Aufgehoben in der Schwäche

(Bild mit Dank an Karabo_Spain.)

Einige Erlebnisse prägen unserer Haltung zum Leben und zum Glauben dauerhaft grundlegend und dauerhaft verändernd. Noch viel später entfalten sie ihre Wirkung; selbst wenn du denkst, ihre Strahlkraft und Wirkmacht müsse längst versiegt sein. Mehr noch: diese Kraft verändert im Laufe der Zeit ihre Gestalt, ihren Ton und ihre „Botschaft“.

Ein solches Erlebnis stellt für mich ein Hirnschlag dar, den ich vor 11 Jahren erlitten habe. Aufgrund einer gerissenen Karotiden-Arterie gelangte ein Blutgerinnsel in mein Hirn. Ich verlor die Beherrschung über meinen Körper. Ich war etwa anderthalb Monate in der Rehabilitation. Ich hatte dabei ein unglaubliches Glück: im Gegensatz zu vielen meiner Reha-Kolleg*innen gewann ich alle meine Fähigkeiten schnell wieder zurück; sie waren nicht stark beeinträchtigt worden.

Ein Moment der Anrufung: Anstoss zu andauernder Veränderung

Im Spital erlebte ich eine Anrufung. In einem Gottesdienst, zu dem ich im Rollstuhl gebracht wurde, predigte der Pfarrer über die Aussendung der Freund*innen Jesu (Lk 10,2):

Er sagte zu ihnen: Das Erntefeld ist gross, die Menge der Arbeiterinnen und Arbeiter aber gering. Bittet nun den Herrn der Ernte, dass er Arbeitskräfte für sein Erntefeld spriessen lasse.

Lk 10,2 (BigS)

Ich weiss nicht mehr genau, wie die Predigt auf mich gewirkt hat. In meiner Erinnerung ist alles vermischt: Meine Erschöpfung darüber, so lange aufmerksam und aufrecht sein zu müssen; meine Entkräftung, die sich in Übelkeit, Schwindel und Kopfschmerzen äusserte; das Jesus-Wort, das auf mich leise einzuwirken begann; di ein mir spriessende Freude über die Gemeinschaft im Gottesdienst mit allen anderen Patient*innen – ich glaube, im Moment musste ich mich nur noch ausruhen, nur noch neu Kraft schöpfen.

Erst mit der Zeit wurde dieses Erlebnis zu einem Gründungsmoment für den Rest meines Lebens (bis zum nächsten Gründungsmoment): die Anrufung durch eine andere, sinnhaftere Aufgabe, die ich damals „Berufung“ nannte; die Getragenheit in diesem Zustand der Schwäche, der auch einer der Ausgeliefertheit war.

Diese „Berufung“ ist inzwischen schwächer, persönlicher und säkularer geworden: ergänzt durch das Bewusstsein eines pädagogischen Auftrags, der nichts (mehr) mit der Vermittlung eines Glaubens, aber alles mit der ethischen Bemühung um das Mündigwerden der unterrichteten Kinder und Jugendlichen zu tun hat. Der Glaubensaspekt ist in den Hintergrund getreten: ich bin heute viel stärker damit befasst, mir Glaubens-Wissen und Glaubens-Erfahrungen zu erschliessen, die in den Heiligen Schriften und in der eigenen Erfahrung in der Wirklichkeit wurzeln.

Vertrauen aus der Schwäche und in der Schwäche

Dauerhaft und unverändert ist jedoch dieses Gefühl von Vertrauen aus und in der eigenen, menschlichen Schwäche. In der gefährdeten Lage weiss ich mich geborgen und gehalten, und je ratloser und schwächer ich bin, je auswegloser die Situation scheint, desto mächtiger wirkt in mir diese aufrichtende, diese auferstehende Kraft des Vertrauens.

Vertrauen worauf?

Es ist dies ein Vertrauen, dass du selbst im Bösen, im Schlechten, in Gefahr und schlimmer Krankheit von einer universellen Grundkraft aufgehoben und getragen werden kannst, wenn du dich ihr überlässt – unverdient und bedingungslos. Es ist dies ein Gefühl, das ich damals zum ersten Mal verspürt und später benennen gelernt habe: zum Beispiel, als mich meine damals 10- oder 11-jährige Tochter zu ihrem Chorkonzert geschoben hat, später bei jedem erfolgreichen Treppenlauf, nach jeder heftigen Migräne.

Ja, im Moment der Gefährdung und der Schwäche treibt mich mein menschlicher Sinn dazu, mit dem Unglück – ob Krankheit oder Unfall, Verletzung oder Depression – zu hadern und „mein Schicksal zu verfluchen“, wie du sagen könntest. Wie du bin ich (noch) nicht bereit, mein Geschick anzunehmen.

Doch zuletzt erfahre ich immer wieder dieses Geduld lehrende Gefühl eines Vertrauens darin, „dass es schon gut kommt“ – sogar, wenn dieses Gute der Tod oder eine bleibende Beeinträchtigung deiner Lebensqualität sein kann.

Ich denke sogar manchmal, dass du nur in solchen Fällen körperlicher oder geistiger Anfechtung und Gefährdung der HEILIGEN wirklich deine menschlich-göttlichen Qualitäten beweisen kannst: ein Zutrauen, das in der Geduld gründet und im Wissen um deine wirkliche Schwäche, den Hochmut, der dich als Herrn (oder Schmied) deines Schicksals, wenn nicht gar der Welt, verstehen und bestimmen will; eine Neigung, das Kommende bewusst wehrlos und ohne Kampf entgegenzunehmen.

Ich denke manchmal, dass du nur in der Schwäche zu deinem wahren Menschentum, wie HASCHEM es für dich gewünscht hat, finden kannst. Einem Menschentum, das in der Schwäche die Werkzeuge für ein „Leben in Fülle“ findet: die Geduld und die Demut.

