Mit einem Kind spielen

Gestern habe ich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder einmal mit einem Kind gespielt. Mit dem dreijährigen Sohn meines besten Freundes. Mit zwei identischen Feuerwehrautos aus HOlz, zwei Pastikfischchen, in denen Reste von Sojasosse waren, mit meinem Gedichtheft, seiner Trinkflasche, mit meinem Hut und zuletzt auch mit meinem gelben, geliebten Kugelschreiber. Dazu haben wir noch eine Restaurant-Quittung und ein angeklettes, aber ablösbares Schildchen bentutzt, auf dem die Gäste des Lokals auf die Selbstbedienung aufmerksam gemacht wurden; die beiden Dinge waren unsere Parkplätze.
Wir hatten uns in einem dieser Konsumtempel in der Züricher Europaallee, diesem Sinnbild für Gentrifizierung, niedergelassen. Es war kein Laden, obwohl überall reich bestückte Regale mit veganen biologischen Produkten standen; und es war kein Restaurant, denn es gab mehrere „Essensstände“, an denen du dir was dein Herz begehrt und deine Börse erlaubt bestellen und an einem der um eine Art Atriumtreppe gruppierten Tische verspeisen konntest. Wir hatten uns in der Nähe eines Spielbereichs für Kinder hingesetzt, in dem auch Frauen und Männer mit ihren Säuglingen und Kleinkindern sassen udn miteinander redeten; das Hand in Griffnähe für allfällige Schnappschüsse ihres Liebsten.
Ich fühlte mich zuerst unwohl, bedroht, obwohl wir ja zu viert unterwegs waren, wie ich mich immer fühle, wenn ich in der Umgebung von reichen und schönen Menschen bin. Ich fürchte sie sehr, denn ich weiss um ihre Selbstgewissheit, um ihr untrügliches Sicherheitsgefühl. Manche von ihnen haben tatsächlich vergessen, dass sie nichts besitzen, dass sie meilenweit über dem Abgrund des wirklichen Lebens seiltanzen. Ich halte mich lieber unten auf, schwinge mcih zur erschreckenden Erheiterung aber hin und wieder zu ihnen hinauf und tue, als sei ich einer von ihnen.
Mein Freund hatte sich kurz entfernt, um sich einen Kaffee zu holen. Ich hatte mir mein Gedichtheft gekrallt, um an einem im Zug begonnen Gedicht weiterzuschreiben. Ich schaffte drei Verse, dann wurde ich vom Sohn meines Freundes ins Spiel hineingeholt.
Ich könnte nicht sagen, wie lange das Spiel gedauert hat, zwei Stunden oder 15 Minuten. Ich erlebe so einen Zustand manchmal beim Schreiben, ein totales Konzentrieren auf einen kleinen Aus- oder Querschnitt der Welt. Herkömmlicherweise nennst du das vermutlich, „ich war auf einem anderen Planeten“, „ich bin voll abgedriftet“ oder „ich war vollkommen absorbiert“. Nur am Rand registrierten meine Ohren andere Geräusche von Kindern und Eltern, das zugewandte Gespräch meines Freundes mit meinem Sohn über dessen Ruderleidenschaft, ein Vater, der mit seinem anderthalbjährigen Kind zwischen den Regalen Verstecken spielte. Doch mein ganzes Wesen, meine ganze Aufmerksamkeit war auf diese beiden leicht klebrigen Tischplatten gerichtet, auf denen sich unser Spiel entwickelte.
Solche Spielverläufe sind schwierig nachzuerzählen, doch will ich es hier kurz versuchen: Am Anfang waren wir beide damit beschäftigt, mit den Feuerwehrautos die immer wieder auf der Trinkflasche ausbrechenden Brände zu löschen. Mit der Zeit kamen die beiden Sojafischchen hinzu; sie waren anfangs simple Feuerwehrmänner oder -Chauffeure, wurden dann aber in abwechselnden Rollen zu Ärzten, Doktoren; einer von ihnen verletzte sich (meistens der von mir geführte) und musste vom anderen geheilt werden. Später kam ein Krebs als Verletzungsursache hinzu (Daumen und Zeigefinger des Kleinen), ein aus meinem Heft herausgefallenes Blatt, das ich zu einem kleinen Papierflieger gefaltet hatte, wurde zu einer Taube. Es war ein angeregtes Verletzen, Jagen und Heilen. Bald wurde mein Hut zum Haus für eines der Feuerwehrautos, halb Feuerwehrposten und halt Spital oder Arztpraxis. Jetzt mussten die Verletzten klingeln und auf den Doktor warten. Der war einmal da und einmal nicht da, ganz wie ihm beliebte. Ganz am Ende kam noch der Kugelschreiber hinzu als Oberdoktor, der den Auftrag seines Jobs noch willkürlicher interpretierte. Inzwischen war auch mein Gedichtheft als Brücke oder Adler im Einsatz. Langsam begann das Spiel Endzeit-Dimensionen anzunehmen, selbst das Handeln der ansonsten stoischen Brücke, die von einem Tisch zum andern führte, wurde unvorhersehbar. Der Hut musste einiges erleiden, auch der Oberdoktor. Die Trinkflasche mutierte zum Löschinstrument. Jetzt war richtiges Wasser im Einsatz.
Das schliesslich war eine gute Zeit, um das Spiel zu beenden und aufzubrechen, und das Unwetter hatte sich auch gelegt. Die Feuerwehrautos wurden von meinem Spielgefährten ordentlich zurückgebracht, das kleine Publikum aus Kindern, die uns umstanden, löste sich auf, und wir verliessen den Konsumtempel.

