Lest Nietzsche!

Für jede und jeden, die persönlich oder beruflich „mit Religion zu tun hat“, muss es ein Anliegen sein, sich stets mit den Gegenargumenten (und manchmal nur Vorurteilen) der Empiristen und „Realisten“ zu befassen; nicht nur sie anzuhören, sondern ihnen wirklich Gehör zu schenken. Denn oft sehen sie „von aussen“ sehr viel genauer, was „innen“ falsch läuft.

Solche „Gegenstimmen“ können zu „Fürstimmen“ werden. Sie können innere Behäbigkeiten und Fehlentwicklungen schmerzlich bewusst machen. Obwohl sie meist verhallen (in ohrenbetäubender Stille wie 2018 Martin Werlens „Zu spät“), sind sie umgekehrt proportional zu ihrer Wirkung in der Institution Kirche oder „Glaubensgemeinschaft“ wichtig.

Bei einer „relecture“, einer „Erneut-Lesung“, die auch eine „Neu-Lesung“ von Nietzsches „Antichrist“ war, wurde mir klar, dass diese anklagende Tirade auch heute noch ihre Berechtigung hat und erneut gehört werden müsste.

Gewiss ist es dabei so, dass vieles, was Nietzsche in seinem „Antichrist“ gegen den christlichen Glauben und die christlichen (institutionellen) Strukturen sagt, heute in weit geringerem Masse zutrifft. So ist der Katholizismus oder der reformierte Glaube längst nicht mehr ein derart stark die Mehrheitsgesellschaft strukturierender und daher bestimmendes Faktor; niemand beichtet heute mehr, weniger Menschen begeben sich unfreiwillig in die Abhängigkeit von Priestern und Kirchenleuten, die ihnen dann vorschreiben können, wie sie „richtig“ zu leben hätten.

(In Zukunft wird dieses Misstrauen gegen die Institution bzw. diese Distanz zum institutionalisierten Glauben angesichts von Generationen, die fast ohne konfessionelle Bildung aufwachsen, sowieso zu einem Dauerzustand und Fakt: die künftigen Generationen werden vermutlich kaum mehr verstehen können, wie diese Religionen jemals so eine Macht und Ausstrahlung besessen haben. Denn wer niemals „in der Religion“ war, so meine Erfahrung, wird es niemals mehr sein.)

Dennoch möchte ich hier einige Punkte in Erinnerung rufen, die mich bereits in einigen Blogeinträgen beschäftigt haben, und die mir Nietzsche grell und deutlich in den Blick gerückt hat. (Scheinen diese Feststellungen auch „bereits gewohnt“ und „allgemein bekannt“, heisst dies noch lange nicht, dass sie ihre Relevanz und vor allem Fragekraft verloren haben!)

Sicherlich gibt es gegen jeden dieser Punkte berechtigte und institutionell verankerte Einwände zu erheben. Doch allein schon die Tatsache, sie wieder einmal niederzuschreiben und in Erinnerung zu rufen, ist ein Akt der Befreiung. Egal, wie anders die kirchlichen Strukturen und Systeme heutzutage sind, wie freier der Katholizismus seit dem II. Vatikanum geworden ist. Das Malheur, würde Nietzsche sagen, liegt schon so lange zurück und besteht schon lange fort; wie es heute noch austreiben?

  1. Jesus wollte eine neue Praxis des Glaubens, des Lebens. Wenn etwas an ihm göttlich war, dann die Art und Weise, wie er exemplarisch „durch sein Leben“ aufgezeigt und vorgelebt hat, wie der Mensch „in Vollkommenheit und Fülle“ sich verhalten, leben sollte. Das heisst: „Das Evangelium starb am Kreuz. Was von diesem Augenblick an „Evangelium“ heisst, war bereits der Gegensatz dessen, was er gelebt: eine“ schlimme Botschaft“, ein Dysangelium.“ (Antichrist, 39) – Noch deutlicher kann man es nicht sagen: „Dieser „frohe Botschafter“ starb, wie er lebte, wie er lehrtenicht, um „die Menschen zu erlösen“, sondern um zu zeigen, wie man zu leben hat.“ (Antichrist, 35)
  2. Das Gottes- und/oder Himmelsreich muss aus der Hoffnungs-Struktur, die Kirche und Tradition aufgerichtet haben, befreit werden. „Das Himmelreich ist ein Zustand des Herzens„, schreibt Nietzsche (meine Hervorhebung). Es darf niemals darum gehen, diese Versprechen ins Jenseits, ins Unerreichbare zu verdrängen: das Himmelreich muss hier unten möglich sein und werden. Momentan, blitzartig und immer wiederholt und wiederholbar.
  3. Das Priestertum gehört abgeschafft. Nietzsche macht immer wieder deutlich, dass die Priester aus Machtinstinkt und Selbsterhaltungstrieb den Glauben gekidnappt haben und ihn für ihre Zwecke seinen Ursprüngen längst entfremdet haben. (Das müsste uns ja eigentlich klar sein, wenn wir nur in den Evangelien lesen: Jesus war kein gelehrter Rabbi, sondern ein freidenkender Theologe, der vor allem bei den orthodoxen und konservativen, schrifttreuen Zeitgenossen auf Ablehnung stiess.) Alles, was nach Klerikalismus schmeckt, was der Hierarchie dient, gehört ausgeräuchert. – Und natürlich erkennt Nietzsche ebenso, dass der Selbsterhaltungstrieb dieser klerikalen Strukturen sich gegen alle Veränderung wehren wird; was wir ja jüngst in dem Papier der Kleruskongregation gesehen haben. Der Priester, würde Nietzsche sagen, will „überall unentbehrlich“ sein (Antichrist, 26).
  4. Begriffe wie „unbefleckte Empfängnis“ und „Sünde“ sind aus der Gedankenwelt der Kirchen zu verbannen. In einem Zeitalter, das weiss (Antichrist, 38), sind diese Begriffe nicht nur nicht Machtinstrumente, sondern nur noch lächerlich. „Die Sünde, nochmals gesagt, diese Selbstschändungs-Form des Menschen par excellence, ist erfunden, um Wissenschaft, um Kultur, um jede Erhöhung und Vornehmheit des Menschen unmöglich zu machen; der Priester herrscht durch die Erfindung der Sünde.“ (Antichrist, 50)
  5. Die Korruption des Christentums beginnt mit der ersten Gemeinde und dem Begriff vom „Tod am Kreuz“. So wird aus dem Christentum eine Religion, für die das Leiden im Zentrum steht; eine Religion, die alles Körperliche ablehnt.

Sicherlich gibt es gegen jeden dieser Punkte berechtigte und institutionell verankerte Einwände zu erheben. Doch allein schon die Tatsache, sie wieder einmal niederzuschreiben und in Erinnerung zu rufen, ist ein Akt der Befreiung.

Egal, wie anders die kirchlichen Strukturen und Systeme heutzutage sind, wie freier der Katholizismus seit dem II. Vatikanum geworden ist.

Das Malheur, würde Nietzsche sagen, liegt schon so lange zurück und besteht schon lange fort; wie es heute noch austreiben?