Ein universalistischer, säkularer Blick auf deine Schwäche

Diese Gedanken kannst du auch weniger persönlich formulieren.

Wenn du ganz ehrlich zu dir über deine Kräfte, Ressourcen und dein Potenzial bist, musst du eingestehen, dass du nichts vermagst ohne dieses Vertrauen; nichts lässt sich wirklich erzwingen, alles ist letztlich ein Geschenk – sicher hilft dabei dein Einsatz, deine Mühe in der Arbeit und im Hoffen.

Doch alleine kannst du nichts. Du kannst zwar den Reproduktionsprozess anstossen mit einem Ei und einer Spermatozoe, aber dieser Prozess, einmal ins Laufen gekommen, kannst du nicht machen; er läuft – wie das Wachsen des Samenkorns in der Erde, über die der Bauer wachsam gebeugt wartet – ohne dein Dazutun ab. Du verdankst das entstehende Kind Prozessen und Mechanismen, die du nicht in der Hand hast. Du kannst diesem Prozess helfen, indem du dich gesund ernährst, deine Gesundheit nicht gefährdest, etc., aber diese von dir angestossene Entwicklung in dir hat nichts mehr mit dir zu tun – und doch alles; und doch sagen diese Prozesse alles über dich aus.

Wenn du deinen Blick, dein Denken und Verstehen auf die globale Ebene richtest: welche Aber-Milliarden kleiner und kleinster Prozesse laufen da ab, dass dein eigenes Leben weiterhin gewährleistet ist! Vom Korn, aus dem dein Brot ist, von der Traube, aus der dein Wein ist, über die Faser, aus der dein Kleid ist, bis hin zu den Ziegeln, die dein Dach bedecken – ja, bis zur Luft, die du gerade atmest: Wie viele Werdungs-Prozesse hat es dafür gebraucht, in die du nicht einbezogen warst, die du nicht einmal angestossen hast – die gänzlich unverdient und nicht machbar, nicht replizierbar sind! Das ist ein Werk von viel wichtigeren Lebewesen und Organismen als du, seien das Mikro-Organismen, Bakterien, Algen, Pilze – oder einfach die Blätter am Baum vor deinem Haus und die Läuse in deinem Rosenstrauch.

Du bist in deiner ganzen Existenz auf diese angewiesen. Du alleine bist nichts ohne dieses grosse, ganze und weitverzweigte Netz(werk), das dich erhält – und vielleicht, angesichts der kollabierenden Ökosysteme weltweit, bald nicht mehr erhält. 

Ein Blick zurück auf Kindheits-Spiele

Und dann denke ich an die kleinen, improvisierten Theaterstücke, die ich zwischen 8 und 15 Jahren mit meinen Freunden inszeniert habe. Darin ging es meistens um einen Helden, der in seiner Stärke plötzlich grässlich gefährdet wird und fällt. (Ja, der „Seewolf“ von Jack London lässt buchstäblich grüssen!)

Und in diesem Fall, in dieser Gefährdung (Todesnähe, etc.) kommt dem Helden (manchmal auch der Heldin – was in den Augen des Buben, der ich war, eine noch höhere Wirkung garantierte) eine stützende, helfende, aufrichtende Hand zu Hilfe (meist einer meiner Freunde in einer spontan erfundenen Rolle, manchmal gar ich selbst, indem ich aus meiner Rolle heraustrete).

Dieser Moment, da der Held hilflos und ausgeliefert war, „sein Ende nahe glaubte“, fast schon tot, in seiner Schwäche „darniederlag“ (ja, ich trug viel viktorianisches Pathos in diese Spiele hinein, während meine Freunde ihre Comic-Welten aktivierten), kurz bevor der Held / die Heldin gerettet wird – das war ein unglaublich erregender und beglückender, buchstäblich stärkender und revitalisierender Moment in der Schwäche.

Nichts aus sich gemacht – Teil 2

Potenzial und Erfüllung, Freiheit und Zwang

Im ersten Teil dieser Erörterung habe ich versucht, die Anfrage an den eigenen Erfolg auf persönlicher Ebene, aus persönlichem Blickwinkel zu beantworten. Also zu klären, ob und wie, wann und wodurch ich „aus mir etwas gemacht“ habe – oder eben nicht.

Hier möchte ich nun den theologischen und philosophischen Grundbedingungen menschlichen Erfolgs nachgehen. Was würde es bedeuten, zu genügen (vor Gott und den Menschen)? Wann erfüllst du dein Potenzial? Was für einen Horizont liegt in theologischer Hinsicht im Menschen? 

Mit Dank an Freiheitsjunkie für das Bild.

Ein Mangelwesen in Freiheit

In den monotheistischen Religionen ist der Mensch ein Mangelwesen, das in Freiheit zu handeln berufen ist. Mangelwesen meint, der Mensch ist nicht perfekt. Die Geschichten von Adam und Eva, von Kain und Abel, vom Turmbau zu Babel, von Noah, von Esau und Jakob und viele andere zeigen, wie schwer es dem Menschen fällt, sich in dieser – von Gott geschenkten und gewollten! – Freiheit zu behaupten und sich für das „Gute“ zu entscheiden. So sehr, dass die Propheten immer wieder von dem „geraden“ Pfad der Gerechten, Jesus gar von der „engen Tür“ gesprochen haben, durch die du als Mensch zu Gott findest, Erlösung in Gott findest.

Geht durch das enge Tor! Denn das weite Tor und der breite Weg führen ins Verderben, und viele sind auf diesem Weg. Doch das enge Tor und der schmale Weg führen ins Leben, und nur wenige finden diesen Weg.

Matthäus 7, 13f.

