Das Friedensdilemma

Die Ukraine will geflüchteten Ukrainern keine Pässe mehr ausstellen, weil sie sich dem Wehrdienst entzogen haben. Mit dieser Massnahme will die Ukraine ihre Männer in das Land zurückzwingen, um sie für den Krieg rekrutieren zu können.

In Deutschland wird derzeit diskutiert, die ukrainischen männlichen Flüchtlinge zum Wehr- oder Zivildienst zu verpflichten. Namhafte Vorreiter und Institutionen der Friedensbewegung befürworten die Lieferung von Waffen an die Ukraine.

Dies nur einige aktuelle Entwicklungen. Vor diesem martialischen Hintergrund muss ich mich als ethisch denkende und handelnde Person einmal mehr fragen:

  1. Was ist denn da los?
  2. Wie stehe ich dazu?

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Frieden geht nur ohne Waffen und ohne Gewalt

Ich greife zuerst auf die Ausführungen von Dürrenmatt zurück, die er in seinen Stoffen IV-IX  im Kapitel „Die Brücke“ aufstellt. Darin erklärt er, dass „die Dialektik des Glaubens sich (…) zwischen dem vernünftigen und dem unvernünftigen Glauben (abspielt) und nicht zwischen Vernunft und Glauben, denn der Glaube ist der Vernunft immer beigemischt“. Im Anschluss daran begründet er das Absurde der Aufrüstungslogik (im Kalten Krieg ebenso wie im Ukraine- und Nahostkonflikt): Der „innere Widerspruch“ der Aufrüstungslogik liege „darin, dass die Frage unterdrückt wird, warum der Feind nicht schon längst angegriffen habe, während man noch aufrüste“. Es handle sich hiermit um einen Glauben, „der logisch nicht begründet werden kann“. Er kommt zu einem ersten Schluss: „Das Empörende an der Aufrüstungslogik ist ihre Unaufrichtigkeit.“

Auch die Abschreckung ist klar irrational, unvernünftig: sie setzt „einen vernünftigen, nicht verzweifelten Feind voraus und fällt in sich zusammen, wenn der Feind entweder aus Verzweiflung unvernünftig geworden ist oder glaubt, wir seien durch die Verzweiflung unvernünftig geworden. Auch die Theorie, der Feind lasse sich zu Tode rüsten, fusst auf einem Glauben, der die Möglichkeit übersieht, dass der Feind gerade dadurch gezwungen sein könnte anzugreifen, bevor er zu Tode gerüstet sein wird, lässt er sich doch erst zu Tode rüsten, wenn er an sich nicht zweifelt.“

Für mich als Kind der letzten Jahre des Kalten Krieges war selbst mit 10 Jahren schon die Dummheit von Aufrüstung klar: Wenn beide Parteien mit einem Angriff die ganze Welt zerstören konnten, dann hatte die Abschreckung jegliche Abschreckungswirkung verloren. Das war keine Abschreckung mehr, sondern Dummheit, Idiotie. Eine Drohung, die auch den Drohenden notwendigerweise (mit-) zerstört, ist keine Drohung mehr. Das ist, als würde ich allen mit meinem Selbstmord drohen, und zwar in dem Moment, da ich erkenne, dass niemand mich liebt oder ein Interesse hat an meinem Fortbestand, ich also vollkommen allein bin. Eine solche Drohung ist kein Druckmittel mehr, sondern das Konstrukt einer ideologischen Selbsttäuschung. Obwohl ich mich als Kind sehr wohl vor dem nuklearen Ende der Welt fürchtete, schien mir das ganze Denk- und Politikgebäude lachhaft und gerade für die Erwachsenen, die doch zu (vorbildlich?) ethisch-vernünftigem und -verantwortlichen Handeln nicht nur aufgerufen, sondern seit der Aufklärung ermächtigt, geradezu dafür geboren worden waren, ein Schandmal ohnegleichen, das sie als Menschen geradezu disqualifizierte.

