Glauben als Körper – Glauben mit dem Körper

Geprägt von einer christlichen, europäischen Glaubenstradition, die den Körper als Ursprungsort, als Sitz des Bösen oder der Sünde versteht, einer Tradition und Denkweise, die im Körper das Gefängnis der Seele sieht, die daher „nach dem Geist“ leben und streben will, finde ich mich am Ende einer längeren Zeit der Beschäftigung mit dem Alten Testament und dessen jüdischen Glaubensformen und Glaubenskonzepten an einem neuen Ort in meinem Glauben.

Ich möchte den Körper nicht länger mehr ausschliessen aus meinem Glauben, aus meiner Gotteserfahrung, denn der Körper ist meine „Brücke“ zur Welt. (Und selbst hier verstehe ich mich immer noch als ein geistiges Wesen, wenn ich den Körper als „Brücke“ bezeichne; denn ist der Körper nicht gerade dadurch gekennzeichnet, dass er IN der Welt ist?)

Zu einer Welt zudem, die aufgrund unserer systemisch erhaltenen Sünde zunehmend zerfällt – und auch unsere Existenz, unseren Fortbestand selbst als Lebewesen bedroht.

Zu einer Welt, die von den alten animistischen Glauben der Ureinwohner nicht nur als Schöpfung geachtet und geschätzt wurde, sondern die im Wesentlichen als ein Ganzes, ein Zusammen-Existieren, fast als nur „im-Zusammen-und-Gemeinsam-Leben“ fortbestehendes Lebewesen anzuerkennen ist.

Kurz: Jener Mensch, der den Geist und seine Kraft betont, gefährdet nicht nur das Überleben und Fortbestehen zahlloser Lebewesen, die eine von ihm unabhängige, mehr noch: eine ihn ermöglichende Lebensberechtigung haben, sondern in letzter Konsequenz auch seine eigene, nicht anders als körperlich zu denkende und empfindende Existenz und Lebensberechtigung.

***

Dein Körper ist so eine wichtige Form deines Lebens. Und während im Silicon Valley und anderswo im Glauben an die Machbarkeit und Funktionalisierung aller Dinge und Wesen an Konzepten von Unsterblichkeit oder zumindest der Lebensverlängerung herumgeforscht und herumgedacht wird, soll dich dein Körper immer wieder an deine Verletzlichkeit und an deine Sterblichkeit erinnern.

Er ist das Instrument der Schwerkraft, des Staubs für deinen Geist. Seine Bedürfnisse, Wünsche, Schwächen und Fehler verankern dich immer wieder von Neuem in der Kreatürlichkeit: du bist ein Geschöpf, kein Schöpfer.

***

Dein Körper hilft dir die Welt erfahren, erkennen, ja: einsehen. Eine kleine Beeinträchtigung seiner Funktionen zeigt dir auf, wie wichtig sein Ganz-Sein, sein Heil-Sein, sein Gesamt-, vielleicht sogar Gesammelt-Sein ist.

Vor kurzem hatte ich ein verstopftes rechtes Ohr; nichts Schlimmes, einfach einen Pfropf im Ohr. Ich habe die Beeinträchtigung eine Woche lang ertragen, bis sie zu stark wurde; ich musste allem Laut oder Geräusch mein linkes Ohr zuwenden – mein linkes Ohr begann darauf zu schmerzen. So habe ich mir bei meiner Ärztin mein rechtes Ohr ausspülen lassen. Was für ein wundervolles Gefühl war es, endlich wieder klar zu hören, fast schmerzhaft war diese Deutlichkeit der Laute und des Lärms.

Seit mein Gehör-Sinn wieder im Gleichgewicht ist, habe ich begonnen, auf Klang-Spaziergänge zu gehen…

***

Doch was könnte es heissen, Gott mit deinem Körper zu erfahren und loben? Und mit „deinem Körper“ meine ich ja letztlich „mit deinen Sinnen“, denn ein Körper ist ein Sinnesempfänger…