Immer wieder spricht die Bibel von Menschen mit „verstockten“ Herzen; das Herz ist dem Orient der Sitz des Verstandes. So meint auch der Koran:

(Der Koran ist) eine von uns zu dir hinabgesandte, gesegnete Schrift (und wird den Menschen verkündet), damit sie sich über seine Verse Gedanken machen, und damit diejenigen, die Verstand haben, sich mahnen lassen.

Sure 38, Vers 29 (Übers. Rudi Paret)

Sowohl in der Bibel als auch im Koran ist der Mensch auf die Gemeinschaft verpflichtet. Es handelt sich dabei um ein vormodernes Menschenverständnis: Der Mensch wird nicht als „Individuum“ gesehen, sondern als Teil einer Gemeinschaft, zuerst der Familie, der Sippe, des Stammes bzw. der Ethnie, schliesslich des Gottesvolkes. In dieser Einbettung hat er seine Rolle: die Gemeinschaft fördern, ihr helfen und die Schwachen unterstützen.

Was aber ist genau der Mangel am Menschen als Geschöpf Gottes, als „von Anfang an beschenktes“ Wesen?

Neben den oben herausgestellten Schwierigkeiten des Menschen, aus der ihm geschenkten Freiheit heraus das „rechte Verhalten“ zu finden, wählen oder erlernen, lassen sich zwei weitere  Fehl-Stellen bezeichnen. Diese sind beide wiederum verbunden mit dem in diesem Blog bereits oft erwähnten „adamitischen Hochmut“.

  • Geht es dem Menschen gut, rechnet er sich seinen Erfolg selbst zu. Er ist überzeugt, „seines eigenen Glückes Schmied“ zu sein; vielleicht sogar, das Erreichte wortwörtlich zu verdienen.
  • Geht es dem Menschen schlecht, rechtet er sofort mit dieser angeblichen „Ungerechtigkeit“: Warum geht es den anderen, den „Bösen“ denn schlecht, aber mir nicht?

Vor diesem Hintergrund stellt sich eine weitere Frage: diejenige nach dem Potenzial des Menschen (geboren aus seiner Perfektibilität). Denn nicht nur ist der Mensch als „Geschöpf“ berufen, zwischen Freiheit und Unfreiheit, zwischen Freiwilligkeit und Zwang zu wählen, sondern mehr noch: die in der Person „schlummernden“ Anlagen (Keime) zur Frucht zu bringen.

Diese Perfektibilität macht es, dass du als Mensch immer das Gefühl oder den Eindruck haben kannst, du lebest nicht „zur Fülle“ das Leben, das du verdienst oder das du zu verdienen glaubst. Immer wieder wirst du damit konfrontiert, dass andere Menschen mit ähnlichen Anlagen und/oder Voraussetzungen scheinbar „mehr“ oder „besseres“ erreicht haben, ob an beruflichem oder materiellem Erfolg.

***

Exkurs: „Tun-Ergehen-Zusammenhang“ oder Die Folgen hängen nicht immer mit meinem Tun zusammen

Hier muss ich kurz einschieben: Ich bin keineswegs ein Anhänger von „Tun-Ergehen-Zusammenhängen“, wie das die Religionen immer wieder vermitteln. Ich weiss zwar, dass mein Tun Folgen hat in meinem Leben; aber ich weiss und glaube gleichzeitig, dass die Folgen nicht immer mit meinem Tun zusammenhängen.

Wenn ich also einen Kater habe, weiss ich, dass ich am Abend zuvor zuviel getrunken habe; aber wenn ich Krebs habe, weiss ich, dass ich über diese Krankheit nicht nur keine Macht habe, sondern ihr Ausbrechen nicht (notwendiger- oder gezwungenerweise) von mir verschuldet wurde. 

Mit einem anderen Beispiel: ein Erdbeben ist keine Strafe für das Handeln der Menschen in einer Stadt, dennoch ist es nicht verwunderlich, wenn es geschieht und Unglück anrichtet, weil die Menschen im Wissen um die Wahrscheinlichkeit oder Möglichkeit eines Erdbebens weiterhin in der Stadt wohnen. Sie haben ihre Wahl in Kenntnis eines möglichen Erdbebens getroffen.

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Das Geschenk der Freiheit, das auch an die Gnade gekoppelt ist, jedoch ist eine schwierige Aufgabe oder Herausforderung. Leicht ist es, sich verlocken, verführen zu lassen. Unzählige Mythen und Geschichten erzählen in immer wieder ähnlichen Formen davon, wie der Mensch scheitert daran, dass er in Freiheit wählen kann.

Darunter die schönsten sind jene, in der ein junger Tor „alles recht macht“ und maximales seelisches und materielles Glück „erwirbt“. So in der Geschichte von den drei goldenen Haaren des Teufels. Doch fast am Schönsten von allen ist die Geschichte von „Hans im Glück„: Da geht einer mit grossem Reichtum auf den Heimweg und kehrt mit leeren Händen heim. Mehr noch: wie dankbar ist er dafür!

Ähnlich denkt und lehrt auch Jesus, wenn er uns im Gleichnis vom Kornbauern, der Vorräte anhäuft, aufzeigt, dass materielle Schätze im Angesicht des Todes, ja des Gerichts vor Gott keinerlei Bedeutung haben: „Du kannst sie ja nicht mitnehmen!“

Mechanismen der Öffentlichkeit entwerten und überfordern die Einzelne

Diese oben angesprochene Wahlmöglichkeit kann als eine der schwersten Herausforderungen verstanden werden. Denn wohl ist der Mensch ein für sich und an sich Wirkender, aber er bleibt auf die Gesellschaft, auf die Gemeinschaft bezogen. In dieser Bezogenheit orientiert er sich.