Genauso unsinnig ist in meinen Augen heute wie damals das Liefern von Waffen an eine Konfliktpartei. (Dies kann sich logischerweise sogar rächen, wie am Beispiel der Mudschaheddin gesehen.) Denn die Lieferung von Waffen ist wie das Giessen von Öl in ein Feuer: es schürt und verlängert den Konflikt nur noch mehr.

Selbst wenn du dich der „Logik“ des Kampfes, des Kriegs oder schlicht der Gewalt überlässt, indem du behauptest, es sei eine Frage der Ausdauer, ein wenig wie im Boxring zwischen Ali und Frazier, – selbst dann muss ich dir sagen, diese Logik ist unvernünftig: nur ein Schlag allein kann schon grossen körperlichen und seelischen Schaden anrichten, wieviel mehr denn zehn, hundert, tausende Schläge. Und zwar bei beiden Kämpfenden.

Und wieder muss ich Dürrenmatt recht geben: Woher weisst du denn, dass dein Gegener nicht derart verzweifelt ist, dass er unvernünftigerweise plötzlich zum Messer oder zur Atombombe greift? (Du kannst nur von Glück sprechen, dass die Ukraine nach der Unabhängigkeit die Verantwortung über die auf ihrem Gebiet stationierten Atombomben an die Russische Föderation abgegeben hat.)

Gewalt trägt in meinen Augen – und ich muss präzisieren: menschliche Gewalt – immer einen „unvernünftigen Glauben“ in sich: Wer Gewalt ausübt, ist entweder schon verletzt oder bereit, verletzt zu werden. (Denke nur an die vielen Boxer, die sich im Kampf trotz ihrer Schutzbandagen die Hände gebrochen haben.)

Und dass Töten nicht zum Menschen gehört, haben Studien des amerikanischen Militärs festgestellt. Die meisten Soldaten schiessen selbst in Gefechtssituationen nicht. Weshalb im Vietnamkrieg die Soldaten bewusst mit Drogen vollgepumpt wurden, um ihre natürliche Menschlichkeit abzustumpfen. (Ich berufe mich hier auf das Buch „Im Grunde gut“ von Rutger Bregman.)

„Es sind nur Kartonscheiben,“ sagte man mir, als ich in der Rekrutenschule auf Menschenformen schiessen sollte. Aber meine Augen sahen dort Menschen, mein Geist konnte sich Menschenschicksale vorstellen. Ich schluckte den Magensaft hinunter und schoss irgendwo in der Mitte zwischen mir und den Kartonmenschen in den Boden.

Ich weiss, was Schmerzen sind. Ich kann mir selbst und absichtlich keine Schmerzen zufügen. Wenn ich mir selbst absichtlich keine Schmerzen zufügen kann, weil ich um die Schmerzen weiss, – wie soll ich dann absichtlich einem andern Geschöpf Schmerzen zufügen?

Wenn ich sehe, miterlebe, wie jemand Schmerzen hat, dann werde ich selbst von Schmerz überwältigt. So sehr, dass ich fast nicht helfen kann.

Vielleicht rufen die Schmerzen, das Leid(en) Gewalt hervor? Denn wenn ich mir beim Kochen mit meinem Küchenmesser in den Finger schneide, verfluche ich nicht mich, sondern das Messer dafür, dass es so scharf ist.

„Nothing but ready-made phrases“ oder Die Sprache stirbt zuerst

Als jemand, der in und durch Sprache lebt, habe ich ein feines Gespür für ihre Vergewaltigung. Eines der ersten Zeichen dafür ist der Gebrauch von unhinterfragten Floskeln, ob in der Politik oder im Kriegsfall. Diese Floskeln, Redewendungen und Phrasen verkürzen in den meisten Fällen das Denken, vereinfachen die Zusammenhänge.

