Meine Tochter war in der 2. Klasse. Das Schulfest fand trotz schlimmen Regenwetters dennoch stand, im Schutz eines Eingangsdachs. Es war ein Grillfest, doch es regnete in Strömen: überall hatten sich tiefe Pfützen gebildet.

Im Wissen um die Wetterlage hatte ich meinen Sohn in eine Art „Kriegsanzug“ gesteckt: von den Gummistiefeln bis zu den Regenhosen war er „wasserdicht“ angezogen. Denn ich wusste, wie sehr Kinder es lieben, in den Pfützen zu planschen. Und als Vater und Mensch hatte ich mir als Kind schon geschworen, meinen Kindern keine Auflagen diesbezüglich zu machen; und sollten sie sich deswegen erkälten – es gibt Schlimmeres als Erkältungen, zum Beispiel verhindertes Kindsein.

Wir lebten damals bewusst in einem „reichen“ Quartier, wo die meisten Einwohner „Schweizer“ waren und vermutlich auch sind. Damals schien es uns wichtig zu sein, dass unsere Kinder in eine „Swiss only“-Schule gingen. Das war eine Haltung, die ich heute längst nicht mehr habe: die besten Schulen (mit den besten Lehrpersonen) sind jene, in der eine kulturelle Durchmischung stattfindet; die also unsere Gesellschaft wiederspiegeln.

Ich liess also meinen kleinen Frosch auf die Pfützen los, beteiligte mich zurückhaltend am langweiligen und bornierten Smalltalk der biederen Eltern. Hin und wieder lief ich in den Regen raus, um meinen Sohn aus einer (in meinen Augen, gewiss nicht in seinen) allzu tiefen Pfütze hinauszuheben und ihn wieder auf die Beine zu stellen. Ich hatte wie er einen Heidenspass an dem Wetter. Ich habe Regen immer geliebt, sein Geräusch, die Kälte und die Erfrischung, die er in unseren Breitengraden mit sich bringt.

Doch ich merkte auch, wie die Blicke der andern Eltern uns folgten, mich abschätzten. Ich verhielt mich ganz offensichtlich nicht konform mit ihren Vorstellungen von einem Vater. Ich hinderte mein Kind nicht, wie sie, am Herumstampfen und Pfützen-Ausschlürfen (denn einige Male tat mein Sohn genau das, und er hatte nachher keine Darmgrippe). Ich hatte ihn warm genug angezogen, und als ich fand, er werde langsam kalt, nahm ich ihn zu mir und steckte ihn in den Buggy, hüllte ihn gut ein und begann, mich zu verabschieden.

Ich habe meinen Sohn (noch) nicht gefragt, ob er sich noch an dieses Fest erinnert; auch meine Tochter nicht. Werde es aber gewiss tun. Für mich ist auch dies ein Beispiel – und ich sage das ohne Hochmut oder Überheblichkeit, ich habe als Vater schon zu viele Fehler und Unterlassungen begangen, um einen Stolz auf mich zu empfinden oder mich gar andern Eltern überlegen zu fühlen -, ein Beispiel dafür, wie ich mir Kindheit und Kindsein denke und wünsche: befreit von sozialen Normen wie Anstand, Konventionen und dem ständigen Blick auf die anderen („was mögen die nur denken?!“, wie meine Mutter immer gesagt hat), in Freiheit, aber behütet, mit elterlichem Vertrauen in die (finale) Richtigkeit ihrer Instinkte und Entscheidungen, aber auch mit dem Vertrauen, dass sie sich zutrauen, wofür sie sich kompetent halten.

Kompetent sein / werden

Mit dieser ausschweifenden Vorrede habe ich zwei Themen angerissen: das Thema der individuellen kindlichen Kompetenzen und Erfahrungen und das Thema des Kompetenzerwerbs.

Grundsätzlich liesse sich mein Auftrag als Religionslehrperson wie folgt umschreiben:

  1. Fördern und fordern von Kompetenzen in Bezug auf religiöses und philosophisches Erleben (Deuten und Erkennen).
  2. Aktivieren und anwenden von intrinsischen und/oder erworbenen kindlichen / jugendlichen Kompetenzen in Bezug auf religiöses und philosophisches Erleben (Deuten und Erkennen).