Doch die Gesellschaft vermittelt dir derart viele Wege, Möglichkeiten. Alle Wege und Möglichkeiten, wird dir von Kind auf gepredigt und eindringlich vermittelt, sind nur Anreize. Anreize, damit du ausdauernder und inniger arbeitest; Anreize, damit du Wohlstand erreichst, der dir Freiheit verleiht; Anreize, damit du die Liebe nützest, die dir begegnet, um einen Gegenpol zu den Herausforderungen in deinem Berufsleben zu haben.

Einen Gegenpol? Wohl eher eine weitere Überforderung: Denn wird nicht die Liebe so sehr überzeichnet, dass sie dir als unmöglich zu verwirklichen erscheinen muss? Gibt es denn diese romantische Liebe, die uns Stars und Starlets vorleben, einreden? Besonders in einer Zeit, die so ich-bezogen ist, dass auf Social media Filter erfunden werden, die dich noch schöner erscheinen lassen.

Ich persönlich kenne niemand, der diese romantische Liebe erfahren hätte; eine romantische Liebe zudem, die von Dauer wäre.

Und welche Werte und Normen vermitteln wir unseren Kindern? Eine kapitalistische Weltsicht des „Höher, Weiter, Schneller“, der sich doch niemals gerecht werden können – wie auch wir Eltern nicht. Schon in der Schule geraten die Kinder in diese Tretmühle des Ungenügens: die Leistung zählt, Ermutigung oder Würdigung ist eine Seltenheit.

Doch sie sehen im Fernsehen und in ihren Endgeräten lauter gelungene Lebensläufe, von Ronaldo oder Yan Sommer über Hamilton oder Odermatt bis zu Beyoncé oder Ariana Grande. Doch sind das nicht die Ausnahmen, die die Regeln bestätigen?

Denn die Wahlmöglichkeiten sind geringer. Du bist schon eingeschränkt von deinem sozialen Umfeld ; du bist schon eingeschränkt von der Kaufkraft deiner Familie; du bist schon eingeschränkt durch die dir geschenkte Zeit der Eltern.

Der Weg der meisten Kinder wird einer im Mittelmass sein. Sehr unwahrscheinlich, dass ihnen Wahlmöglichkeiten offen stehen, die sie zu einem herausragenden Leben anspornen und dieses verwirklichen lassen.

Und daran ist nichts falsch. Was mich daran dennoch bekümmert? Sie werden mit diesem Mangel in ihrem Leben auskommen müssen, sich damit zurechtfinden müssen. Und wer hat sie darin gelehrt? Wer hat ihnen erzählt, dass im Mittelmass, im Genügen auch eine Freude und auch eine Rechtfertigung liegt? Werden sie nicht ihr ganzes Leben mit dieser Wunde, mit diesem Misserfolg herumlaufen und darin sauer und böse werden?

Denn ist unsere Gesellschaft nicht gezeichnet von einem merkwürdigen Revanchismus, einem wütenden Anprangern von Fehlern bei andern? Auf Social media und überall in den Medien: Schadenfreude als beherrschendes Gefühl. (Denke nur an all die „Fail“-Kompilationen, die im Netz zirkulieren.) Und Schadenfreude, die politisch und gesellschaftlich im Handumdrehen in eine Ressentiment geladene Widerstandskraft führt, die lähmt.

Es ist wie mit der Medaille, die zwei Seiten hat: Auf der einen Seite die Idole und Helden, auf der anderen Seite die Wut auf den Erfolg des andern, Nächsten. Und im Hinterkopf immer: der hat doch einfach Glück gehabt, das war doch einfach Zufall.

Und wie gut tut es doch, wenn unsere Idole sich als fehlbar, als „menschlich“ erweisen: Wenn Ronaldo eine Frau vergewaltigt oder zumindest zu Sex gezwungen hat, wenn Will Smith mit seiner Ohrfeige zeigt, dass er ein Macho alter Schule ist, wenn der Djoker nicht nach Australien einreisen darf, weil er sich nicht gegen Covid-19 impfen lassen will… Wochenlang können wir uns zumindest medial daran stimulieren, solche „Fälle vom hohen Ross“ sind köstlich.

Denn diese Fälle zeigen, wie sehr der Mensch ein Mangelwesen ist und bleibt: Die ihm geschenkte Freiheit ist ein (zu?) hoher Anspruch an seine Fähigkeit, sich für das Gute zu entscheiden, eine Herausforderung für seinen Herzens-Verstand.

Genügen können: „Du bist gut so, wie du bist“?

Zahlreich sind die Momente in meinem Unterricht, allgemein in der Schule, da Schüler*innen an ihre Grenzen kommen, affektiv oder kognitiv. Mache Schüler*innen merken früh, dass sie nie genügen können werden. Sie haben nicht die „Ressourcen“, um den Leistungs-Anforderungen gerecht zu werden; sie haben nicht die Unterstützung von zuhause, um in der Schule wie in der Gesellschaft „(vor-) anzukommen“.

Viele dieser Schüler*innen retten sich in einen verrückten Glauben: die meisten Erwachsenen wollen ihnen Übel, sie selbst sind nicht an ihrem „Versagen“ schuld. Die Aggression, die aus dem Scheitern und Nicht-Genügen entsteht, wenden sie gegen andere, brausen auf und schädigen andere, aber vor allem sich selbst. Häufig werden sie in diesem Glauben noch von den Eltern bestärkt, die sich (bereits aus eigenem Ressentiment gespeist) gegen die Menschen empören, die in den Institutionen dieser Gesellschaft wirken.

Ich begegne diesen Schüler*innen mit Respekt und Anerkennung. Ich nehme sie als wertvolle, gleichwertige Gesprächspartner*innen wahr. Ich versuche immer wieder, ihnen zu zeigen, dass nicht alles von ihrer Leistung, nicht alles von ihrer kognitiven Fähigkeit abhängt. Dass sie allein durch ihre Existenz als Mensch in meinen Augen als Lehrperson eine Würde, ein Recht auf Würde haben. Dass sie in letzter Konsequenz mit Leichtigkeit und ohne Anstrengung der Anforderung, ein Mensch zu sein oder werden, genügen können.