Sie sind durchaus hilfreich, ich will das nicht abstreiten, haben manchmal auch einen gewissen, aber unbestimmten Wahrheitsgehalt. Doch wenn das, was sie sagen, nicht mehr hinterfragt werden kann oder darf, werden sie zu Knüppeln, die in die Speichen der Vernunft geworfen werden, zu Zaunpfählen, die die Freiheit verhindern.

In der Politik geschieht das sehr leicht. So hat die Floskel der „10-Millionen-Schweiz“ die Debatte um die Klimakrise hin zum Problem der Zuwanderung verschoben. Gleichfalls wird die Aussage, die AHV sei in finanzieller Schieflage, sehr schnell wie ein Fakt und nicht wie eine Befürchtung herumgereicht. Dabei hat sich in beiden Fällen selten ein Politiker um die wahren Zahlen und Fakten dahinter zu kümmern bemüht; unbegründete Aussage steht gegen unbegründete Aussage. (So wohnen weitaus mehr Menschen in den nur minim grösseren Niederlanden.)

Genauso, aber mit schlimmen Folgen, funktionieren Phrasen im Krieg. Dies ist mir schon am Anfang des Ukraine-Kriegs aufgefallen. In einer Ausstellung ukrainischer Comics über das Leben im Krieg las ich dann den Satz, der über diesem Abschnitt meines Artikels steht: „Nichts als vorgefertige Phrasen“.

Im Kontext des Comics bezieht er sich zwar auf den Dialog zwischen einem Ehepaar, das vom Krieg getrennt ist: Er kämpft in den Azov-Stahlwerken in Mariupol, sie ist in Kiew und versucht, auf das Schicksal der Menschen in dieser eingekesselten Stadt aufmerksam zu machen. Die Phrasen in diesem Kontext meinen weniger das Kriegsgeschehen als vielmehr das Verstummen einer intimen, ausführlichen Kommunikation zwischen zwei Menschen. Die beiden Liebenden dieser Geschichte schützen sich mit diesen Phrasen vor den eigentlichen Zuständen und schonen ihr Gegenüber. Das Aussprechen der Geschehnisse und Gefühle im Krieg wird unmöglich.

Die öffentlichen Phrasen, die in den Mündern von Politikern und Journalisten liegen, funktionieren jedoch ganz ähnlich. Auch sie dienen dazu, unaussprechliche Dingen zu formulieren, ohne davon in Mitleidenschaft gezogen, verletzt zu werden.

So scheinen die ukrainischen Medien voller „Heldenberichten“ zu sein. In der Ausstellung „Comics im Krieg“, die diese hier ausgebreiteten Gedanken nochmals neu angeregt hat, wird dabei aber klar, dass die meisten Menschen sich nicht als Helden oder Heldinnen sehen, sondern als frei und verantwortlich handelnde und denkende Menschen: „Jeder hätte so gehandelt wie ich.“

So wird ein Kommandant, der in Tschernobyl stationiert war und dort verhindert hat, dass die russischen Angreifer und Besatzer eine Katastrophe verursachen, gefragt: „Sie sind sich bewusst, dass Sie ein Held sind?“

Er antwortet, er sei kein Held, er habe einfach getan, was seine Aufgabe sei. Diejenigen, die an seiner Seite freiwillig mitgearbeitet hätten, das seien die „wahren Helden“.

So vereinnahmt der Krieg die Sprache. Natürlich gilt das in einem viel stärkeren Masse für ein autoritäres Regime wie Russland: dort hat die staatliche Propaganda jede sprachliche und geistige Freiheit abgetötet, erstickt.