In einem Film namens „Foudre“ erlebt eine junge Frau, die aus dem Kloster zurück in ihr abgelegenes Bergdorf kommt, ein Aufblühen ihres Körpers im sinnlichen und Liebesspiel. Sie beginnt, ähnlich wie die mittelalterlichen Mystikerinnen, das körperliche Spiel mit den Sinnen und dem Geschlechtsempfinden immer mehr mit ihrem Glauben an Gott zu verknüpfen. Was dem engstirnigen Bergpastor und seiner teufelsfürchtigen und -süchtigen „Herde“ als Dämonen- oder Teufelswerk einer Versucherin erscheint, bekämpft und „ausgetrieben“ werden soll, wird von der jungen Frau, die ein erstes Mal körperliche Liebe erlebt und in einer leibfeindlichen Welt aufgewachsen ist, welche paradoxerweise in ihren Arbeitsweisen und Arbeitsformen sehr körperorientiert ist (Beispiel: das Heuen an einem Steilhang am Berg), – dieses Abwehren und Verteufeln wird von der jungen Frau als Befreiung und Widerstand empfunden: In der bewusst auch körperlich gedachten Beziehung zu einem anderen Menschen erfährt sie Gott. Denn Gott zeigt sich im Körper der Kreatur, sie wohnt ihrer Schöpfung und ihren Geschöpfen ständig auch ein.

***

Körperliches, sinnliches Erleben hat (entgegen aller leibfeindlichen Tradition) nicht nur ein mystisches, widerständiges Element, sondern vielmehr auch eine transzendierende, ein über deine eigene unmittelbare körperliche Existenz hinausweisende Wirkmacht.

Das kann nur schon jene oder jener verstehen, der einmal nach einem heissen, drückenden Sommertag das erste kühlende Lüftchen der Dämmerung empfunden hat, den Ruf der Turteltauben in der noch grauen Morgendämmerung oder das ansteckende Lachen eines spielenden Kindes, das Leuchten des Spiegels eines fliehenden Rehs im lichten Wald.

***

Im Alten Testament, der jüdischen Tora, wird der Mensch als Körperwesen, als ganzheitliche Kreatur verstanden und gelesen. Einzelne Körperteile oder Organe stehen für Lebensfunktionen. So ist die Kehle (näfäsch) jenes Organ, mit der ein Mensch ihre Bedürfnisse und sein Begehren kund tut.

Schroer und Staubli haben diese Körpersymbolik oder -Metaphorik erstmals herausgearbeitet. So schreiben sie über die Kehle als Symbol: „Die näfäsch steht so also für das Leben schlechthin. Wo keine näfäsch ist, da ist auch kein Leben.“

Dieses kreatur- und körper-basierte Glauben, Sagen und Handeln kann in meinen Augen dazu führen, dass wir in Glaubenswörtern oder in der schriftlichen Offenbarung nicht mehr einen figurativen, übertragenen Sinn suchen, sondern den buchstäblichen, körperlich gedachten Sinn. Diese Sagen, Handeln und Glauben kann gleichfalls dazu führen, dass wir unseren Körper vermehrt als Glaubensinstrument und Glaubensort wahrnehmen und benutzen, sei das im Wald draussen, um den Duft des Waldbodens zu geniessen und schätzen (und Gott dafür zu loben), auf einem Kiesweg in den Bergen, auf dem wir barfuss schreiten, in einer Umarmung für den eigenen Sohn, der wir eine Wärme und Zurückhaltung gleichzeitig vermitteln, um zu sagen: „Ich bin für dich da, wenn du mich brauchst, ich bin dir zugewandt allezeit“, in einem Kuss, in dem wir die oder den gänzlich Andere(n), der uns in sihrem Körepr von Gottes Schöpfungskraft erzählt, erforschen und „erkennen“…

Und vielleicht sollten wir wieder Gottesdienste machen, in denen das Essen eines Festmahls zentral ist, in dem mehr als ein symbolisches Verspeisen eines geschmacklosen „Brotes“ und das symbolische Trinken eines Tröpfchens schlechten Rotweins geschieht: ein Fest der Sinne, in der es keine Worte und Zeichenhandlungen mehr braucht, sondern der Akt des Schmeckens, Riechens, Kauens, Schluckens, Verdauens selbst genug ist und geschieht „Gloria in excelsis Deo“, zur Ehre und Verherrlichung der Göttin, die unsere Schöpferin war, ist und sein wird.


Anmerkungen:

  • Schroer, Silvia / Staubli, Thomas: Die Körpersymbolik der Bibel, Darmstadt (2) 2005.
  • Der Film „Foudre“ wurde von der Westschweizer Regisseurin Carmen Jacquier geschrieben und gedreht.
  • Für das schöne Foto am Anfang dieses Beitrags bedanke ich mich bei Shoolnau.

Hinterlasse einen Kommentar