Das gelingt häufig nicht, vor allem nicht in einem Klassenverband, wo jede jeden beobachtet; aber im Einzelgespräch ist dies ein leichtes. Und immer wieder ein wundervoller Augenblick, wenn eine Jugendliche, ein Jugendlicher merkt, dass ich sie oder ihn genauso beachte wie ich meine Erwachsenen-Lehrkolleg*innen beachte.

Natürlich fordere ich in dieser Interaktion eine Gegenseitigkeit. Doch erstaunlicherweise ist allein diese Bewegung hin zu einem anderen Menschen in Anerkennung und Respekt ausreichend, meistens ausreichend, um einen Austausch, eine Interaktion zu ermöglichen, die auf Gleichberechtigung und Augenhöhe beruht.

Ich versuche also der anderen Person, die mir gegenübersteht, in einfachster Form Würde und Anerkennung zuzugestehen. Damit zeige und sage ich ihr auch, dass sie genügt. Dass sie, weil sie mir genügt, auch sich genügen könnte.

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Exkurs: Werkgerechtigkeit und/oder Gnade

Hinter all diesen Erwägungen und Verhaltensmöglichkeiten steht letztlich die Frage nach einer ausgleichenden, jedoch nicht gleich machenden Gerechtigkeit. Nach einer Gerechtigkeit, die Ungleiches angleicht, ohne es gleich zu machen; nach einer Gerechtigkeit, die falsche Entwicklungen und Prozesse nivelliert und im besten Falle gar „transzendiert“, in „Höheres“ verwandelt.

Denn unser ganzes Leben zeigt uns, dass ein Korrektiv fehlt oder gefehlt hat. Die uns bewussten Fehler oder Schulden haben nicht zu den vorgestellten Folgen geführt; die uns nicht bewussten Schulden oder Fehler haben zu unvorstellbaren Folgen geführt; die Gesetze der Kausalität sind uns immer wieder als willkürlich oder eben: ungerecht erschienen. Gäbe es da nur eine regelnde, eingreifende Hand!

Könnte ich nur wissen oder sicher sein, dass meine guten Handlungen (nicht die guten Absichten!) wirklich zu guten Ergebnissen oder Resultaten führen! Könnte ich nur sicher sein und wissen, dass meine schlechten Handlungen (nicht die schlechten Absichten!) wirklich zu schlechten Resultaten oder Ergebnissen führen!

Doch dieses Prinzip – theologisch unter dem Begriff der Werkgerechtigkeit geführt – wird bereits in den Psalmen immer wieder als „ausgehebelt“ oder „unwirksam“, ja geradezu als absurd erkannt: den Bösen (den Frevlern) geht es trotz ihrer schlechten Taten weiterhin gut, die Gerechten (Guten) leiden in Armut oder Krankheit. Aus dieser Fehl-Lage entsteht der Schrei nach Gottes Eingriff in die Geschehnisse in der Wirklichkeit.

Die Gnade dagegen, die durch erlösende Handlungen der Propheten oder Jesu den Menschen geschenkt wurde, kann als rettende, berufende Wirkmacht verstanden werden. In der Gnade der Errettung und in der Gnade der göttlichen Zuwendung erfährt der Mensch eine Befreiung von den Zwängen und Notwendigkeiten der Welt, der Wirklichkeit. In der Gnade wird der Mensch auch dazu berufen, das Gute aus dieser unverdienten, erlösenden Zuwendung freiwillig und in Freiheit zu tun.

Auch hier – weit und breit keine eingreifende Hand. Die einzige Hand, die hier zum Unterschied zwischen „verdient“ und „ungerecht“ werden kann, ist deine eigene Hand. Du als Mensch musst bereit sein, dich für einen Weg einzusetzen, für ein Verhalten, das deinen Nächsten aufwertet, tröstet und stärkt. Nur so kannst du der anderen Person aufzeigen, dass auch du dich ihr aus Freiheit und freiwillig zuzuwenden geneigt bist. Und damit ein wenig „Göttliches“ in ihre und deine triviale Wirklichkeit hinein-giesst.

Anders gesagt: indem du dich in Freiheit und freiwillig für das Gute entscheidest, kommst du dem Weg, der sich Gott für den Menschen wünscht, am Nächsten. Mehr noch: vielleicht wirkt diese Entscheidung wahrhaft befreiend.

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Er-füll-ung

Der Gedanke der gottgeschenkten Freiheit müsste befreiend wirken. Das Wissen um die eigene, gottgeschenkte Freiheit, wenn auch eingebunden in wirkliche Zwänge und Notlagen, müsste dich befreien. Was für eine Macht ist dir doch geschenkt: du kannst dich für das Gute oder das Böse / Schlechte entscheiden.

Doch woraus könnte oder kann dieses Wissen oder Erfahren dich befreien?

Du könntest dich lösen aus Abhängigkeiten. All die körperlichen und geistigen Zwänge und Notwendigkeiten, denen du als Mensch in der (trivialen) Wirklichkeit unterworfen bist, – können sie dich wirklich daran hindern, das zu sein, wozu du von Gott berufen bist? Anders gefragt: kann die Person, die du bist oder wirst (und die sich Gott von Anfang an wünscht), sich nicht unabhängig von all diesen Zwängen (weiter) entwickeln?

Fragen wir noch weiter: Genügt es nicht schon allein, dass du bist? Dass du trotz unterschiedlich be- oder entgrenzter Entscheidungs- und Wirkungsmacht immer noch eine gewisse Wahl-Freiheit hast? Dass diese Wahlfreiheit immer noch deinen Weg bestimmt, selbst wenn du dich zum tausendsten Mal verrannt hast, selbst wenn du zum tausendsten Mal die falsche Entscheidung getroffen hast?