Eine ähnliche, andere Ebene dieser Sprachmeuchelung sind die Begriffe für den Feind. Es hat mich befremdet, dass die Ukrainer die Russen in all diesen in der Ausstellung gezeigten Texten durchwegs als „Orks“ bezeichnen. Ich habe nicht verstanden, ob das auch einen ironischen Unterton hat. Klar wird jedoch in dieser Bezeichnung, dass sie entmenschlichend gemeint ist und auch so wirkt. Einen „Ork“ zu töten ist nicht dasselbe wie einen Menschen zu töten, der dir doch ähnlicher ist als du zugeben möchtest. – Auch auf der anderen Seite, in Russland, findet das Gleiche statt: in dem die Ukrainer durchwegs als Faschisten oder dekante, ja vielleicht durchwegs schwule Westler bezeichnet werden, ist eine Ähnlichkeit mit dem eigenen Erleben und Erfahren nicht leicht herstellbar, werden die Menschen hinter den Grenzen und hinter dieser Wut unkenntlich gemacht. Dabei denke ich sofort an die israelischen Politiker, die Palästinenser als Ungeziefer bezeichnen, das man ausrotten müsse.

Ich bin vor dem Hintergrund dieser Überlegungen immer stärker der Überzeugung, dass die Verkümmerung der Sprache im Krieg einerseits die Vermittlung zwischen den Menschen verhindert. Eine Gewalt banalisierende, phrasendreschende Sprache ist nicht mehr fähig, auf Einzelschicksale einzugehen, auf das Persönliche in all dem Öffentlichen Rücksicht zu nehmen. Denn im Persönlichen, da bin ich mir sicher, sind die sich im Krieg gegenüberstehenden Menschen gleich: in ihren Bedürfnissen und Wünschen, in ihrem Erleben, Hoffen und Planen.

Davon werden sie von der Sprache abgeschnitten; wenn sie die Sprache und ihre Kriegsregeln übernehmen, erst recht.

Andererseits verhindert diese verstümmelte, verstümmelnde Sprache die Erkenntnis, dass es sich ursprünglich um einen Kampf zwischen einzelnen Menschen und Gemeinschaften handelt, und nicht um einen Kampf zwischen Parteien, Organisationen und Staaten.

Kriege werden nicht von Staaten gelöst, sondern von Menschen

In Ihrem Buch „Frontiers of Peace“ untersucht Séverine Autesserre die unterschiedlichsten Konflikte auf der Welt. Dabei kommt sie immer wieder zu einem ähnlichen Schluss: Konflikte entstehen häufig sehr lokal, auf der Ebene kleiner Gemeinschaften, die in ihrer Integrität und Sicherheit gestört werden; zu Flammenherden, Bürgerkriegen und konventionellen Kriegen werden sie durch die Einmischung oder Beimischung von äusseren Konfliktparteien, seien das paramilitärische Gruppen oder politische Kräfte. Diese Kräfte verschieben und verschleiern durch ihr Eingreifen die Ursprünge und Ursachen des Konflikts; aus einem lokal beschränkten Konflikt wird ein Flächenbrand, der den anfänglichen Konfliktgrund auslöscht, ohne ihn jedoch zu beseitigen.

Unter jedem offen ausgetragenen Konflikt oder Krieg liegen also Hunderte kleiner gesellschaftlicher Störungen, die weiter schwelen und stören, während über und um sie herum das grosse Flammenmeer wütet. (Autesserre hat dies an mehreren Konflikten in Afrika und Asien aufzeigt.)

Es wäre sehr interessant, diesen Mikrokonflikten in der Ost-Ukraine auf den Grund zu gehen. Und in meinen Augen lässt sich im Falle des Nahostkonflikts besonders gut darstellen, wie die Land zerstückelnde Besiedlung durch die jüdischen Siedlergemeinschaften die örtlichen arabischen Gemeinschaften ökonomisch und in ihrer gesellschaftlichen Kohärenz und Koexistenz bedroht und schliesslich zerstört hat, wie ein Tumor, der das umliegende Gewebe allmählich zerfrisst und auflöst.