Als Vater von zwei Kindern (21 und 14) weiss ich, wie wichtig es ist, sich ganz auf den Menschen, der das Kind ist, – es ist bereits ein ganzer Mensch, dem Achtung, WErtschätzung und Würde gebührt, – sich ganz auf diese Person einzulassen: ihr Zeitgefühl zu respektieren, ihre Bedürfnisse wahrzunehmen und achten ohne sie jedoch immer zu befriedigen, etc.
Ich weiss, dass du als Vater oder Mutter im Dienst dieses Menschen stehst. Deine Verantwortung für diesen Menschen heisst aber nicht, dass du diesen Menschen besitzt. Du hast kein Anrecht auf diesen Menschen. Diese Person hat Anrecht auf deine ganze Anteilnahme.
Eltern (gute Eltern?) wissen darum, wie du dich auf einen Menschen einlässt, ihn oder sie ganz und gar ernst nimmst, sodass sie oder er sich entwickeln und werden kann, was er oder sie ist.
Nur sehe ich das in den Erwachsenenwelt viel zu selten gespiegelt. Die wenigsten von uns – und nehme dich bitte nicht aus! – gehen ohne Vorbehalt, Forderungen, Erwartungen und Ansprüche aufeinander zu. Die wenigsten von uns sehen den anderen als ebenbürtig und würdig an, die wenigsten sind bereit, sich auf jemand ganz und gar einzulassen, diese Person anzunehmen, ganz wie sie ist, ohne jeglichen Besitzanspruch; sie anzuschauen mit Anerkennung, sie anzuhören mit Zuneigung, ihr zu antworten in Freundlichkeit.
(Bei Katherine May las ich diesen wundervollen Satz über den Wald als Ort der Verzauberung: „Bring questions into this space, and you will receive a reply, though not an answer.“ – Das hat mich sehr ergriffen: Ja, du sollst nicht antworten, sondern erwidern in deinen Beziehungen.)
Denn das heisst ein Kind erziehen, werdenlassen; es ist das Gleiche wie einem Menschen begegnen: un versuche nicht, aus diesem kleinen Wesen etwas zu machen: führe es nicht in die Leistungsgesellschaft ein, lass es seine Kompetenzen selbstbestimmt und selbswirksam entwickeln, dein Kind muss kein multitalentiertes Genie sein. (Nebenbemerkung: Als ich geboren wurde, soll mein Vater in Lausanne einen Ratgeber gekauft haben, der den Titel trug: „Comment faire de votre enfant un genie“…) Dein Kind muss nur ein Dasein haben können, da sein dürfen. Das genügt vollauf.
Und was für ein Wunder, wie aus deinem Kind, dem du seine Kompetenzen zugetraut hast, eine Person wird, die sich entfaltet: ohne dein Dazutun fast, von alleine, weil du es angenommen, gewürdigt hast als vollständigen Menschen und ihm oder ihr immer zugeneigt bleibst. (Und manchmal scheint es schief zu gehen, doch dafür kannst du in meinen Augen meist nur sehr wenig.)

Ich sage all das vor einem schrecklichen Hintergrund, den ich nicht verleugnen und mir immer gegenwärtig halten möchte: der Praxis der weiblichen Geschlechtsverstümmelung (Female Genital Mutilation, FGM) in weiten Teilen des globalen Südens. Millionen von Mädchen werden verstümmelt und traumatisiert von diesem Eingriff. Ich fühle mich hilf- und machtlos vor diesem Fakt. Ich verstehe die Väter nicht und auch nicht (noch weniger?) die Mütter dieser Kinder.
Vor diesem Faktum will es mir die Sprache verschlagen, will ich kapitulieren. Denn was für eine vollkommen unverdiente Gnade ist es denn, im globalen Norden aufgewachsen zu sein und zu leben?

Doch schmälert dies das zuvor gesagte keineswegs: es gilt für alle Menschen auf dieser Welt, für alle Kinder.
Kinderrechte sind Menschenrechte. Kinder sind Menschen.
Lasst sie spielen und Kind sein. Seid selbst Kind.
Was wäre das für eine herrliche Welt, in der wir alle Kinder wären.
Ich sehne sie herbei, als wäre sie Gottes Reich.


(Mit herzlichen Dank an 12257183 für das herzige Bild.)

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