Meistens konstruiere ich meine Unterrichtsstunden darauf hin, dass ich den 2. Punkt vordringlich behandle. Was die Kinder schon können, ist im Anfang (und meist auch im Schluss, siehe unten) wichtiger als das, was sie noch erwerben „sollten“. Dennoch dringe ich immer darauf, dass auch der 1. Punkt in die Stunde hinein wirken sollte.

Wenn ich also das bereits „Gekonnte“ mehr gewichte als das zu „Erwerbende“ oder „Erlernende“, kann es prinzipiell zwei „Ausgänge“ meiner Stunden geben: ein Scheitern und ein Gelingen.

Das Scheitern hiesse, die Schüler*innen bleiben auf ihrem bereits „Gekonnten“ sitzen und konnten es einfach aktivieren.

Das Gelingen hiesse, die Schüler*innen erwerben sich zusätzliche Kompetenzen, „können“ also mehr; sie können das „Erworbene“ erstmals anwenden.

Dabei ist immer auch zu beachten: Als Lehrperson messe ich meinen Erfolg vor allem am Erreichen des ersten Punkts: Dass die Schüler*innen am Schluss der Stunde reicher und „weiter“ sind als am Anfang.

Und natürlich sind meine „Vorlagen“ für ein „Erwerben von Kompetenzen“ regelrechte Steilvorlagen: überfordern die Schüler*innen sowohl sprachlich als auch kognitiv und affektiv. Damit muss ich – und müssen die Schüler*innen leben können.

Auslöschung

So gibt es Stunden, in denen ich heulen könnte. Nichts gelingt. Weder die Schüler*innen noch ich bewegen sich.

Es ist ein unglaublich hartes Gefühl, wenn du merkst: da bin ich auf dem Holzweg, irgendetwas habe ich in der Vorbereitung nicht bedacht, nicht „einberechnet“.

Und mit jedem Schritt in der Stunde verschärft sich dieses Gefühl der Ohnmacht, denn du merkst auch, wie verzweifelt und ratlos die Schüler*innen werden.

Du sprichst sie immer wieder an, ermutigst sie, traust ihnen zu, dass sie erkennen, „worum es geht“, aktivieren, was sie bereits können, um zu dem zu gelangen, was du ihnen zum „Erwerb“ anbietest und vorschlägst.

So kann das versuchte Schreiben eines Elfchens in der 3. Klasse („Thema“: der brennende Dornbusch) zu einer Katastrophe werden. Das Erwerben der an und für sich einfachen Form des Gedichts „Elfchen“ ist das Hindernis, das vor dem Erwerb der religiösen Kompetenz „übernatürliches, geistiges Geschehen in der Welt ausdrücken“ steht und ihn verhindert.

Verhärte ich mich in so einem Moment, also beharre ich zum Beispiel auf der Klarheit und Deutlichkeit meiner Arbeitsanweisungen, erweise ich mir und den Schüler*innen meist einen Bärendienst.

Anders gesagt: sollen die Schüler*innen ein Gedicht namens „Elfchen“ zu einem Bild vom brennenden Dornbusch schreiben, muss ich u.U. zwei Lektionen einplanen, um zuerst die Kompetenz „Elfchen schreiben“ zu erwerben. Erst in einem weiteren Schritt können die Schüler*innen sich dann ausdrücken.

Als ausgesprochener Sprachmensch komme ich oft an meine Grenzen im Unterricht, weil die sprachlichen Kompetenzen der heutigen Schüler*innen – und besonders vielleicht in meiner Schule – sehr begrenzt oder beschränkt sind. Das hat mit ihrem Umfeld (viele Kinder mit Migrationshintergrund) und/oder mit ihrem Freizeitverhalten zu tun (viele Kinder mit elektronischer Fixierung auf Spielen und Tablet / Handy statt auf Bücher und kreative Tätigkeiten oder Draussen-Erleben). Dennoch kann und will ich nicht auf die Bedeutung der Sprache für das religiöse und philosophische Erleben (Deuten und Erkennen) verzichten!