Die nun von aussen herzukommenden und einschreitenden Kräfte (Staaten wie Russland und Ukraine, Iran und Israel) befeuern in der Darstellung Autesserres nur den Konflikt noch mehr, weil sie mit den falschen Ansprechpartnern – eben jenen den ursprünglichen Konflikt verschleiernden Grossgruppen – diskutieren und zwischen ihnen zu vermitteln suchen: verfolgen diese ja ganz eigene den Ursprüngen vielleicht sogar entgegengesetzte Interessen. Dadurch lässt sich ein grosser Konflikt scheinbar auf der Makroebene lösen, doch die Mikroebene ist immer noch gestört, verletzt und infiziert. Was heisst, dass die Streitigkeiten bald wieder aufflammen werden; ein Symptom wurde bekämpft, seine Wirkung, aber nicht der eigentliche „Krankheitsgrund“. Letztlich wird der eigentliche Grund für den Konflikt durch die „schlichtenden“ Parteien ein weiteres Mal verschleiert, verscharrt und vernachlässigt. (Es handelt sich hier also quasi um eine Doppel-Verschleierung des Ursprungskonflikts.)

Für wirkliche Friedensarbeit muss es nach Autesserre vielleicht ein wenig zu idealistischer Meinung darum gehen, zuerst die Mikroebene aller Konflikte anzusprechen: herauszufinden versuchen, wo der erste Schlag fiel, die erste Verletzung und Beleidigung, die erste Störung der Sicherheit. Das ist sicher eine Herkules-Arbeit: wenn ich nur an all die Mikros-Spannungen und -Konflikte denke, die sich auf dem Areal meiner Schule abspielen, lässt es mich schwindeln.

Eine friedensübende friedenstiftende Person würde also versuchen, in all die tiefen Strukturen der Minikriege auf einem Pausenhof einzusehen, während sie gleichzeitig eine gewaltfreie Grundhaltung und Kommunikation vorlebt.

Warum schlägst du mich?

Wenn ich Falsches geredet habe, dann bezeuge, dass es falsch ist! Wenn es aber richtig ist, warum schlägst du mich? (Mt 18,23 – BigS)

Eine Zweitklässlerin und ein Zweitklässler laufen über die Spielwiese meines Schulhauses. Ich komme ihnen entgegen. Sie reden nicht, sie sind vermutlich auf dem Weg in den Turnunterricht, tragen ihre Turnsachen über der Schulter. Plötzlich holt das Mädchen aus und schlägt den Junge leicht mit der offenen Hand auf den Hinterkopf. Dieser schreit auf und reibt sich die geschlagene Stelle. Er sagt leise, aber deutlich, sie solle aufhören. Das Mädchen sieht meinen Blick und erwidert ihn ohne ein Wimperzucken. In dem Augenblick, als ich an ihnen vorbeigehe, holt sie erneu aus, diesmal mit mehr Kraft, und schlägt wieder mit der flachen Hand auf den Hinterkopf des Jungen. Hatte der erste Schlag noch wie eine irgendwie „liebevoll“ gemeinte „Watsche“ aussehen können, wie Eltern sie manchmal ihren Kindern verabreichen, wenn diese übermütig oder frech geworden sind, so war dieser zweite Schlag in der vollen Absicht getan, Schmerzen zu verursachen und zu verletzen. Ich erschrecke und drehe mich den Kindern zu. Das Mädchen erwidert weiterhin meinen Blick, der Junge heult auf. Ich frage das Mädchen mit einer ein wenig lauteren Stimme als sonst: „Warum schlägst du ihn?“ Das Mädchen antwortet achselzuckend und als hätte es meine Frage gewusst: „Einfach so.“ Ich versuche mit den beiden Kindern ein klärendes Gespräch, aber beiden ist das Schlagen so gewöhnlich, so normal und gebräuchlich, sie verstehen ganz offensichtlich nicht, was daran falsch ist.

