Ich liebe Antihelden, Antiheldinnen. Sie dienen viel besser als Vorbilder und Anstösser. Sie werden gebrochen, sind gebrochen und unfertig (niemals fertig), hadern und zweifeln und sind überfordert.
Die Bibel als Buch von Geschichten über unzählige Figuren und letztlich ja auch menschliche Persönlichkeiten und Schicksale wird mich daher nie kalt lassen und immer von Neuem versorgen mit Antihelden, Antiheldinnen.
Dies macht mir die Bibel lieb. Denn nicht nur erweisen sich strahlende jugendliche Wunderkinder wie David in den Geschichten der Bibel als fehlerhaft und schuldvoll, als in Leidenschaften gebadet und an Ungerechtigkeiten festhaltend, – genau wie du und ich niemals perfekt sein werden, denn Gott wollte uns so in Freiheit und Eigenverantwortung leben lassen -: immer wieder nimmt sie diese Figuren und Schicksale ernst und erzählt sie bis ins letzte schmerzliche Detail aus.
Diese kraftvolle Wirklichkeitsnähe der Bibel überstrahlt in meinen Augen immer wieder ihre moralischen, wertenden und leichthin aufklingenden Urteilsangebote (oder Verurteilungsaufgebote). Denn die Bibel ist dort stark im Erzählen, wo es um das „Menschlich-Allzumenschliche“ geht.
Und hält auch immer wieder dem von Menschen imaginierten und insofern „gemachten“ Gott den Spiegel vor. Anders gesagt: den die Bibel lesenden Menschen wird in der Bibel selbst vorgeführt, was für ein Gottesbild unzureichend und vielleicht gar frevelhaft ist.
Weshalb Saul?
Eine meiner Lieblingsfiguren ist der König Saul. Obwohl er im Anfang für ein positives, zwar schillerndes, aber dennoch gesund-gerechtes Königtum steht – so weigert er sich, den drastisch-drakonischen, ja fast genozidhaften Bann seines Gottes, wie ihn sein unsympathisch-despotischer Antiprophet Samuel ausgesprochen hat, umzusetzen -, versinkt er mit zunehmender Dauer seines Königtums in Zweifel, Skrupel und Hader.
Viele Theorien und Erklärungstheorien haben sich um diesen legendären König gerankt. (Ich bin mir durchaus bewusst, dass man die 3 grossen israelitischen Könige als „aufsteigende Folge“ lesen kann: Saul als gescheitert, David als grossartig, aber doch makelbehaftet, Salomo fast gänzlich strahlend und ideal.) Von Depressionen oder Burnout könnte man mit heutigen Augen leichthin spekulieren. Von Musiktherapie schwärmen.
Was mich an dieser Figur nicht loslässt, sind folgende Punkte:
- Er hätte sich lieber gedrückt, als König zu werden und war (wie David später) vermutlich zu jung. (1 Sam 10, 22)
- Er war ein Charismatiker, der zur verzückten Trance und zu hohen Emotionen fähig war, fast schon ein „Prophet“. (1 Sam 10, 11)
- Er weigert sich, den genozidalen Bann an den Amalekitern ganz und gar zu vollziehen. (1 Sam 15)
- Er traut sich priesterliche Handlungen zu. (1 Sam 13, 7-15)
- Er versinkt, vermutlich überfordert und in Gewissenskonflikten verstrickt, in eine Art „geistige Umnachtung“. (1 Sam 16)
- Er versucht sich in Divination und Totenbeschwörung.
Keiner dieser Punkte ist allein negativ zu bewerten. Lese ich den 4. Punkt mit Nietzsche, dann ist seiner Handlung und seiner Eigenmächtigkeit geradezu Modernität und Lob auszusprechen: Alles gegen die Priesterkaste (auch in der katholischen Kirche), Befreiung von Propheten (selbsternannt oder „apostolisch“)!
Saul als Theaterstück
Während ich mich mit Gides „Corydon“ beschäftigte, begann mich dieser Schrifststeller stärker zu interessieren. Da entdeckte ich seine Theaterstücke, darunter den „Saül“.
Gide interessiert sich in seinem Stück vornehmlich um die Liebesbeziehung zwischen David und Jonathan. Saul ist der unentschlossene, zweifelnde Übervater, der von Dämonen geplagt wird.
In meinen Augen hat das Stück durchaus spannende und interessante Aspekte, z.B. die Szenen, in denen die Dämonen sich Sauls bemächtigen und ihn bestimmen. Doch scheint mir persönlich diese „dämonische Deutung“ zu oberflächlich und zu anspruchslos. Sie verschleiert die Tragik und Faszination dieser Figur.
Für moderne Leser ist dieses Theaterstück zu moderat, zu vorsichtig. Damals konnte es vielleicht ganz angenehm schockieren mit der Andeutung einer homosexuellen Liebe. Heute jedoch geht es letztlich zu wenig weit in der Aktualisierung und „Verheutigung“ der biblischen Geschichte.
Bibel als Geschichten-Urgrund oder -Ursuppe
Im Anhang der französischen Ausgabe von Gides „Saül“ finde ich dann genug Stoff für mich.
So schreibt Maurras in einer Besprechung des Stücks:
„so handelt es sich weniger darum, von der Bibel Geschichten auszuleihen als vielmehr dem inspirierten Text etwas hinzuzufügen, ihn etwas sagen lassen, was er vielleicht nicht sagen wollte: das (biblische) Wort sanft umzuleiten: er (Gide) trübt die Quelle Gottes“.
Worauf Gide antwortet:
„Ich halte die heiligen Schriften, genauso wie die griechische Mythologie (und mehr noch) für eine unerschöpfliche, unendliche Quelle, die dazu gedacht ist, ohne Unterbruch von jeder Interpretation, die eine neue Richtung der Geister uns vorschlägt, immer weiter bereichert zu werden. Ich halte mich daher nicht an ihre erste Antwort, um nicht mit dem Befragen aufzuhören.“
Und so hat sich der Kauf und die Lektüre dieses Buchs doch gelohnt:
- Als Aufforderung zur immer weiter gehenden Hinterfragung der teilweise plakativen, moralisierenden und teilweise priesterlich-traditionell gefärbten Antworten, mit der die Kirche und andere Institutionen uns in die Irre leiten wollen.
- Als Aufforderung und Ermächtigung, die heiligen Schriften weiterhin und noch verstärkt als menschliche Zeugnisse zu lesen – auf der Suche nach den Spuren Gottes in den erzählten Menschenschicksalen und -persönlichkeiten.
- Als Einladung, jeglicher einfachen oder gewohnten, überlieferten Lesart erst einmal zu widersprechen und sie zu hinterfragen auf ihre Auswirkungen auf unsere Leben und Lebenswürde.
Anders gesagt, lasst uns Stachel im Fleisch jeder manipulativen, entmündigenden und institutionell verantworteten Lesart der heiligen Schriften sein. Gerade am Beispiel des verworrenen, zweifelnden und orientierungslosen armen Königs Saul lässt sich dies aufzeigen und – nachvollziehen. Denn dieser Mensch berührt uns mehr als manches, was wir von Jesus erfahren oder lernen.
Ja, noch mehr: Glaube nie einer einmal gefundenen Antwort, verstehe nie einen biblischen Text endgültig, bleibe neugierig und unzufrieden, vor allem mit einfachen, fertigen und gängigen Antworten.