Anfachung

Die gleiche Stunde kann natürlich auch absolute Höhepunkte beinhalten. Meist sind sie unscheinbar und „klein“. Doch wenn ich merke, wie ein Junge statt „schön“ das Adjektiv „fabelhaft“ wählt, dann fühle ich den Erfolg buchstäblich in Reichweite.

Ein Gelingen, eben das „Entfachen“ oder „Anfachen“ der Schüler*innen, ist meist dann garantiert, wenn ich mich ganz auf die Geschwindigkeit und die Stimmung der Schüler*innen einlasse. Nichts erreichen, nichts erzwingen will.

Hören und Warten nenne ich das. Geduld haben. Aufmerksam und achtsam sein.

Meist löst nur schon die Tatsache, dass ein Erwachsener ihnen seine Aufmerksamkeit und ihren Ein- und Ausdrücken Gehör und Be-Achtung schenkt, kann in den Schüler*innen wahre Stürme von Kompetenzen und Kompetenzerwerb auslösen.

Als ehemaliger Hausmann würde ich sagen: Dein Tag / deine Stunde gelingt dann,

  • wenn du dich ganz auf die Kinder / Schüler*innen einstellst, ihrem Erleben und ihrem Dasein Würde und Achtung verschaffst.
  • wenn du nicht deine erwachsenen Ziele und Zeitvorstellungen ihnen überzustülpen bemüht bist.
  • wenn du sie so sein lässt wie sie sind: ihre intrinsischen Kompetenzen „erweckst“ und mit Geduld und ohne Voreingenommenheit und Zielvorstellung „hervorkitzelst“.

Fazit: Sehe von dir, dem Erwachsenen ab, und schau nur auf die Welt der Kinder

Natürlich gibt es beim besten Willen (und wird es immer geben) trotz obiger Grundsätze Stunden, die einfach scheitern. Wo du nahe an der Auslöschung stehst, nicht mehr weiter weisst, auch deine ganze Berufung zum Religionspädagogen in Frage stellst. Das braucht es im Leben: Niederlagen, Scheitern. Ohne geht es nicht; das Scheitern ist Teil (muss Teil sein) des (späteren und nie garantierten) Erfolgs.

Doch meist kannst du mitten in der Stunde mit einer Haltungsänderung Enormes bewirken, für dich und vor allem für die Schüler*innen, die Kinder. Denn ihre Kompetenzen sind ihr Reichtum, ihr Schatz, und wenn du sie ignorierst, ignorierst du sie als Lebewesen mit Würde und als menschwerdende Menschen.

Was hat denn das mit Gott zu tun? (Zweiter Teil)

Die Kinder fragen ein „Warum“, das die Erwachsenen vergessen haben; ein „Warum“, das nicht nach Ursache und Wirkung fragt, sondern nach dem, nach der Bedeutung des Erfragten für unser Leben. Auf dieses „Warum“ ist eine Antwort zu finden fast unmöglich.

Nachdem ich meinem ersten Kind die klassische Ursache-Wirkung-Antwort gegeben hatte, die es (und mich) nicht zufrieden stellte (stellen konnte), weil vor jeder Ursache noch eine Ursache und nach jeder Wirkung noch eine Wirkung liegt, in die Ewigkeit und in die Unsichtbarkeit hinein (nach hinten und nach vorne), habe ich meinem zweiten Kind nicht mit Begründungen und Erklärungen, sondern mit sinnhaften Zusammenhängen zu antworten versucht.

Auf die Frage, warum es denn regne, antwortete ich – ohne nachzufragen, ob er meine, warum es heute regne oder warum es überhaupt regne, – damit die Pflanzen leben und wachsen können… Das darauf folgende „Warum“ war natürlich, warum denn die Pflanzen leben… Eine Warum-Reihenfolge bis in die Unendlichkeit also auch hier! Was auch heisst, dass bereits die erste Antwort nicht die richtige war…

Ebenso ist es fast unmöglich, eine Begründung oder Erklärung dafür zu finden, warum etwas ist anstatt nicht zu sein.

