Aufgehoben in der Schwäche

(Bild mit Dank an Karabo_Spain.)

Einige Erlebnisse prägen unserer Haltung zum Leben und zum Glauben dauerhaft grundlegend und dauerhaft verändernd. Noch viel später entfalten sie ihre Wirkung; selbst wenn du denkst, ihre Strahlkraft und Wirkmacht müsse längst versiegt sein. Mehr noch: diese Kraft verändert im Laufe der Zeit ihre Gestalt, ihren Ton und ihre „Botschaft“.

Ein solches Erlebnis stellt für mich ein Hirnschlag dar, den ich vor 11 Jahren erlitten habe. Aufgrund einer gerissenen Karotiden-Arterie gelangte ein Blutgerinnsel in mein Hirn. Ich verlor die Beherrschung über meinen Körper. Ich war etwa anderthalb Monate in der Rehabilitation. Ich hatte dabei ein unglaubliches Glück: im Gegensatz zu vielen meiner Reha-Kolleg*innen gewann ich alle meine Fähigkeiten schnell wieder zurück; sie waren nicht stark beeinträchtigt worden.

Ein Moment der Anrufung: Anstoss zu andauernder Veränderung

Im Spital erlebte ich eine Anrufung. In einem Gottesdienst, zu dem ich im Rollstuhl gebracht wurde, predigte der Pfarrer über die Aussendung der Freund*innen Jesu (Lk 10,2):

Er sagte zu ihnen: Das Erntefeld ist gross, die Menge der Arbeiterinnen und Arbeiter aber gering. Bittet nun den Herrn der Ernte, dass er Arbeitskräfte für sein Erntefeld spriessen lasse.

Lk 10,2 (BigS)

Ich weiss nicht mehr genau, wie die Predigt auf mich gewirkt hat. In meiner Erinnerung ist alles vermischt: Meine Erschöpfung darüber, so lange aufmerksam und aufrecht sein zu müssen; meine Entkräftung, die sich in Übelkeit, Schwindel und Kopfschmerzen äusserte; das Jesus-Wort, das auf mich leise einzuwirken begann; di ein mir spriessende Freude über die Gemeinschaft im Gottesdienst mit allen anderen Patient*innen – ich glaube, im Moment musste ich mich nur noch ausruhen, nur noch neu Kraft schöpfen.

Erst mit der Zeit wurde dieses Erlebnis zu einem Gründungsmoment für den Rest meines Lebens (bis zum nächsten Gründungsmoment): die Anrufung durch eine andere, sinnhaftere Aufgabe, die ich damals „Berufung“ nannte; die Getragenheit in diesem Zustand der Schwäche, der auch einer der Ausgeliefertheit war.

Diese „Berufung“ ist inzwischen schwächer, persönlicher und säkularer geworden: ergänzt durch das Bewusstsein eines pädagogischen Auftrags, der nichts (mehr) mit der Vermittlung eines Glaubens, aber alles mit der ethischen Bemühung um das Mündigwerden der unterrichteten Kinder und Jugendlichen zu tun hat. Der Glaubensaspekt ist in den Hintergrund getreten: ich bin heute viel stärker damit befasst, mir Glaubens-Wissen und Glaubens-Erfahrungen zu erschliessen, die in den Heiligen Schriften und in der eigenen Erfahrung in der Wirklichkeit wurzeln.

Vertrauen aus der Schwäche und in der Schwäche

Dauerhaft und unverändert ist jedoch dieses Gefühl von Vertrauen aus und in der eigenen, menschlichen Schwäche. In der gefährdeten Lage weiss ich mich geborgen und gehalten, und je ratloser und schwächer ich bin, je auswegloser die Situation scheint, desto mächtiger wirkt in mir diese aufrichtende, diese auferstehende Kraft des Vertrauens.

Vertrauen worauf?

Es ist dies ein Vertrauen, dass du selbst im Bösen, im Schlechten, in Gefahr und schlimmer Krankheit von einer universellen Grundkraft aufgehoben und getragen werden kannst, wenn du dich ihr überlässt – unverdient und bedingungslos. Es ist dies ein Gefühl, das ich damals zum ersten Mal verspürt und später benennen gelernt habe: zum Beispiel, als mich meine damals 10- oder 11-jährige Tochter zu ihrem Chorkonzert geschoben hat, später bei jedem erfolgreichen Treppenlauf, nach jeder heftigen Migräne.

Ja, im Moment der Gefährdung und der Schwäche treibt mich mein menschlicher Sinn dazu, mit dem Unglück – ob Krankheit oder Unfall, Verletzung oder Depression – zu hadern und „mein Schicksal zu verfluchen“, wie du sagen könntest. Wie du bin ich (noch) nicht bereit, mein Geschick anzunehmen.

Doch zuletzt erfahre ich immer wieder dieses Geduld lehrende Gefühl eines Vertrauens darin, „dass es schon gut kommt“ – sogar, wenn dieses Gute der Tod oder eine bleibende Beeinträchtigung deiner Lebensqualität sein kann.

