Glauben ohne Konfession IX: Perfektibilität

Das jüdisch-christliche Denken beheimatet ein wundervolles, aber furchtbares Paradox. Ich möchte es hier „die Aufgabe des rechten Weges“ nennen.

Dieses Paradox hat einerseits mit der gottgeschenkten und gottgewünschten (Entscheidungs-) Freiheit des Menschen zu tun. Denn auch wenn die Heilige sich vermutlich gewünscht hätte, wir würden die Unterscheidung von Gut und Böse nicht kennen und lernen, so hat sie uns die Wahl gelassen. Der Mensch ist frei, sich für einen eigenen (womöglich auch: individuellen) Weg zu entscheiden, unabhängig von den Ge- und Verboten, die von der Heiligen ausgehen. (Diese Ge- und Verbote stammen aus der Einsicht in die Folgen des Guten, die Adonaj als einziger und erster Schöpfer besitzt.)

Die andere Medaillenseite des Paradoxes ist bereits angesprochen: Es gibt einen klaren, für jeden empfindenden, achtsamen und denkenden Menschen einsichtigen Weg des Guten. (Navajos nennen ihn den „Pollenpfad“, Lakota haben ihn „den guten, roten Weg“ genannt.) Doch das Gehen auf diesem Weg verlangt uns Menschen meistens eine Einschränkung, zumindest aber Geduld und Demut ab – im Gegensatz zu den durch die geschenkte Freiheit geforderten Instanzen von Entwicklung, Leistung und Machbarkeit.

Einschränkungen: Das Wissen um Zu- und Umstände in Welt, Natur und Gesellschaft, und die Einsicht in dieselben Um- und Zustände macht ein Handeln gegen bestehende Logiken, Paradigmen und Prozesse, die den Status quo verstärken oder verewigen, ethisch unumgänglich, ethisch unausweichlich.
Im Wissen und in der Einsicht in die Prozesse der anthropogenen (menschgemachten) Erderwärmung kann ich als Mensch nicht anders, als mich weiterer fossiler Mobilität oder dem Konsum von industriellem Fleisch zu verweigern; mich also einschränken, bescheiden, um auf dem „guten Weg“ zu bleiben, auf den die Schriften der Offenbarung und die Mythen und Traditionen der indigenen Völker weltweit nimmer müde werden hinzuweisen.

Was heisst „Perfektibilität“?

Dieses hier umrissene Paradox lässt sich gut mit dem Begriff der „Perfektibilität“ beispielhaft ausführen.
Eine gute Definition des Begriffes finde ich in meinem „Wörterbuch der philosophischen Begriffe“. Unter dem Stichwort „Perfektionismus, auch Perfektibilismus, frz. perfectibilite Vervollkommnungsfähigkeit“ heisst es dort:

… eine Richtung des aufklärerischen Geschichtsdenkens, besonders in Frankreich, die im gleichmässigen Fortschritt zu immer grösserer Vollkommenheit der Menschheit als Gattung den Sinn der Geschichte sieht…

Wörterbuch der philosophischen Begriffe

Diese Denkrichtung sieht also die Aufgabe des Menschen in seiner Vervollkommnung; dabei blickt sie durchaus positivistisch / materialistisch auf eine industriell zu deutende Entwicklung, die im Denken der Aufklärung ja auch der gesamten Menschheit zum Wohle dienen, auch im Sinne des „trickle-down“-Effekts den Armen und Ärmsten dieser Welt zugute kommen sollte.

Als von der Rousseau-Lektüre ebenso wie von der Nietzsche-Lektüre geprägter Denker kommt hier fast notwendigerweise Rousseaus visionär früher Widerstand gegen industriellen und kulturellen Fortschritt. Visionär deshalb, weil Rousseau den Urzeitmenschen, den „homme solitaire“ aufs Podest erhebt als die vollkommenste Form des Menschseins. Und die heutige Archäo-Anthropologie hat ihm inzwischen mit wissenschaftlichen Indizien und Funden recht gegeben: Die Jäger und Sammler des Paläolithikums waren Menschen, die Musse kannten und keinen Hunger oder dauernde Notlage; auch von Zoonosen ausgelöste Epidemien waren ihnen unbekannt.

Für Rousseau ist diese Perfektibilität, die im Menschen angelegt ist, der eigentliche Ursprung des Sündenfalls.

In meiner Lesart ist die Perfektibilität dabei mit der gottgeschenkten Freiheit identisch, die uns die eigenen Fähigkeiten und damit Möglichkeiten der Entwicklung nicht nur erkennen, sondern auch verwirklichen wollen lässt. Diese in dem Menschen inhärente Dimension von aktualisierbarer Potenz führt zum modernen Denken der Machbarkeit: Was denkbar ist, kann auch gemacht werden, und weil es gemacht werden kann (möglich ist), muss es auch gemacht (realisiert) werden.