Wie die Kinder sich in einer Gesellschaft verhalten, so verhält sich die Gesellschaft als Ganzes. Die Gewalt durchdringt die Leben (besonders in der Moderne) auf allen Ebenen: Vom (allgegenwärtigen virtuellen) Bild über die Sprache bis zur Bagatellisierung von gewaltsamen Aktionen von häuslicher Gewalt oder Gewalt gegen Andersgläubige im öffentlichen Raum. Die Gewalt ist durchaus als Symptom zu verstehen: Auswirkung einer das Ego kolonialisierenden Konsumwelt ebenso wie des bi sin die inviduellen menschlichen Beziehungen hineinwirkenden Kapitalismus (Eltern schliessen mit ihren Kindern „Deals“), der gleichzeitig von jeder einzelnen Person zuerst Leistung und dann Gefolgschaft, Gehorsam will, ohne aber auf verantwortungsvolles Handeln und ethische Selbstverpflichtung übermässig zu drängen.

Ich stehe gänzlich hilflos vor solchen Vorfällen wie dem oben geschilderten. Ich weiss nur zu gut, dass Sprache vor den oben genannten Wirkkräften ohnmächtig ist. Ich weiss mehr noch, dass Sprache in den heutigen Tagen keinerlei wirkliche Aufmerksamkeit mehr erfährt in Schule und Gesellschaft: Sprachförderung scheint mir in der Schule auf eine „Ausführungs“-Kompetenz reduziert zu werden: Lesen können, schreiben können sind blosse Vollzüge von Vorgaben, geschehen nicht aus der (innerlich motivierten) Freiheit der Person heraus. Sehr selten wird darauf gepocht, dass Schülerinnen und Schüler lernen, sich sprachlich differenziert auszudrücken. Auch ich muss mich immer wieder daran erinnern, ganze Sätze als (auch mündliche) Antworten einzufordern – statt blosse einsilbige Stichworte.

Und als sprachsensible Person weiss ich – auch aus privaten Konfliktsituationen: wo Sprache der Ausdruck fehlt, da wird Sprache zur Gewalt.

(Man verstehe mich nicht falsch, die oben geschilderten Phänomene, Vorkommnisse und Entwicklungen hat es schon immer gegeben, auch zu meiner Schulzeit. Ich würde allerdings von einer Verschärfung sprechen.)

Was tue ich nun im Kriegsfall?

Im Vorgehenden habe ich versucht, zu umreissen, „was denn da los ist“. Ich möchte zum Abschluss noch mein Verhalten im Kriegsfall thematisieren.

Sollte die Schweiz in einen Krieg verwickelt werden, sehe ich für mich zwei Möglichkeiten.

Im einen Fall – die Schweiz als Aggressor – werde ich in andere Länder flüchten. Die Schweiz – so dankbar ich diesem Land für Sicherheit, Wohlstand und andere Phänomene des Globalen Nordens bin – ist mir als Heimat zu wenig kostbar, um sie zu verteidigen. Sie darf als Aggressor sehr gerne untergehen.

Im andern Fall – die Schweiz als Opfer eines Angriffskriegs – könnte ich mir vorstellen, mein Leben für den Frieden aufs Spiel zu setzen. Doch würde ich das nicht als Soldat oder Untergrundkämpfer tun, sondern gewaltfrei. Ein wenig wie der berühmte Student am Tiananmen-Platz, der sich alleine vor eine Panzerkolonne gestellt hat, um sie aufzuhalten. Allerdings würde ich solche Aktionen nur durchführen, nachdem ich meine Nächsten in Sicherheit (geflohen) weiss.

Was mich wieder zum ersten Fall zurückführt: ich werde flüchten und an keinerlei Gewalt und Kampfhandlungen teilnehmen.

Frieden lässt sich nur ohne Gewalt schaffen und schöpfen.


(Ein grosses Dankeschön allen Mitdenker*innen, die im Gespräch mit mir stehen und Gedankenschärfe einstellen helfen. Ein besonders grosses Dankeschön auch J. M. für das aktuelle, vor allem aber lokale Foto.)

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