Genügt es nicht schon, dass du viele Entscheidungen triffst – ob vernünftig oder irrational? Dass diese Entscheidungen – getroffen aus der Wahl-Freiheit – deinen Weg gestalten, aber doch nie ganz abschliessend bestimmen? Dass noch viele Entscheidungen vor dir liegen, die diesen Weg abweichen, umschwenken lassen? Dass in der Rückschau dein Leben – ob kurz oder lang – voller Entscheidungen war, die dich getroffen haben und die du getroffen hast?

Genügt es nicht schon, dass im Rückblick sich Freude und Begeisterung mit Trauer oder Wehmut, manchmal auch Bedauern oder Ärger vermischen, einen unglaublich komplexen und nur dir eigenen Cocktail von Emotionen und Erfahrungen mixen- der dich ausmacht; mehr noch: der deine Frucht ist? Dass im Rückblick das Gefühl oder der Eindruck von Fülle entsteht.

Eine Fülle, die aus Überwindung von Hindernissen und Zwängen, aus der Verwirklichung von freien, freiwilligen Entscheiden besteht.

Und dass in der Fülle der Retrospektive eben nicht zählt, was du aus dir gemacht hast. Nicht zählt, was du „geworden“ bist angesichts deines Potenzials. Sondern was du vor dir selbst bist.

Und somit vor Gott: denn nur sie kann der Messende sein, der weiss, wie sehr du dein Potenzial „genutzt“ hast. Wie sehr du deiner Perfektibilität gerecht geworden bist – und gleichzeitig dich so oft als möglich für das Gute und gegen das Böse / Schlechte entschieden hast. Ob und wie du deine Keime (Anlagen) zur Frucht gebracht hast.

Nichts aus sich gemacht – Teil 1

Wann ist ein Leben ein Erfolg?

Ist ein menschliches Leben an Bedingungen geknüpft? Ist die eigene Geburt eine Verpflichtung? Anders formuliert: Sind die damit gegebenen oder später erworbenen Anlage(n) und Fähigkeiten oder Begabungen verpflichtende Bedingungen für ein weltlich gelungenes Leben? Und nochmals anders gefragt: Hat dein Lebenserfolg mit deinem weltlichen Erfolg zu tun? Bist du nur „vollkommen“ oder „erfolgreich“, wenn du dein „ganzes Potenzial abgerufen“ hast? –  Diesen Fragen möchte ich hier in einem zweiteiligen Artikel nachgehen. Im ersten Teil steht der persönliche Bezug im Vordergrund: eine erste Verortung des Themenkomplexes. Im zweiten Teil möchte ich diese Fragestellung theologisch und philosophisch vertiefen.

(Dank an Pfüderi für das Bild.)

Weltlicher oder beruflicher Erfolg als Produkt von Einsatz, Arbeit und Fleiss

In diesem Winter habe ich immer wieder Skirennen geschaut. Dabei habe ich gestaunt, wie klein die Zeitabstände zwischen Sieger und 12. oder 20. Platzierten sind: ein, zwei Sekunden. Ein Sieger, der mit 50 oder 70 Hundertstel vorne liegt, hat eine Ewigkeit zwischen sich und die Zweitplatzierte gelegt. Wie wenig trennt da die Guten von den Mittelmässigen!

Vor diesem Hintergrund hat mich auch die körperliche und geistige Bereitschaft erstaunt: Wie konzentriert und zielgerichtet musst du sein, um (wie im Falle eines Marco Odermatt oder einer Sofia Brignone) jedes Mal dein „bestes Resultat “ oder deine „beste Leistung abzurufen“!

Und gleichzeitig war ich auch jedes Mal wieder froh, nicht in einem Berufsfeld arbeiten zu müssen, wo Leistung und Einsatz der einzige Massstab für Erfolg sind.

An einem Dokumentarfilm über Marco Odermatt ist mir auch (nochmals oder erneut) klar geworden, dass dieser Erfolg kein Zufall oder Schicksal ist. Dieser Erfolg ist das Resultat einer beharrlichen, manchmal stumpfsinnigen Arbeit: vom Muskeltraining über das Konditionstraining und von der eigentlichen Rennvorbereitung bis hin zu stupiden Autogrammstunden für irgendwelche idiotischen kapitalistischen Sponsoren, die dich finanzieren und unterstützen.

Das eigene Leben: ein Misserfolg?

Angesichts solcher Leistung und solchen Erfolgs kann dir dein eigenes Leben durchaus unscheinbar, unerfüllt und mittelmässig erscheinen. Ja, es kann dir dabei vorkommen, du habest nichts aus dir gemacht: Mit all deinen Anlagen und Vorsätzen und Ansprüchen hast du doch nur etwas Mittelmässiges, Stockend-Steckenbleibendes vollbracht!

Bis vor etwa 5 Jahren konnte mich der Gedanke oder das Reden von literarischen Erfolgen im deutschsprachigen Raum regelrecht in Rage bringen. Besonders von Erfolgen jüngerer Autor*innen. Dass diese Erfolg hatten und ich nicht, dass jene entdeckt und gefördert wurden und ich nicht, schien mir eine Art Sarkasmus meines Lebens. Auch ich hätte mir so sehr die Anerkennung, den „Ruhm“ gewünscht, den sie genossen.

Dies umso mehr, als ich von mir mit Recht behaupten zu glauben durfte, auch ich sei ein „Begabter“, ein „kleines Genie“. Ich wusste um meine Fähigkeiten: Wie leicht mir schriftlicher und mündlicher Ausdruck fielen, wie literarisch geprägt meine Ansprüche waren, wie ich immer wieder von Neuem treffende, komplexe Gedichtgewebe erfand, die meinem Leben nicht nur einen Ausdruck, sondern einen höheren Sinn gaben!