Zusammenfassend liesse sich sagen, die Perfektibilität ist jener Bereich der menschlichen Freiheitswürde, der den Menschen am stärksten in den Abgrund der Hybris, des Hochmuts, der ersehnten Gottähnlichkeit führt.

„Alles entartet unter den Händen des Menschen“

Der erste Satz in Rousseaus Erziehungsbibel „Emile oder Von der Erziehung“ drückt bereits diesen tief sitzenden Zweifel an der Moderne aus:

Alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers hervorgeht, alles entartet unter den Händen des Menschen.

Jean-Jacques Rousseau, Emile oder Von der Erziehung, 1762.

Diese skeptische Haltung hat erstaunliche positive Bewegungen hervorgebracht, ob in der Erziehung / Erziehungswissenschaft oder in der Philosophie. Das Rousseausche Denken sieht den Menschen als Ganzes, als Gesamtheit, vielleicht sogar als „von Natur aus vollkommen“ an. Rousseau will den Menschen nicht einschränken, sondern ihn auf diese gute, von der Gütigen vorgesehene und gewünschte Bahn lenken. So ist die handwerkliche Fähigkeit eine wesentliche Eigenschaft, die den Menschen zu einer Schöpfung führt, solange diese im Einklang mit der Natur steht. (Und gerade die handwerklichen Fähigkeiten und Berufe verkümmern immer mehr in unserer modernen Gesellschaft!)

Für Rousseau ist der Weg der Natur oder der Natürlichkeit jener Pfad, den der aufgeklärte Mensch aus der Einsicht in seine Gattungsart zu gehen hätte. Denn natürlicherweise würde der Mensch das Gute suchen, folgte er nur seinem ersten Impuls. Die Gesellschaft und die Kultur aber fälschen den Menschen, lassen ihn „degenerieren“.

Obwohl dieser Begriff der „Entartung“ vor allem durch die Ideologie der Nazis beschmutzt und fast unbenutzbar gemacht worden ist (Stichwort „entartete Kunst“), zeigt er gut auf, was Rousseau im tiefen Wortsinn meint: der Mensch folgt nicht mehr den ursprünglichen Impulsen (Instinkten?) seiner Gattung (seines Genus, seiner Art), sondern will sich und die Welt mit sich umgestalten, entwickeln.

Das technokratische Paradigma laut Papst Franziskus

Diese Reflexion wurde gestern von dem Schreiben „Laudate Deum“ von Papst Franziskus angestossen, reaktiviert. Schon in seiner Enzyklika „Laudato si“ hatte er das Thema des Klimawandels explizit und ausführlich thematisiert. Darin hatte er bereits das technokratische Paradigma unserer Zeit angesprochen und angeprangert:

Nie hatte die Menschheit so viel Macht über sich selbst, und nichts kann garantieren, dass sie diese gut gebrauchen wird, vor allem wenn man bedenkt, in welcher Weise sie sich gerade ihrer bedient.

LS, 109

Franziskus leugnet keineswegs die vielen Vorzüge, die Technik und Forschung für die Menschheit bewirkt haben. Doch er betont wiederholt, dass die Abschätzung der Folgen von technischen Neuerungen und Forschungserfolgen in Hinblick auf eine ganzheitliche Sicht auf Mensch und Umwelt meist ausbleiben oder ignoriert werden. In seiner Lesart verstärkt sich das technokratische Paradigma wie eine selbsterfüllende Prophezeihung. So weit, dass jetzt auch nur nach technischen bzw. technologischen Mitteln für die Bekämpfung der Erderwärmung gesucht und geworben wird – statt sich auf die Lehren von indigenen Völkern zu besinnen; doch dazu später.

Franziskus schreibt in Laudate Deum:

Während der vergangenen Jahre haben wir diese Diagnose bestätigen können und zugleich ein weiteres Fortschreiten dieses Paradigmas erlebt. Die künstliche Intelligenz und die jüngsten technologischen Neuerungen gehen von der Vorstellung eines menschen ohne jegliche Grenzen aus, dessen Fähigkeiten und Möglichkeiten dank der Technologie bis ins Unendliche erweitert werden können. So nährt sich das technokratische Paradigma in ungeheurer Weise von sich selbst.

Laudate Deum, 21.

Und er hält klar fest:

… das grösste Problem ist die Ideologie, der eine Besessenheit zugrunde liegt: Die menschliche Macht über alles Vorstellbare hinaus zu steigern, für die nicht-menschliche Wirklichkeit nur eine Ressource zu ihren Diensten ist. Alles, was existiert, hört auf, ein Geschenk zu sein, das man würdigt, schätzt und pflegt, und wird zu einem Sklaven, zum Opfer einer beliebigen Laune des menschlichen Geistes und seiner Fähigkeiten.