Ich denke sogar manchmal, dass du nur in solchen Fällen körperlicher oder geistiger Anfechtung und Gefährdung der HEILIGEN wirklich deine menschlich-göttlichen Qualitäten beweisen kannst: ein Zutrauen, das in der Geduld gründet und im Wissen um deine wirkliche Schwäche, den Hochmut, der dich als Herrn (oder Schmied) deines Schicksals, wenn nicht gar der Welt, verstehen und bestimmen will; eine Neigung, das Kommende bewusst wehrlos und ohne Kampf entgegenzunehmen.

Ich denke manchmal, dass du nur in der Schwäche zu deinem wahren Menschentum, wie HASCHEM es für dich gewünscht hat, finden kannst. Einem Menschentum, das in der Schwäche die Werkzeuge für ein „Leben in Fülle“ findet: die Geduld und die Demut.

Ein universalistischer, säkularer Blick auf deine Schwäche

Diese Gedanken kannst du auch weniger persönlich formulieren.

Wenn du ganz ehrlich zu dir über deine Kräfte, Ressourcen und dein Potenzial bist, musst du eingestehen, dass du nichts vermagst ohne dieses Vertrauen; nichts lässt sich wirklich erzwingen, alles ist letztlich ein Geschenk – sicher hilft dabei dein Einsatz, deine Mühe in der Arbeit und im Hoffen.

Doch alleine kannst du nichts. Du kannst zwar den Reproduktionsprozess anstossen mit einem Ei und einer Spermatozoe, aber dieser Prozess, einmal ins Laufen gekommen, kannst du nicht machen; er läuft – wie das Wachsen des Samenkorns in der Erde, über die der Bauer wachsam gebeugt wartet – ohne dein Dazutun ab. Du verdankst das entstehende Kind Prozessen und Mechanismen, die du nicht in der Hand hast. Du kannst diesem Prozess helfen, indem du dich gesund ernährst, deine Gesundheit nicht gefährdest, etc., aber diese von dir angestossene Entwicklung in dir hat nichts mehr mit dir zu tun – und doch alles; und doch sagen diese Prozesse alles über dich aus.

Wenn du deinen Blick, dein Denken und Verstehen auf die globale Ebene richtest: welche Aber-Milliarden kleiner und kleinster Prozesse laufen da ab, dass dein eigenes Leben weiterhin gewährleistet ist! Vom Korn, aus dem dein Brot ist, von der Traube, aus der dein Wein ist, über die Faser, aus der dein Kleid ist, bis hin zu den Ziegeln, die dein Dach bedecken – ja, bis zur Luft, die du gerade atmest: Wie viele Werdungs-Prozesse hat es dafür gebraucht, in die du nicht einbezogen warst, die du nicht einmal angestossen hast – die gänzlich unverdient und nicht machbar, nicht replizierbar sind! Das ist ein Werk von viel wichtigeren Lebewesen und Organismen als du, seien das Mikro-Organismen, Bakterien, Algen, Pilze – oder einfach die Blätter am Baum vor deinem Haus und die Läuse in deinem Rosenstrauch.

Du bist in deiner ganzen Existenz auf diese angewiesen. Du alleine bist nichts ohne dieses grosse, ganze und weitverzweigte Netz(werk), das dich erhält – und vielleicht, angesichts der kollabierenden Ökosysteme weltweit, bald nicht mehr erhält. 

Ein Blick zurück auf Kindheits-Spiele

Und dann denke ich an die kleinen, improvisierten Theaterstücke, die ich zwischen 8 und 15 Jahren mit meinen Freunden inszeniert habe. Darin ging es meistens um einen Helden, der in seiner Stärke plötzlich grässlich gefährdet wird und fällt. (Ja, der „Seewolf“ von Jack London lässt buchstäblich grüssen!)

Und in diesem Fall, in dieser Gefährdung (Todesnähe, etc.) kommt dem Helden (manchmal auch der Heldin – was in den Augen des Buben, der ich war, eine noch höhere Wirkung garantierte) eine stützende, helfende, aufrichtende Hand zu Hilfe (meist einer meiner Freunde in einer spontan erfundenen Rolle, manchmal gar ich selbst, indem ich aus meiner Rolle heraustrete).

Dieser Moment, da der Held hilflos und ausgeliefert war, „sein Ende nahe glaubte“, fast schon tot, in seiner Schwäche „darniederlag“ (ja, ich trug viel viktorianisches Pathos in diese Spiele hinein, während meine Freunde ihre Comic-Welten aktivierten), kurz bevor der Held / die Heldin gerettet wird – das war ein unglaublich erregender und beglückender, buchstäblich stärkender und revitalisierender Moment in der Schwäche.

„Aufhören zu siegen“

Ich bin nicht gerade ein Liebhaber der Radiopredigt, wache aber sonntags meist mit ihr auf. Heute hat sie mich speziell angesprochen und beeindruckt.

Sie erzählt von der Hoffnung, sich der Liebe und der Endlichkeit übergeben und damit leben zu können.

Hier der Link zur Radiopredigt von Theologin Adrienne Hochuli Stillhard.