Sonntagsstelle: Eingebären

Seit etwa einem Jahr kommt die Mystik mir näher, nähere ich mich der Mystik an. Ich lerne sie als eine Form der Annäherung kennen, die mir die HEILIGE in anderen Weisen näherbringt. Ich lerne die Mystik – und vor allem das mystische Sprechen – als eine neue Form des Ausdrucks kennen, die mich in die Einfluss-Zone der WEISHEIT einführt.

(Dass ich diese Entwicklung, dieses Anpirschen nicht alleine mache, hilft mir sehr, einerseits geerdet und andererseits angespornt oder herausgefordert zu sein und bleiben. Viele der Gedanken, die ich hier zu erfassen versuche, stammen aus den Diskussionenen mit meinen Freundinnen Y.F. und C.T. Ihnen verdanke ich steten Anstoss und Anregung, die mich in Bewegung halten.)

In der heutigen Sonntagsstelle will ich nachdenken über ein komplexes Verhältnis-Gebäude, das Meister Eckhart aufgebaut hat.

Ganz so sollte der Mensch dastehen, der für die allerhöchste Wahrheit empfänglich werden und darin leben möchte ohne Vor und ohne Nach und ohne Behinderung durch alle Werke und alle jene Bilder, deren er sich je bewusst wurde, ledig und frei göttliche Gabe in diesem Nun empfangend und sie ungehindert in diesem gleichen Lichte mit dankerfülltem Lobe in unseren Herrn Jesus Christus wieder eingebärend.

Meister Eckhart, Predigt 1, Intravit Jesus in templum et coepit eicere vendentes et ementes; Hervorhebung von mir

Ich möchte hier versuchen, diese komplexe Bewegung des Menschen hin zu G_TT in meinen eigenen Worten, in meiner eigenen Sprache zu verstehen.

Werke und Bilder

Meister Eckhart befindet sich mit dem Gedanken, sich von der irdischen, der körperlichen Welt und Ebene/Zustand zu lösen, in guter neuplatonischer Gesellschaft.

Als Mensch der Moderne denke und lese ich viel stärker innerweltlich. Das heisst, G_TTes Botschaft und G_TTes Anwesenheit ist bereits in der Immanenz, in der diesseitigen Welt. Auch ihre Offenbarung meint in meinen Augen, bezieht sich in meiner Sichtweise explizit und handlungsantreibend auf die körperliche Welt, das Diesseits. HASCHEM ist keine entrückte, transzendente Gestalt, sie ist allgegenwärtig und allkenntlich. Eine figurative, eine spiritualisierende Lesart von G_TTes Wort führt leicht in eine Denken und Handeln, das mit dieser Welt, für die wir von Ihr geschaffen wurden, rein gar nichts mehr zu tun hat. Und somit uns befreit von Engagement und Zivilcourage.

Dennoch verstehe ich, was Eckhart in dieser Predigt darlegt, sehr gut. Er verbindet die Werke, die wir im Diesseits tun, mit unserer „Ich-Bindung“. (Eckart nennt dies „eigenschaft“.) Diese Werke, mit denen du vielleicht sogar für die HEILIGE zu wirken glaubst, bin dich zurück an das Geschaffene, an das Diesseitige. Das Gleiche passiert mit den Bildern, die du „empfangen“ hast durch dein Leben im Diesseits: Sie sind sehr leicht zu verabsolutieren, zu verallgemeinern.

(So das Bild von einem männlichen, einem patriarchalen Gott; das ich in diesem Text zum ersten Mal radikal verneine, indem ich vielfältige, biblisch oder koranisch gegründete Gottesnamen gebrauche, die ich in Majuskeln schreibe, genauso wie ich das Leser-Du als sowohl männlich als auch weiblich lese und anspreche.)

Beide Wirklichkeitsformen helfen dir wohl, in der Wirklichkeit zurechtzukommen, darin ein „erfolgreiches“ Leben zu führen. Doch bist du als Mensch nur dazu geschaffen?

Ledig und frei

Die Predigt Eckharts ist eine Fasten-Predigt. In der Fastenzeit versuchen die Gläubigen, ihr Leben von all dem Nötigen, das nur scheinbar nötig ist, von all dem Dringlichen, das nur scheinbar dringlich ist, von alle dem Diesseitigen, das nur zu diesseitig ist, zu befreien, um der WAHRHEIT näher zu kommen.