Laudate Deum, 22.

In meinen Augen steht der Begriff des „technokratischen Paradigmas“ genau für die Auswirkungen der dem Menschen geschenkten Perfektibilität.

Wechsel-Beziehungen und Verbundenheit vs. Kannibalismus

Als Argentinier kennt der Papst die bedrohte Lebensweise seiner Mitmenschen, der indigenen Völker. Diese können immer weniger nach ihren eigenen Wegen und Haltungen leben und schöpfen, weil sie vom technokratischen Paradigma entrechtet, entwürdigt und entmachtet weren.

Indigene Völker von Papua Neuguinea über die Mongolei, von Kanadas Inuit über die Native People Nordamerikas bis zu den Ur-Peruanern, Ur-Mexikanern, etc: alle diese Völker versuchen immer noch verzweifelt, in diesem Einklang mit der Natur zu leben und schaffen, den ich als die Haltung der „Wechsel-Beziehungen“ oder „Verbundenheit“ bezeichnen möchte.

Diese Haltung der Zwischen-Verbundenheit steht laut Jack D. Forbes im Gegensatz zum „Kannibalismus“ der westlichen Moderne. Forbes hat den Begriff des Kannibalismus verwendet, um mit brutaler Deutlichkeit die nicht-nachhaltige, ausbeuterische-konsumistische Natur des Kapitalismus-Imperialismus-Kolonialismus zu veranschaulichen.

Ein Kannibale / eine Kannibalin ist demnach eine Person, die das Wahnsinn verfallen ist: Eine Person, die Ressourcen und Lebewesen einzig zu ihren eigenen Gunsten ausnützt, ohne an die Folgen dieser Versklavung und Ausbeutung, dieses Vampirismus zu denken:

Kannibalismus, wie ich es definiere, ist das Verzehren eines anderen Lebens für den eigenen Zweck und Gewinn.

Jack D. Forbes, Columbus and other Cannibals, 1992 / 2008.

Gegen dieses herrschende und versklavende, opfernde Paradigma hält Forbes die Haltung der Zwischen-Verbundenheit, der Zwischen-Beziehungen:

Der Pollenpfad und der rote Weg führen zu einem in einer heiligen Weise gelebten Leben, das sich dauernd der Wechsel-Beziehungen aller Lebensformen achtsam bewusst ist.

Jack D. Forbes, Columbus and other Cannibals, 1992 / 2008. Hier gebraucht Forbes den Begriff „inter-relationship“, den ich mit „Wechselbeziehungen“ übersetze.

Demut statt Hochmut

Je länger ich mich mit diesem Themenkomplex befasse, desto klarer wird mir, wie unentwirrbar und unentrinnbar ich selbst als privilegierter weisser Mann mit dieser Pefektibilität und diesem technokratischen Paradigma verstrickt bin – und davon profitiert habe und profitiere.
Vor diesem hier skizzierten Hintergrund verspüre ich eine grosse Sehnsucht nach Geduld und Demut, verstehe den heiligen Grund und die heiligende Wirkung dieser beiden Tugend-Mächte.

Ich möchte zum Schluss sowohl Forbes als auch Franziskus das Thema der Perfektibilität nochmals verdeutlichen lassen. Denn die Verfolgung der Verbesserungsmöglichkeit des Menschen hat uns nicht nur aus dem Paradies (und dem Paläolithikum) gewiesen – und ist unsere eigentliche Ursünde -, sondern hat uns eine Welt schaffen lassen, die uns selbst zerstört.

Diese Demut des Native American ist eine Demut, die auf dem Bewusstsein und Wissen von der eigenen Schwäche gründet, aber auch auf dem Bewusstsein, nur ein einzelnes Mitglied einer riesigen universalen Familie zu sein. Mit dieser Art von Demut kommt auch die Achtung vor dem Leben und den Träumen der anderen Geschöpfe.

Jack D. Forbes, Columbus and other Cannibals, 1992 / 2008.

Und während Forbes von der Krankheit namens „wetiko“ spricht, schreibt Franziskus ganz ähnlich:

Der Mensch ist nicht völlig autonom. Seine Freiheit wird krank, wenn sie sich den blinden Kräften des Unbewussten, der unmittelbaren Bedürfnisse, des Egoismus und der Gewalt überlässt. In diesem Sinne ist er seiner eigenen Macht, die weiter wächst, ungeschützt ausgesetzt, ohne die Mittel zu haben, sie zu kontrollieren. Er mag über oberflächliche Mechanismen verfügen, doch wir können feststellen, dass er heute keine solide Ethik, keine Kultur und Spiritualität besitzt, die ihm wirklich Grenzen setzen und ihn in einer klaren Selbstbeschränkung zügeln.

Laudato si, 105.

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Mit Dank an _Marion für das schöne Bild.