Meine Ablehnung gegenüber solchen literarischen Erfolgen war geprägt von einer Wut, die viel mit mangelnder Selbstachtung und Überheblichkeit zu tun hatte. Und noch mehr mit den gesellschaftlich geprägten Erwartungshaltungen und Vorstellungen davon, was weltlicher und beruflicher Erfolg bedeutet.

Meine damalige Lebenshaltung war eine durchaus „hollywoodianische“, ja märchenhafte: Erfolg ist Schicksal oder Zufall. Jemand Begabtes gerät immer durch eine Art höhere Bestimmung in den Sog des Erfolgs, der dann unaufhaltsam ist und fast ohne ihr Dazutun geschieht. Meine Verbitterung war eine direkte Konsequenz davon: Warum nicht ich?

Dass hinter dem Erfolg viel Zähneknirschen und Knochenarbeit steckt, konnte ich damals noch nicht zugeben oder sehen. Heute anerkenne ich dies vorbehaltlos: Dazu war ich einfach nie bereit. Ich war nicht bereit dazu, mich mit Ellbogen und Zähnen „nach oben zu kämpfen“ und dabei „alles zu geben“ und „volles Risiko einzugehen“. Kurz: Dafür wollte ich dann den Erfolg zu wenig stark. Brutal ausgedrückt: der Erfolg war ein Wunschtraum, für den ich nicht bereit war zu leiden oder kämpfen. Und ich ein Kind, das sich in den Einkaufspassagen quengelnd Süssigkeiten wünscht.

Und es ist ja nicht einmal so, dass ich durch diese „bequeme“ Haltung ein besseres, angenehmeres Leben gehabt hätte. Ganz im Gegenteil: die letzten Jahre waren buchstäblich in vieler Art und Weise die Hölle, gar nicht angenehm, wenn ich nur an meine fortdauernde Armut denke (und ich gebrauche Armut hier nicht als Metapher!).

Gutes Leben ist einfach

Als meine Tochter letzten Sommer ihre Matur abgeschlossen hat, habe ich auch an der Maturfeier teilgenommen. Dabei hat irgendeine Prominenz eine launige Rede gehalten, die weder aussergewöhnlich noch unrealistisch war. (Sie war gespickt mit Versprechen und Warnungen.) Im Laufe dieser Rede und unter dem Eindruck des schulischen Erfolgs meiner Tochter ist mir plötzlich die Weisheit des Predigers in die Knochen und die Seele geschossen, als begriffe ich sie zum ersten Mal.

So sah ich denn, dass nichts Besseres ist, als dass ein Mensch fröhlich sei in seiner Arbeit; denn das ist sein Teil.

Prediger 3, 22

Am guten Tage sei guter Dinge, und den bösen Tag nimm auch für gut; denn diesen schafft Gott neben jenem, dass der Mensch nicht wissen soll, was künftig ist.

Prediger 7, 14

Noch während der Veranstaltung begann und beendete ich eine Art Loblied, eine Art Psalm des „erwartungslosen, anspruchslosen Lebens“. (Du kannst ihn unter folgendem Link lesen: Das Gedicht heisst „Psalm für den Prediger„.)

Doch was wurde mir da eigentlich klar und verständlich?

Es sind zwei ineinander verschränkte Erkenntnisse, die sich auch gegenseitig bedingen:

  1. Nicht das Mögliche zählt für dein Leben. Es zählt nicht, was du hättest werden können. Es spielt keine Rolle, was du mit dem dir geschenkten Leben und deinen Gaben erreicht hast. Was zählt, ist deine Haltung gegenüber diesem Geschenk. (Diese Haltung nenne ich „Dankbarkeit“.)
  2. Das Gute am Leben bestimmst du. Erst deine Haltung macht aus deinem Leben ein gelungenes, und weder die Ansichten oder Urteile anderer noch deine eigenen Absichten und Vorhaben können seinen Ausgang und seinen Erfolg beeinflussen oder bewerten. (Diese Haltung nenne ich „Demut“.)

Antiheld Saul: Mehr Fragen als Antworten

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Ich liebe Antihelden, Antiheldinnen. Sie dienen viel besser als Vorbilder und Anstösser. Sie werden gebrochen, sind gebrochen und unfertig (niemals fertig), hadern und zweifeln und sind überfordert.

Die Bibel als Buch von Geschichten über unzählige Figuren und letztlich ja auch menschliche Persönlichkeiten und Schicksale wird mich daher nie kalt lassen und immer von Neuem versorgen mit Antihelden, Antiheldinnen.

Dies macht mir die Bibel lieb. Denn nicht nur erweisen sich strahlende jugendliche Wunderkinder wie David in den Geschichten der Bibel als fehlerhaft und schuldvoll, als in Leidenschaften gebadet und an Ungerechtigkeiten festhaltend, – genau wie du und ich niemals perfekt sein werden, denn Gott wollte uns so in Freiheit und Eigenverantwortung leben lassen -: immer wieder nimmt sie diese Figuren und Schicksale ernst und erzählt sie bis ins letzte schmerzliche Detail aus.

Diese kraftvolle Wirklichkeitsnähe der Bibel überstrahlt in meinen Augen immer wieder ihre moralischen, wertenden und leichthin aufklingenden Urteilsangebote (oder Verurteilungsaufgebote). Denn die Bibel ist dort stark im Erzählen, wo es um das „Menschlich-Allzumenschliche“ geht.

Und hält auch immer wieder dem von Menschen imaginierten und insofern „gemachten“ Gott den Spiegel vor. Anders gesagt: den die Bibel lesenden Menschen wird in der Bibel selbst vorgeführt, was für ein Gottesbild unzureichend und vielleicht gar frevelhaft ist.