Dieser Prozess der Loslösung ist ein Schritt in Richtung der Transzendenz. „Ledig“ meint hier „ungebunden“ (vom Diesseitigen); „frei“ ist der Zustand, der in dieser „Ungebundenheit“ angestrebt und/oder erreicht wird.

In diesem Zustand der „Leere“, der „Entleerung„, die nicht nur die Mystikerin, sondern auch die Betende kennt, kannst du dich sowohl als Geschaffener als auch als Mehr-als Geschaffene verstehen.

Im Auge des Mystikers kannst du erfahren und begreifen, dass du in Tat und Wahrheit „gottfähig“ bist: Mehr als den Engeln ist es dir geschenkt – durch die Gnade und die Liebe der G_TTIN -, zu Gott durchzudringen, hinaufzulangen und hinaufzufahren. Mit diesem „Durchdringen“, was nicht „verstehen“ meint, verwirklichst du den anderen Teil deiner geschaffenen Existenz: den spirituellen, den seelischen Part deiner Menschheit.

(Denn als die erste Aufgabe unserer Berufung als und zum Menschen verstehe ich jene, die uns die Propheten aufgezeigt und vorgelebt haben: im Diesseits als Mensch ganz und gar für das Gute einzustehen.)

Eingebären

Die Aufgabe der Ich-Bindung und der (buddhistisch gesprochen) Anhaftung an die Werke und an die irdischen Bilder und Realität führt nun zu einem anderen Zustand: du kehrst in den Mutterbauch der HEILIGEN zurück.

(Diese Bildlichkeit ist spezifisch christlich. Sie nimmt explizit Bezug auf die junge Frau Maria / Miriam / Meriem, die Jesus empfängt und gebiert – egal, ob du jetzt Jesus als SOFIA oder als Propheten verstehst…)

Die Mystikerin erkennt sich in dieser Bewegung der Rückkehr, der Nichts-Werdung nicht nur als göttlich (oder gottebenbildlich), sondern als „eins mit Gott“.

Der Mystiker befreit sich in der Eingeburt von der Last des irdischen Menschseins. Es ist ein Zustand des „Nu(n)“: von intensiver, aber aussergewöhnlich kurzer Dauer.

Die Rückkehr, die vielleicht sogar „Einkehr“ heissen muss, ist eine Möglichkeit, die die GERECHTE für den Menschen will. Es ist an dem Menschen, diese – „ledig und frei“ – zu wollen. Es ist eine der Berufungen, für die du geschaffen bist.

Religionen sind nur Hilfestellungen

In meiner Beschäftigung mit theologischem und mystischen Gedenkengut habe ich immer wieder erfahren, wie überflüssig religiöse Institutionen, wie unerheblich religiöse Vorgaben oder Gesetze sind, wenn du dich eingehender, mystisch mit der Transzendenz, mit der ERBARMERIN beschäftigst.

Dabei ist die menschliche Bewegung in Bezug auf das Übernatürlich zweifach:

  • Verankerung im Diesseits: Deine Aufgabe, deine Berufung ist es, in der immanenten, in der ausweichlich körperlichen Welt Gutes zu tun – im Sinne des GÜTIGEN.
  • Loslösung und Einkehr im Jenseits: Das Jenseits ist ein Zustand, in dem du als Mensch mit G_TT eines Sinnes und eines Willens sein kannst, was deine geschaffene, an das Etwas gebundene Existenz jedoch auf die Dauer gefährdet, ja zerstört, auflöst, weil du als Geschaffener nichts im Nichts, im Ungeschaffenen verloren hast.

Diese beiden Bewegungen finde ich in allen Religionen. Sie sind allgemein-menschlich, universell.

Wenn du Gesetze brauchst, wenn du konkrete Erscheinungsformen des Transzendenten brauchst (wie den Namen „VATER“), dann orientiere dich an den institutionalisierten Religionen.

Doch wisse, dass die „Orte Seiner Herrschaft“ (Ps 103, 27) mannigfach und mannigfaltig sind – und immer über diese irdische, werk- und bildgebundene Gefängniswelt, in der du leben musst, erhaben.

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