Die ganzen Theorien zum Urknall oder zur Evolution sind zwar wissenschaftlich abgeklopft und überprüft, aber sie gelten nur bis zu ihrer Widerlegung. Auch sie hinterlassen also nicht nur allein deshalb ein Gefühl des Mangels, des Hungers oder Dursts nach mehr zurück in uns…

Und doch führt dieses „Warum“ uns direkt zu unserer Grundfrage zurück: „Was hat das denn das alles überhaupt mit Gott zu tun?“

Ich lese zurzeit, hauptsächlich von Dostojewski angestossen, das Johannes-Evangelium. Doch habe ich damit meine liebe Mühe: da redet Jesus ununterbrochen in verqueren theoretisch verquasten Leitsätzen, die manichäischer nicht sein könnten… Die Sätze gehen mir zwar sofort zu Herzen, aber ihre Bedeutung, ihr tieferes „Warum“, bleibt mir verborgen. (Ein wenig wie meinem Sohn also auf seine Frage nach dem Regen die Tatsache des Regens einleuchtet, aber die Begründung irgendwie merkwürdig bleibt.)

Die Weisheit war in der Welt, und die Welt ist durch sie entstanden, aber die Welt hat sie nicht erkannt. (Joh 1,9; BiGS)

ich begann, in Drewermanns Kommentar des Johannes-Evangeliums zu lesen… und begriff (nein: ergriff!) plötzlich, was mir nicht eingeleuchtet hatte, was ich nicht „erklären“ konnte:

Ohne das Wort in den Dingen, besser: das Wort ausden Dingen, ist die Welt leer und fremd; ist, wenn man so will, absurd im Sinne von Camus… Alles rationalistische Verständnis entzieht sich dieser Welt; erst durch die Erkenntnis-Tat (alles redet und hat Sprache) wird die Welt bewohnt und zu einer Heimat.

Alles redet: ist erfüllt (mit Sinn).
Alles redet: ist an uns gerichtet.
Alles redet: denkt. 
Alles redet: ist Botschaft.

Es gibt Tage, manchmal Wochen, wo fast jeder Augenblick meines Lebens mit diesem (johanneischen!) staunenden Dank an Gott erfüllt ist, bis zu den Tränen der Freude, die immer Tränen des Dankens sind.

Alles redet: lässt sich erkennen.

Denn das, was von Gott erkannt werden kann, ist für sie (die Menschen) sichtbar. Gott selbst hat es ihnen gezeigt: Seitdem die Welt geschaffen wurde, können die Augen der Vernunft die unsichtbare Gegenwart Gottes im Geschaffenen deutlich wahrnehmen, die immerwährende Kraft und Göttlichkeit. (Röm 1,19f.; BiGS; Herv. von mir)

Womit („Warum“) die Dinge und Wesen gefüllt sind, erkennt oder nimmt jeder Mensch unterschiedlich wahr: aber alles antwortet ihm.

Die Fülle – besser noch: die Füllung allen Wesens und allen Dings mit Antwort: das ist für mich eine der möglichen Antworten auf die Frage, was das alles überhaupt mit Gott oder Religion zu tun habe!

Eine Antwort, die nicht nur fast unmöglich zu geben ist, sondern vom Zuhörer erwarten muss, dass er ihre Fülle erkennt und wahrnimmt, aber auch für ihre Fülle offen und da ist. (Nicht umsonst bittet Jesus doch immer so eindringlich darum, alle mit Ohren sollten zuhören!) Denn alle Kommunikation ist ja recht eigentlich mitfühlen, besser noch: mit-füllen.

(Wer aber keine Füllung sieht, hört, riecht, ertastet, er-redet: ist kein Mensch (mehr). Oder, um ganz exklusivistisch und ausschliessend zu sein: er hat das Menschsein noch nicht erlernt.)