Weshalb Saul?

Eine meiner Lieblingsfiguren ist der König Saul. Obwohl er im Anfang für ein positives, zwar schillerndes, aber dennoch gesund-gerechtes Königtum steht – so weigert er sich, den drastisch-drakonischen, ja fast genozidhaften Bann seines Gottes, wie ihn sein unsympathisch-despotischer Antiprophet Samuel ausgesprochen hat, umzusetzen -, versinkt er mit zunehmender Dauer seines Königtums in Zweifel, Skrupel und Hader.

Viele Theorien und Erklärungstheorien haben sich um diesen legendären König gerankt. (Ich bin mir durchaus bewusst, dass man die 3 grossen israelitischen Könige als „aufsteigende Folge“ lesen kann: Saul als gescheitert, David als grossartig, aber doch makelbehaftet, Salomo fast gänzlich strahlend und ideal.) Von Depressionen oder Burnout könnte man mit heutigen Augen leichthin spekulieren. Von Musiktherapie schwärmen.

Was mich an dieser Figur nicht loslässt, sind folgende Punkte:

  1. Er hätte sich lieber gedrückt, als König zu werden und war (wie David später) vermutlich zu jung. (1 Sam 10, 22)
  2. Er war ein Charismatiker, der zur verzückten Trance und zu hohen Emotionen fähig war, fast schon ein „Prophet“. (1 Sam 10, 11)
  3. Er weigert sich, den genozidalen Bann an den Amalekitern ganz und gar zu vollziehen. (1 Sam 15)
  4. Er traut sich priesterliche Handlungen zu. (1 Sam 13, 7-15)
  5. Er versinkt, vermutlich überfordert und in Gewissenskonflikten verstrickt, in eine Art „geistige Umnachtung“. (1 Sam 16)
  6. Er versucht sich in Divination und Totenbeschwörung.

Keiner dieser Punkte ist allein negativ zu bewerten. Lese ich den 4. Punkt mit Nietzsche, dann ist seiner Handlung und seiner Eigenmächtigkeit geradezu Modernität und Lob auszusprechen: Alles gegen die Priesterkaste (auch in der katholischen Kirche), Befreiung von Propheten (selbsternannt oder „apostolisch“)!

Saul als Theaterstück

Während ich mich mit Gides „Corydon“ beschäftigte, begann mich dieser Schrifststeller stärker zu interessieren. Da entdeckte ich seine Theaterstücke, darunter den „Saül“.

Gide interessiert sich in seinem Stück vornehmlich um die Liebesbeziehung zwischen David und Jonathan. Saul ist der unentschlossene, zweifelnde Übervater, der von Dämonen geplagt wird.

In meinen Augen hat das Stück durchaus spannende und interessante Aspekte, z.B. die Szenen, in denen die Dämonen sich Sauls bemächtigen und ihn bestimmen. Doch scheint mir persönlich diese „dämonische Deutung“ zu oberflächlich und zu anspruchslos. Sie verschleiert die Tragik und Faszination dieser Figur.

Für moderne Leser ist dieses Theaterstück zu moderat, zu vorsichtig. Damals konnte es vielleicht ganz angenehm schockieren mit der Andeutung einer homosexuellen Liebe. Heute jedoch geht es letztlich zu wenig weit in der Aktualisierung und „Verheutigung“ der biblischen Geschichte.

Bibel als Geschichten-Urgrund oder -Ursuppe

Im Anhang der französischen Ausgabe von Gides „Saül“ finde ich dann genug Stoff für mich.

So schreibt Maurras in einer Besprechung des Stücks:

„so handelt es sich weniger darum, von der Bibel Geschichten auszuleihen als vielmehr dem inspirierten Text etwas hinzuzufügen, ihn etwas sagen lassen, was er vielleicht nicht sagen wollte: das (biblische) Wort sanft umzuleiten: er (Gide) trübt die Quelle Gottes“.

Worauf Gide antwortet:

„Ich halte die heiligen Schriften, genauso wie die griechische Mythologie (und mehr noch) für eine unerschöpfliche, unendliche Quelle, die dazu gedacht ist, ohne Unterbruch von jeder Interpretation, die eine neue Richtung der Geister uns vorschlägt, immer weiter bereichert zu werden. Ich halte mich daher nicht an ihre erste Antwort, um nicht mit dem Befragen aufzuhören.“

Und so hat sich der Kauf und die Lektüre dieses Buchs doch gelohnt:

  • Als Aufforderung zur immer weiter gehenden Hinterfragung der teilweise plakativen, moralisierenden und teilweise priesterlich-traditionell gefärbten Antworten, mit der die Kirche und andere Institutionen uns in die Irre leiten wollen.
  • Als Aufforderung und Ermächtigung, die heiligen Schriften weiterhin und noch verstärkt als menschliche Zeugnisse zu lesen – auf der Suche nach den Spuren Gottes in den erzählten Menschenschicksalen und -persönlichkeiten.
  • Als Einladung, jeglicher einfachen oder gewohnten, überlieferten Lesart erst einmal zu widersprechen und sie zu hinterfragen auf ihre Auswirkungen auf unsere Leben und Lebenswürde.

Anders gesagt, lasst uns Stachel im Fleisch jeder manipulativen, entmündigenden und institutionell verantworteten Lesart der heiligen Schriften sein. Gerade am Beispiel des verworrenen, zweifelnden und orientierungslosen armen Königs Saul lässt sich dies aufzeigen und – nachvollziehen. Denn dieser Mensch berührt uns mehr als manches, was wir von Jesus erfahren oder lernen.

Ja, noch mehr: Glaube nie einer einmal gefundenen Antwort, verstehe nie einen biblischen Text endgültig, bleibe neugierig und unzufrieden, vor allem mit einfachen, fertigen und gängigen Antworten.